Das war nun tatsächlich ein Themenwechsel. Sicherlich unbewusst hatte Axilla auch so ungefähr das einzige Thema gewählt, mit dem sie den Geist des jungen Mannes wieder gänzlich auf sich zu ziehen vermochte. Sie begann die Ilias zu singen. Diese Verse vermochten Flaccus im tiefsten Inneren zu berühren wie keine anderen. Homers Sprache war die erste, die er tatsächlich gelernt hatte, vom ersten Augenblick seines jungen Lebens an hatte er sie gehört. Immer und immer wieder waren ihm die Verse vorgetragen worden, schon lange, bevor er ihren Sinn tatsächlich zu erfassen vermochte. Lange bevor er mit Vergilius und der lateinischen Sprache in Berührung gekommen war, lange bevor er selbst der Sprache mächtig sein sollte. Im Grunde war das die eigentliche Muttersprache des Jungen gewesen, denn allein im Umgang mit diesen Versen vermochte er die Liebe und Zuneigung zu finden, die er von seinen Eltern so sehr vermisst hatte. Stundenlang hatte er Nikodemos gelauscht, der dem Jungen in schier unermüdlicher Geduld die Verse des großen Blinden wieder und wieder vorgesungen hatte, aus seinem eigenen Gedächtnis sprudelten sie, aus der Quelle seiner eigenen Kindheit. So hatte die emotionale Seele des Flaviers lange vor dem Geist die Worte erfasst, hatte er in seinen Gefühlen längst begriffen, worauf er seinen Intellekt erst richtete. Gebannt und tief berührt, einen seltsam verklärten Ausdruck gleich einem Schleier über seinen dunklen Augen, lauschte Flaccus dem leisen Gesang, der etwas schüchtern zuerst, doch langsam immer präsenter den Raum auf unglaublich zarte und diffizile Weise erfüllte. Vom Tod und dem grausamen Schicksal des Priamossohnes sang sie, Hektor, und so tief ließ Flaccus sich ein auf ihren Gesang, so schmerzlich erfüllte ihn das Leid der Andromache, dass eine einzelne kleine Träne, gleich einer glitzernden Perle, dem dem dunklen Kranz seiner Wimpern entfloh und sich sachte ihren Weg über die Wange des jungen Mannes suchte. Wie tief berührte ihn der Tod des edlen Helden, das schier grenzenlose Leid seiner Gattin, die der grausamen Schändung seines leblosen Körpers nichts entgegenzusetzen vermochte.
Axilla endete und drehte sich mit einem schüchternen Lächeln halb zu Flaccus zurück. Jener blickte sie an, eine Mischung aus tiefer Wehmut, Sehnsucht und einem Hauch von Verzweiflung lag in seinem Blick. Er blickte sie an. Sie schien zu sprechen, zumindest bewegten sich ihre Lippen. Hieß das nicht, dass sie wohl sprach? Nur ihre Lippen drangen in das Bewusstsein des Flaviers ein um sich dort langsam doch beständig und hartnäckig gegen die übermächtigen Eindrücke der Vergangenheit zu wehren. Nikodemos, seine eigene Mutter. Axilla hatte schöne Lippen. Sie bewegte sie auch auf eine schöne Weise. Wie komplex die Bewegung der Lippen beim Sprechen eigentlich war, schoss es Flaccus durch den Kopf. Komplex und auf bestimmte Weise anmutig. Nach und nach schafften es immer mehr Komponenten des komplexen Reizgefüges in die bewussten Sphären des flavischen Empfindens einzudringen. Langsam gesellte sich zu der bloßen Bewegung der Lippen eine einfache Melodie hinzu. Die Sprachmelodie war es und sie vermochte die homerischen Bilder gepaart mit der flavischen Vergangenheit noch weiter aus dem Bewusstsein des jungen Mannes zu verdrängen. Latein, schoss es ihm durch den Kopf. Sie sprach Latein, nicht mehr die Sprache der Alten. Dennoch, es war eine schöne Melodie, klar und rein nahm er sie war, und gleich dem eiskalten Wasser eines Gebirgsbaches, der im Frühjahr das Wasser des geschmolzenen Schnees von den hohen Gipfeln der Alpen ins Tal schießen lässt, durchdrang die kristallklare Struktur der Sprache auch den Geist des Flaviers. Erfrischend spülte sie auch noch die letzten Bilder von Tod und Verzweiflung fort aus seinem Kopf, und schuf somit Platz für den Sinn der Worte Axillas, der nunmehr endlich in das Empfinden des jungen Mannes eindringen konnte. Ein Scherz, schoss es ihm durch den Kopf, noch bevor er die Worte der Iunia gänzlich erfasst hatte, sodass seine Lippen wie von selbst ein Lächeln formten, ehe sein bewusster Wille überhaupt in dieses instinktive Gefüge kleinster Denkprozesse und damit verknüpfter Regungen, das nunmehr wieder präzise und genau, gleich feinen, exakt aufeinander abgestimmten Zahnrädern arbeitete, eingreifen konnte.
"Kaum ein Lehrer kann es ertragen, wenn seine Schüler beginnen, flügge zu werden und gleich jungen Vögeln, die sich das erste Mal alleine aus dem Nest wagen, die Flügel ausbreiten und gen Himmel fliegen, die Unterstützung ihres Mentors nicht mehr benötigen, sondern diesen langsam aber stetig überflügeln.", meinte er, das feinsinnige Lächeln immer noch auf den Lippen. Dann allerdings wurde er der seltsamen Dinge eingedenk, die gerade erst sich ereignet hatten und ein nachdenklicher Schatten senkte sich auf sein Antlitz: "Wieso hast du genau diese Verse gesungen?", fragte er Axilla und ein fragender Ausdruck lag im Dunkel seiner Augen.