Octavena nickte leicht und betrachtete mit einem Mal unwillkürlich ihre Hände und den Ring, den ihr Witjon am Tag ihrer Hochzeit angesteckt hatte und den sie auch nach seinem Tod immer noch trug. Vielleicht war Naha doch klüger und aufmerksamer als ihr Alter es hätte vermuten lassen. Oder sie kannte einfach nur Ildrun sehr gut und kam deshalb zu ähnlichen Schlüssen wie denen, die auch Octavena manchmal Sorge machten, wenn es um ihre Tochter ging. Dabei meinte Octavena tatsächlich, was sie sagte: Manches brauchte Zeit und wenn die Götter es gut mit Naha meinen sollten, dann würde sie noch sehr viel davon haben.
"Ich bin mir sicher, du wirst deine Form finden." Octavena lachte leise, hielt dann aber direkt wieder inne, als Naha mit ihrer nächsten Frage fortfuhr. "Ja, ich habe meinen Platz gefunden", bestätigte sie mit einem warmen Lächeln und begegnete ruhig dem Blick der jungen Frau. "Trotz allen Unwägbarkeiten." Sie seufzte tief, dieses Mal aber auf eine fast schon nostalgische Art. "Ich weiß noch, wie schrecklich wütend ich auf meinen Vater war, als er mich nach Germanien geschickt hat. Ich hatte das Gefühl, er würde mich bestrafen, und dachte, ich würde mich nie in der Fremde zu Hause fühlen können, aber am Ende war das wahrscheinlich die beste Entscheidung, die er je für mich getroffen hat." Ihr Blick glitt zurück zu Naha und sie lächelte. "Es hat schließlich seine Gründe, dass ich immer noch hier bin." Tatsächlich wäre es vermutlich leicht gewesen, nach Witjons Tod einfach ihre Sachen zu packen und zurück nach Tarraco zu kehren. Niemand hätte sie aufgehalten. Ihr Onkel hatte sich aufs Land zurückgezogen und redete ihr schon lange nicht mehr in ihr Leben rein, von ihrem Cousin hätte sie sich so oder so nichts sagen lassen, aber der steckte ohnehin sonstwo, und die Duccier hätten es wahrscheinlich respektiert, wenn sie beschlossen hätte, sie zu verlassen. In Wahrheit hatte Octavena aber schlicht nicht gehen wollen und das nicht nur wegen ihren Kindern. Die Villa Duccia war ihr zu Hause und solange nicht der unwahrscheinliche Fall eintrat, dass die Familie sie doch vor die Tür setzen wollte, würde sie bleiben.
"Nur die Götter wissen, was die Zukunft bringt", meinte Octavena gelassen, während sie beobachtete, wie die Sonne weiter in Richtung Horizont hinabsank, löste dann aber ihren Blick und sah wieder zu Naha. Ihr war sehr wohl der vorsichtige Tonfall in ihrer Stimme aufgefallen und es war nach ihrem bisherigen Gespräch nicht besonders schwer, zu erraten, dass die junge Frau sich Gedanken über ihre eigene Rolle in der Welt machte. "Aber es wird trotzdem ... leichter. Besonders, wenn man eine Familie um sich hat, auf die man sich verlassen kann. Die einem hilft, wenn man einmal doch nicht weiter weiß." Das war noch ein Grund, warum Octavena nie gegangen wäre, wenn sie nicht musste: Familie ging für sie mehr oder weniger über alles und ihre Familie war nun einmal schon länger nicht mehr hauptsächlich in Tarraco, sondern in Mogontiacum.