Einige Tage später, nach Evanders und Elias Besuch in der ehemaligen Taberna, hatte sich Sarah, Elias´ jüngere Schwester, mit einem Korb voller Lebensmittel auf den Weg zu den beiden Wirtsleuten gemacht. Ihr Bruder und dessen Freund hatten sich bei ihrem Besuch ein Bild von der desolaten Lage machen können, in der die beiden seit jener schicksalhaften Nacht vor einigen Wochen steckten. Noch am selben Tag hatten sich noch einige andere Männer der christlichen Gemeinde eingefunden, um die Taberna gemeinsam wieder auf Vordermann zu bringen. Simon und Mirjam sollten wenigstens wieder eine Existenzgrundlage haben, um ihr weiteres Leben einigermaßen bestreiten zu können. So wurde in der Taberna Trümmer beseitigt, gehämmert und gesägt, getüncht und geputzt. Nach und nach wurden aus dem Chaos, welches die Urbaner hinterlassen hatten, wieder ein ansehnlicher Schankraum und eine saubere Küche.
Simon, der zwar anfangs nicht sehr aufgeschlossen gegenüber den Christianern war, hatte scheinbar seine Meinung geändert. Während seiner Zeit im Carcer waren es ausgerechnet die Christianer gewesen, die ihm trotz aller Brutalitäten, die man ihm angetan hatte, immer wieder Mut zugesprochen hatten. Eigens für ihn hatten sie nun eine einfache Kline mitten in den Schankraum gestellt, von wo aus er alle Arbeiten mit verfolgen konnte.
Auch Mirjam schien durch diese unerwartete Hilfsaktion wieder neuen Mut schöpfen zu können, dennoch gab es etwas, was sie immer noch bedrückte - ihre Tochter Rachel. Doch in Gegenwart ihres Mannes traute sie sich nicht, darüber zu sprechen, schließlich hatte er ja damals Rachel verstoßen. Doch was Mirjam nicht ahnte, war dass er seine Tochter in jedem seiner Gebete mit bedachte.
Sarah und Mirjam waren in der Küche verschwunden und bereiteten für die Männer einen großen Topf Puls vor. Sarah hatte frisches Gemüse und ein Stück Hammelfleisch vom Markt mitgebracht. Nun waren die beiden Frauen in ihrem Element. Lange hatte die Küche kein so fröhliches Geschnatter oder gar Gelächter gehört, wie an diesem Tag. So war es nicht verwunderlich, dass sie das Klopfen an der Tür nicht gehört hatten.
Draußen im Schankraum jedoch verstummten die arbeitenden Männer, die sich zuvor ausgelassen miteinander unterhalten hatten. Alle Augen waren zur Tür gerichtet. Elias war es dann, der sie einen Spalt weit öffnete, um hinauszulugen. „Wer bist du? Und was willst du hier? Die Taberna ist geschlossen.“
„Salve, ich bin Beroe. Ist Mirjam da?“, antwortete die Lykierin. Nachdem sie im Lupanar wieder zu Kräften gekommen war und ihr erstes Geld verdient hatte, war ihr erster Weg die kleine Taberna im Trans Tiberim gewesen. Elias blickte die Frau einen Moment lang forschend an. Schließlich ließ er sie ein. „Mirjam ist in der Küche.“ Die anderen Männer sahen der auffallend gut gekleideten Frau nach, die zielstrebig die Küche ansteuerte.
„Mirjam…“ Beroe blieb im Türrahmen stehen und beobachtete die beiden Frauen. Sobald sie das Erscheinen der Lykierin wahrgenommen hatten, hielten sie in ihrem Tun inne und starrten die Frau in der Tür an. „Beroe!“, rief Mirjam entgeistert aus. Die Wirtin schien bereits in der Beroes Mimik lesen zu können, dass sie keineswegs mit guten Nachrichten kam. „Mirjam, es tut mir so leid, dass ich nicht früher kommen konnte“, begann Beroe. Sie fürchtete sich davor, Mirjam mit der bitteren Wahrheit konfrontieren zu müssen. „Hast du Neuigkeiten von Rachel? Geht es ihr gut? Ist sie gesund?“ Im Grund wusste Mirjam bereits die Antwort. Ihre Augen wurden feucht. Ein Zittern um ihre Mundpartie stellte sich ein. „Rachel und ich… wir waren bei dieser Versammlung… dann waren plötzlich überall die Urbaner. Sie haben uns verhaftet und in den Carcer gesteckt…“ Beroe brachte es nicht über sich, weiter zu sprechen, doch Mirjams fordernder Blick ließ ihr keine andere Wahl. Die Wirtin war inzwischen auf Beroe zugegangen. „Was ist mit meinem Kind? Ist sie noch am Leben?“
„Sie hatten uns getrennt eingesperrt. Bis vor ein paar Tagen war ich im Carcer. Als sie mich frei ließen, sagten sie mir, Rachel sei…“ Beroe biss sich auf ihre Lippen. Am liebsten hätte es nicht ausgesprochen. „Ja…?!“ Mirjam begann die Lykierin zu schütteln, als wolle sie so die fehlenden Worte aus ihr herausbekommen. „Mirjam, Rachel ist gestorben.“ Tränen rannen inzwischen an ihren Wangen herab. Mirjam hingegen schien plötzlich wie versteinert zu sein. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund schien einen stummen Schrei ausstoßen zu wollen. Sarah trat neben die Wirtin und legte ihre Arme tröstend um sie. „Du solltest jetzt besser gehen!“, meinte sie, an Beroe gewandt. Die Lykierin nickte erschüttert und wollte sich zum Gehen umwenden, bevor sie jedoch einen Schritt vor den anderen setzten wollte, stellte sich ihr Evander in den Weg. Er, wie auch die anderen Männer, hatten das Gespräch mit angehört.
„Soso, bis vor ein paar Tagen warst du also selbst noch im Carcer, ja?! Und dann haben sie dich in die diese feinen Klamotten gesteckt und dich laufen lassen.“ Unter den Männern bahnte sich ein unterschwelliges Murmeln an. „Lass sie, Evander!“, mahnte ihn ein Mann, dessen Name Phillipos lautete. „Wieso?“, entgegnete Evander. „Du bist doch die kleine Hure, die hier gearbeitet hat? Was haben sie dir gezahlt, damit du uns verrätst, hmm?“ Evander rückte der Lupa noch dichter auf die Pelle und packte sie schließlich an ihrem Arm.
Beroes Trauer war nun voll der Angst gewichen. Hilfesuchend sah sie in die Gesichter der Männer, die sie mit verschlossener Miene anstarrten. „Mir hat niemand etwas gezahlt und ich habe auch niemand verraten. Hast du nicht gehört, sie hatten mich selbst für viele lange Wochen gesperrt. Das müsst ihr mir glauben!“, erklärte sich Beroe. Doch diese Antwort wollte Evander nicht einfach so gelten lassen? „Du lügst doch! Wie kommt es dann, dass du so gut gekleidet bist? Die Fummel müssen doch furchtbar teuer gewesen sein!“ Wieder zerrte er sie an ihrem Arm, so dass es Beroe weh tat. „Ich habe in einem Lupanar Arbeit gefunden. Die Kleider hat man mir überlassen,“ antwortete sie verzweifelt mit verzerrtem Gesicht.
„Evander!“ mahnte diesmal eine andere, weitaus respekteinflössendere Stimme, die es schließlich bewirkte, dass Evander von Beroe abließ. „Dreckige Hure! Ich werde dich im Auge behalten.“ Beroes Herz wollte sich überschlagen. Als der Mann sie endlich losgelassen hatte, wollte sie sich an ihm vorbeischieben. Nur schnell weg hier, dachte sie sich. Doch sie kam nicht weit…