Als er wieder von seinem Ring aufsah, setzte sich unvermittelt ein Mann an ihren Tisch. Er trug eine Tunica, aus der sich ableiten ließ, dass dies kein einfacher Arbeiter war - eher eine Art Geschäftsmann. Die Unordentlich seines Stils sagte aber auch aus, dass er nicht besonders erfolgreich sein konnte - er hatte nicht einmal eine Toga oder einen Mantel an! Außerdem roch er ziemlich nach Wein!
"Oh Mann, oh Mann - die bringen mich noch um!"
erklärte der neue Tischgenosse unvermittelt und sah Armin und Lucius abwechselnd an, die irritiert zurückblickten. Die Augen des Fremden verengten sich und er begann zu gestikulieren:
"Könnt ihr euch das vorstellen? Die rauben einen komplett aus - und das unbarmherzig! Ich sag's euch! Die legen noch meine Familie um, wenn's so weitergeht!"
Lucius sah zu Armin, der den Blick erwiderte. Hatten sie jetzt einen Verrückten an der Backe? Aus den Aussagen ließ sich nicht so recht ableiten, worauf er hinauswollte: War er einfach verrückt und fühlte sich verfolgt? Oder war er tatsächlich ausgeraubt worden? Aber das war auch unlogisch - dann hätten sie seine Familie wohl schon umgelegt. Oder hatten sie ihn erpresst, dass er ihnen noch mehr Geld brachte? Andererseits war es dann ziemlich irrational, diese Lage mitten in einer Taverne herauszuposaunen - da musste man sich entweder an die Vigiles wenden oder zahlen, soweit der junge Petronier wusste. Andererseits waren viele Leute ziemlich dumm...
Der Fremde ließ sich von ihren fragenden Blicken aber nicht beeindrucken, sondern fragte in sarkastischem Unterton, den Lucius natürlich nicht verstand:
"Oder habt ihr zufällig 300 Sesterzen?"
"Ja."
antwortete er deshalb knapp und genervt. Der Typ war ziemlich aufdringlich und versprach nicht gerade ein interessantes Gespräch. Tatsächlich begann er wieder wild zu gestikulieren und sich aufzuregen:
"Na super! Toll für euch! So junge Leute sitzen hier und trinken ihren Wein - nein, Bier sogar! - und können mit Geld nur so um sich werfen! Und so'n armer Schlucker wie ich, ein ehrlicher Handwerker, muss sich von irgendwelchen Geldeintreibern die Scheiße aus dem Leib prügeln lassen! Das is' so ungerecht! Was sollen meine Frau und meine Kinder davon halten, wenn sie das rauskriegen? Hätte der verdammte Phytocles seine Pferde doch nur 'n bisschen mehr angetrieben!"
Gegen Ende war sein Ton eher ein bisschen jammerig geworden und tatsächlich brach er nun in Tränen aus.
"Könnt ihr euch das vorstellen? Könnt ihr euch das vorstellen?"
Armin wirkte nun ziemlich verdutzt. Aber auch Lucius wusste nicht so recht, wie er das alles verarbeiten sollte: Aus dem Gebrabbel ließ sich aber zumindest ein bisschen etwas rekonstruieren: Er hatte sich als Handwerker und Familienvater bezeichnet. Dazu hatte er Geldeintreiber erwähnt - logischerweise hatte er dann also Schulden, die er nciht bezahlen konnte, wofür auch das Verprügeltwerden sprach. Darüber hinaus fürchtete er eine Entdeckung durch seine Familie, was wiederum mit einem gewissen Phytocles und Pferden zusammenhing. Phytocles - dieser Name kam ihm tatsächlich auch bekannt vor. Richtig, ein Auriga! Der junge Petronier war ja bei den Spielen zu Ehren von Tiberius Durus gewesen und auch wenn er nach der ersten Runde beschlossen hatte, dass Wagenrennen langweilig waren und er sich lieber etwas zu Essen organisierte, hatte er die Namen der Lenker noch mitbekommen. Aus all dem ließ sich also nur eines ableiten: Der Typ hatte Geld bei einer Wette verloren, was er seiner Familie aber nicht verraten hatte. Offensichtlich war außerdem, dass er dieses Geld - genaugenommen 300 Sesterzen - nicht aufbringen konnte und er somit ziemlich sicher vor dem sicheren Ruin stand.
Stellte sich die Frage, ob diese Geschichte für Lucius interessant war. Generell war sie das natürlich nicht - er war nicht hier um über traurige Schicksale Unbekannter zu schwafeln! Oder ließ sich daraus irgendwie Gewinn schlagen? Vielleicht, indem er ihn erpresste, das ganze der Frau zu erzählen? Aber was hatte er davon - offensichtlich hatte dieser Handwerker ja kein Geld! Und abgesehen davon kannte er die Frau natürlich nicht - dies war nicht Mogontiacum, wo jeder jeden kannte!
"Was für'n Handwerker biste denn?"
fragte Armin in diesem Moment.
"Bäcker!"
antwortete der Mann, was aber natürlich nicht alles war:
"Ich bin Gaius Istorius Albianus Hispo, der beste Bäcker von ganz Ostia! Mit eigenen Mühlen! Ich hatte schon Verträge mit der Cura Annonae - schon oft! Und jetz' steh' ich vor dem Nichts! Das ist so ungerecht! Verflucht sein Neptun und alle Götter, die mit Pferden zu tun haben!"
"Was für ein dämlicher Name" dachte sich Lucius. Trotzdem waren diese Informationen weitaus interessanter als das Gejammer über seine Frau. Denn die Sache mit der Cura Annonae war dem jungen Petronier tatsächlich schon aufgefallen - diese Organisation kaufte Unmengen von Brot und Getreide und beschäftigte Massen an Bäcker, Müllern und so weiter! Im Grunde war es ein ähnliches Geschäft wie die Tunicae des Alten - die gingen ja auch an die Legion und die zahlte pünktlich und gut. In ihm reifte ein Plan...
"Verkauf' doch deine Bäckerei!"
schlug Lucius ganz scheinheilig vor (zumindest so scheinheilig, wie er konnte).
"Meine Bäckerei? Die ist alles was ich hab! Wovon soll ich denn leben, wenn ich sie nicht mehr habe? Woher sollen meine Kinder ihr Brot bekommen? Etwa diese Backsteine von Pullo?"
Lucius hob abwehrend die Hände - geradezu eine rhetorische Geste, über die Eumenius sich sicher gefreut hätte (zumindest glaubte Lucius das).
"Naja, der neue Besitzer könnte dich einfach als Bäcker anstellen und dir einen kleinen Lohn zahlen."
"Einen Lohn? Ich hab' diese Bäckerei aufgebaut! Mein Vater war noch ein kleiner Bäckersgeselle vom Land und ich bin ein respektabler-"
"-Pechvogel mit einem Berg Schulden und einer Familie, die nichts davon erfahren darf!"
beendete Lucius den Satz kühl. Er hatte Privatus immer mal über die Schulter geschaut. Und auch wenn seine ersten Schritte im Wirtschaftsleben ziemlich holprig gewesen waren, hatte er noch lange nicht aufgegeben. Diesmal würde er sich zuerst etwas genauer informieren. Außerdem war er im Vorteil, denn dieser Kerl war in einer Notlage und in solchen Fällen pflegten Menschen manchmal ziemlich irrational zu handeln! Was sich wieder bewies:
"Du hast ja einen Vogel! Was weißt du schon vom richtigen Leben, Bürschchen? Meine Bäckerei verkaufen - dass ich nicht lache!"
"Das wäre eine ziemich kluge Lösung, Istorius. Deine Fraue würde nichts bemerken, du hättest Lohn und der Investor Gewinne."
versuchte der junge Petronier es nochmals im Guten. Aber der Typ war zu betrunken oder zu aufgekratzt oder zu dumm, um das jetzt einzusehen. Stattdessen erhob er sich schwankend und sagte nur:
"Meine Bäckerei verkaufen - so ein Blödsinn! Ihr jungen Schnösel ihr, ihr glaubt wohl, man kann alles mit Geld kaufen! Nene, an sonem Geschäft, da hängt Herzblut dran! Herzblut, versteht ihr?"
Mit einem Klopfen auf die Brust wandte er sich um und wankte aus der Tür. Lucius' Blick verfolgte ihn einen Moment, dann sah er wieder zu Armin.
"Folge dem Typen! Finde raus, wo diese Bäckerei is'. Und wo er wohnt - beziehungsweise seine Frau!"
Der Sklave schien sofort zu verstehen, denn er grinste. Dann sprang er auf und schob sich an der Kellnerin vorbei, um den betrunkenen Bäcker abzupassen, bevor er durch die Tür und verschwunden war...