Hatte er sich etwa geirrt? Zumindest klang die fast schon beiläufige Antwort, Axilla hätte eben viel Zeit und wenig zu tun,nicht gerade so euphorisch wie Flaccus vielleicht erwartet hätte. Eher aus der Not hinaus schien sie die Bücher studiert zu haben, wohl um wenigstens irgendetwas zu tun, eine Haltung, die dem bildungshungrigen jungen Flavier, wenn schon nicht völlig fremd, so doch ungewohnt schien. Die meiste Ignoranz in Bezug auf seine Interessen hatte er wohl noch zu Hause in Paestum von seinen eigenen Eltern erfahren, war er aber erst nach Athen gekommen, hatte sich die so faszinierende schier grenzenlose Neugier und Offenheit der Griechen gänzlich auf ihn übertragen, und er selbst hatte die für das kulturelle Leben so fruchtbare Situation - wohl etwas naiv - als Norm betrachtet. Spätestens seit seiner Rückkehr nach Italien und der Reise nach Rom, hatte der junge Mann, wenn schon nicht sonderlich oft, waren es doch eher elitäre Kreise, in denen er sich bewegte, so doch manchmal erzwungenem Kontakt mit der blinden Ignoranz mancher Römer den freien Künste gegenüber, nicht aus dem Weg zu gehen vermocht. Dennoch ließ die nun folgende Antwort der jungen Frau nicht gerade darauf schließen, dass sie zu eben jener bemitleidenswerten Gruppe von Menschen gehörte, denen falscher Blindheit wegen, auf ewig der strahlende Schatz der Bildung verborgen bleibt - wartete sie, nach ihren literarischen Vorlieben gefragt, doch mit den absoluten Highlights der lateinischen und griechischen Literatur auf, wenngleich sie, zumindest im griechischen Bereich, eher den absolut archaischen Formen verhaftet schien, erwähnte sie zwar den gewaltigen Homer, nicht jedoch die kostbaren Kleinode der hellenistischen Dichtung, die wohl, ob ihres Aufenthaltes in Alexandria, also in unmittelbarer Nähe zum Museion und damit der Quelle eben dieser kunstvollen Lyrik, viel eher zu erwarten gewesen wären. So erwähnte sie die großen Elegiker Ovidius, Propertius, Tibullus, nicht aber den gerade von Flaccus selbst so verehrten Horatius, mit dem ihn mehr als die gemeinsamen Prae- und Cognomina verbanden. Pflegte er doch gerade mit diesem Gespräch hier im Garten das Ideal horazischen respektive epikureischen Lebensgenusses. Als Axilla jedoch erwähnte, dass sie auch philosophische Werke gelesen hatte, lauschte der junge Flavier erstmals völlig gespannt. Nicht nur, dass es allgemein wohl eher als selten anzusehen war, dass Frauen sich mit philosophischen Schriften auseinander setzten, so schien gerade diese junge Frau - diesen Schluss wagte Flaccus aus der kurzen Bekanntschaft bereits zu ziehen - eher den lebenspraktischen Dingen zugewandt, denn der Beschäftigung mit trockenen philosophischen Problemstellungen. Anscheinend hatte er sich geirrt, vielleicht war Axilla auch einfach für Überraschungen gut, jedenfalls ließ ihn die Erwähnung der beiden griechischen Philosophiegiganten schmunzeln, war es ihm doch neu, dass Sokrates auch nur ein einziges Wort schriftlich festgehalten hätte, das bis heute überliefert ist. Hier hakte der Flavier jedoch nicht nach, vielleicht war die Iunia ja in Alexandria auf ihm unbekannte Schriften aus Sokrates eigener Hand gestoßen, vor allem jedoch ließ ihn die Erwähnung des Museions, jener mehr sagenhaft, legendären, denn in der Vorstellung des Flaviers real existierenden Bibliothek konzentriert lauschen, konnte jenes Institut doch als Keimzelle jener wissenschaftlichen Beschäftigung mit alten Texten angesehen werden, die Jahrtausende später als Philologie bezeichnet werden würde.
"Na klar, ich würde mich freuen, wenn du etwas findest, das dir gefällt ... ", waren doch alle bisher erwähnten Gattungen der Literatur, die (Liebes)Lyrik, die Epik aber auch das philosophische Schrifttum in der flavischen Bibliothek bestens repräsentiert. Aber auch neuere hellenistische Literatur, oder Komödien eines Plautus oder Terentius, nicht zu vergessen die zahlreichen alten griechischen Tragödien, deren Lektüre wohl schwierig, aber jedesmal ein unbeschreibliches Erlebnis für den so graecophilen Flavier darstellte, waren in Hülle und Fülle vorhanden. "Das Museion...", lenkte Flaccus nun auf jenes Thema ein, das, von Axilla selbst angesprochen, seine Aufmerksamkeit so sehr gefesselt hatte, "... erzähl doch etwas davon, ich habe Atemberaubendes darüber gelesen..." Zweifellos, irgendwann würde Flaccus nach Ägypten reisen müssen, am besten so bald, als möglich, war er schließlich erst senatorischen Ranges, würde sich die Angelegenheit als erheblich schwieriger herausstellen. Nun schien Axilla jedoch richtig aufzutauen, die anfängliche Schüchternheit wie weggeblasen, als sie loslegte und über Ägypten und ihre Betriebe zu erzählen begann. Gespannt folgte Flaccus ihrer Erzählung und schob dann und wann eine der köstlichen Trauben in den Mund. Als sie plötzlich, anscheinend durch ihren eigenen Redeschwall erschreckt, dem Exkurs nach Ägypten ein vorläufig abruptes Ende setzte, versuchte der junge Flavier durch ein freundliches Lächeln zu signalisieren, dass ihre Worte ihn keinesfalls nicht interessiert oder gar gelangweilt hätte, sondern dass er durchaus Interesse an ihrer Vergangenheit und gegenwärtigen Situation hegte. Und so begann nun Flaccus eine Weile zu sprechen und während das Gespräch sich in Richtung seines nunmehr unter den Schatten weilenden Vaters entwickelte, war der junge Mann schlichtweg zu konzentriert, um den innerlichen Konflikt, der offensichtlich gerade hinter der schönen Stirn der Iunia tobte, wie das Dilemma der, vom süßen Marillenmark klebrigen Hand am angemessensten zu lösen sei, nachzuvollziehen. Die ohnehin bereits etwas ernstere Stimmung begann nun endgültig in offene Wehmut umzuschwanken, da Axilla, anders als Flaccus selbst, schon vor einigen Jahren beide Eltern verloren hatte und der Verlust, scheinbar besonders des Vaters, sie noch heute zu berühren schien. Völlig nachvollziehbar war das in den Augen des Flaviers, verstörte es ihn doch stets selbst, zu sehen, wie vergleichsweise wenig ihn der Verlust seines Vaters berührt hatte, so dass er manchmal ernsthaft bezweifelte, ob er zu tiefen Liebesgefühlen überhaupt fähig war. Dann jedoch erinnerte er sich an Nikodemos, jenen Mann, der dem Knaben Flaccus mehr Freund denn nur Mentor gewesen war, und mit dem ihn noch heute kaum beschreibbare Gefühle tiefster Zuneigung und Liebe verbanden. Auf diese Weise also versichert, dass er nicht gänzlich unfähig schien, Liebe und Zuneigung zu empfinden, konnte Flaccus schon getroster in die Zukunft blicken, im konkreten Fall auf die Antwort, die die von Axilla soeben gestellte Frage zweifellos erwartete. "Nicht direkt. Sein Wunsch war, dass ich mich in den Dienst des Staates und der Gens stelle, und beiden gleichermaßen zu Ruhm und Ehre verhelfe - wie auch immer das konkret aussehen mag..." Ein Vogel zwitscherte und der junge Mann wandte sich zum Baum um, um das zierliche Tier zu betrachten. In diesem Moment trat auch die hübsche Sklavin erneut an den Tisch heran, die wohl, im Gegensatz zu Flaccus, das Marillen-Dilemma, in dem die Iunia sich befand, durchaus wahrgenommen hatte, und reichte Axilla, den Blick stets demütig gesenkt, ein blütenweißes Stofftuch, auf dass jene sich damit ihre Hände in angemessener Weise säubern konnte.