Nun folgte das Hauptopfer, für das der Bulle vorbereitet worden war. Tatsächlich machten die Zuschauer große Augen und bewunderten das Tier, das von zwei Opferhelfern gehalten werden musste. Und auch Lucius musste sich das Tier etwas genauer anschauen, damit er den Göttern keinen Schund unterjubelte - als ob diese das interessiert hätte. Allerdings war es nicht unbedingt ein Bulle in der Blüte seiner Jahre, sondern ein älteres Tier, dessen Fleisch vermutlich ein wenig zäh sein würde. Aber selbst wenn das Apollo interessiert hätte, wäre es vermutlich egal, denn das Fleisch ging ja praktischerweise an die Opfergemeinde.
Also drückte der junge Petronier ein Auge zu und sprach das Opfergebet:
"Oh Apollo, strahlende Sonne,
Grannus, Herr der Quellen und der Heilung,
Mogounus, Schirmer dieser Civitas!
Du verschonst uns mit deinen Pestpfeilen und reinigst uns mit deinem heiligen Wasser vor Krankheit und allem Übel.
Wie die Sonne leuchtest du über unserem Vicus, dein Schein schenkt den Feldern Wachstum, den Kranken Gesundheit und den Herden Fruchtbarkeit!
Wo dein Pfeil den Boden trifft, entstehen florierende Städte!
Darum bringen wir dir gerechte Opfer dar. Zur Feier des Tages, an dem du am höchsten über unserer Stadt thronst, brachten wir dir gerechte Opfer dar wie wir Jahr um Jahr-"
Lucius musste sein Gebet kurz unterbrechen, da der Pontifex, der ihm einsagte, eine Tabula heranziehen musste - für das ungewöhnliche Opfer war auch eine ungewöhnliche Gebetsformulierung notwendig, die die Pontifices sich lange ausgedacht hatten. Für Lucius war auch das seltsam und unlogisch - wenn die Götter sich überhaupt für ein paar verbrannte Innereien interessierten, dann sahen sie es doch unabhängig von irgendwelchen wohlgesetzten Worten...
"-einen Schafbock opfern. Zum Dank für Deinen Schutz und Schirm nimm heute dieses makellose Rind an als besondere Gabe.
Segne und bewahre unseren Vicus und unsere ganze Civitas vor Pest und allen Krankheiten! Lass unsere Herden fruchtbar sein und verhülle dein Antlitz nicht vor uns, damit unsere Felder gedeihen, aufdass wir dir lange gute Gaben bringen!"
Nach diesen verschnörkelten Ansagen bekam der junge Petronier das Opfermesser in die Hand gedrückt. Am liebsten hätte er stattdessen sein Gladius in der Hand gehalten, aber die Götter bevorzugten diese Art von Küchenmesser - wahrscheinlich war es nicht einmal richtig scharf. Damit musste er nun über den Rücken des nervösen Tieres fahren, dem auch gleich die Sonnenscheibe, die man zwischen seinen Hörnern konstruiert hatte, entfernt wurde.
"Agone?"
fragten endlich die Opferschlächter und holten mit ihrem Hammer aus.
"Age!"
befahl Lucius und seine Augen blitzten auf, als er das Krachen des Schädels und das Spritzen des Blutes sah. Besonders letzteres erinnerte ihn an Caius - und tatsächlich verhielt sich der Bulle ganz ähnlich, machte sogar in etwa die gleichen Geräusche und sank endlich in sich zusammen. Nur, dass Lucius diesmal keine blutigen Hände hatte - was er zur Sicherheit kontrollierte. Irgendwie machte ihm all das Lust, mal wieder von seinem Schwert Gebrauch zu machen - er konnte sein Opfer ja auch den Göttern stiften. Vielleicht wurde ihnen das ständige Tierfleisch ja langweilig...
Während er so darüber nachdachte, wie man ungefährdet einen Mord begehen konnte, machten sich die Priester über das Tier her und entrissen ihm die Innereien. Ein Haruspex musste sich das ganze ansehen...