Zu einer wirklichen Lösung hatte das Gespräch der drei Kameraden bislang nicht geführt. Auf dem ganzen Weg von den Lagerthermen bis zu den Unterkünften war die Diskussion immer wieder unter den heißen Wogen von Hispos’ Selbstmitleid verschwunden. Bei allem Verständnis für seinen maximal durchbluteten Freund war Antias doch allmählich der Langmut abhanden gekommen. Hispo war hier schließlich nicht der einzige mit derlei Problemen. Fimbria dagegen war ganz wie es seinem Charakter entsprach aufrichtig um Marullus besorgt und bestrebt, ihm zu helfen, ohne freilich zu wissen, wie er das anstellen sollte, und Antias wiederum wusste nicht so recht, was man nun von ihm erwartete. Sicher, er war der Stubenälteste, aber was nützte ihm das schon? So viele Möglichkeiten, Marullus aus seiner Trauerstarre zu holen, gab es gar nicht. Antias würde mit ihm reden, es zumindest versuchen, sollte er dennoch nicht bis zu ihm vordringen, blieb letztlich kein anderer Ausweg als die Entlassung wegen Dienstuntauglichkeit. Marullus nach dem Beispiel anderer Einheiten einer brutalen Sonderbehandlung zu unterziehen, war für Antias keine Option. Nicht in seinem Contubernium!
Als sie die Baracke endlich erreicht hatten, schienen sich sowohl Selbstmitleid als auch Hilfseifer schlagartig verbraucht zu haben. Hispo machte sich mit demonstrativem Enthusiasmus an den dreckigen Töpfen zu schaffen, Fimbria ließ sich summend auf sein Lager nieder, den Weinschlauch so zärtlich umklammert wie ein Wickelkind und Antias wurde klar, dass es wieder einmal an ihm hängen geblieben war. Seufzend blickte er auf die regungslose Gestalt im hinteren Teil der Baracke, füllte seine Patera mit nahezu erkaltetem Puls und ging schließlich zu Tutors Pritsche, auf der Marullus wie aufgebahrt dalag und mit solch leerem Blick an die Decke starrte als hätte man ihm zwei gebrochene Fischaugen auf die geschlossenen Lider gelegt.
„Na, Miles Tadius? Mal wieder nichts gegessen?“ fragte Antias in bemüht leichtem Tonfall, setzte sich vorsichtig auf die Pritsche und hielt Marullus die Patera hin. Keine Reaktion. Hispo brummte dumpf in den Spülbottich, Fimbria stimmte eine schwere melancholische Weise an, Marullus jedoch blieb stumm. „Komm, iss.“ schlug Antias aufmunternd vor. „Ist fast noch warm, mit Speck und Rosinen.“ Die toten Augen zitterten ein wenig, neigten sich ein wenig. „Iss, Marullus!“ Marullus fuhr lautlos vom Lager auf, griff nach der Patera und tat stumm wie ihm geheißen, aß, schmatze, schlang, stopfte den klebrigen Brei in sich hinein ohne irgendeine Regung zu zeigen. Selbst als die Patela leer war, leckte Marullus noch immer wild darin herum, bis Antias ihm den Napf wieder wegnahm. „Schon gut, du kannst aufhören.“ Schlagartig hörte Marullus auf zu kauen, ließ sich wieder auf die Pritsche fallen und summte fast tonlos die wehmütige Melodie von Fimbrias’ Gesang mit, während sich ein nasser Schimmer über die ausdruckslosen Augen legte. Antias war entsetzt. Dass es so übel um den Burschen stand, hatte er nicht erwartet. Beklommen und ratlos lauschte auch er dem traurigen Soldatenlied.
„.. dein Schild, er ward mir Schutz und Schirm
durch aller Schlachten Pein
dein edler Mut, dein heißes Blut
ward wild wie Flammenschein
es wies den Weg mir durch die Nacht
auf Pflaster, Moos und Stein
es schürte mich und führte dich
bis in den Tod hinein
in Staub und Sand
im Partherland
bleicht nun dein kühnes Haupt
oh Krieges Brand, oh Feindes Hand
hast mir den Freund geraubt ..“
Na wunderbar. Wenn das nicht die Stimmung hob. Am liebsten hätte sich Antias neben Marullus auf die Pritsche gelegt um nie wieder aufzustehen „Fimbria, könntest du vielleicht ...“
„.. im Blut von Carrhae standen wir
wie Brüder Speer an Speer ..“
„Fimbria! Bitte! Geht’s noch deprimierender?“ Der erdige Bariton verstummte, ein beleidigtes Grunzen wurde vernehmbar, dann das Gluckern des Weinschlauchs. Die Barackentür flog auf, Pacatus, einer der übrigen Milites steckte den Kopf in die Unterkunft, gewahrte die trübe Atmosphäre und knallte die Tür stöhnend wieder zu. Hispo gab einige unbeherrschte Körpergeräusche von sich. „Hat der jaulende Bergbulle vielleicht auch was beschwingteres im Angebot? Mir gefriert schon das Spülwasser.“ Fimbria murmelte Unflat in seinen Bart, versuchte sich dann aber umgehend an leichterem Liedgut.
„In des Frühlings dampfend Wäldchen
jag ich heut mein Ross hinein
ohne Zügel auf den Hügel
durch den ersten Morgenschein ..“
Nur geringfügig erleichtert blickte Antias wieder auf Marullus hinunter. Da half alles nichts, Marullus war als Miles nicht zu gebrauchen. Zumindest nicht in diesem Zustand. Möglich, dass er wirklich nur hier raus musste. Für eine Weile. Zu seiner Familie vielleicht in die Lepinischen Berge. Aber wie? Und vor allem, für wie lange? Im Grunde wusste Antias sehr wohl, dass Marullus – wenn er denn einmal die Castra verlassen konnte – nie wieder zurückkehren würde.
„.. in des Wäldchens warmer Grotte
bringst du mir dein Sehnen dar
kommt verlegen mir entgegen
dein benetztes Lippenpaar ..“
„Marullus.“ fragte Antias schließlich mit Nachdruck in der Stimme. „Willst du nachhause?“ Die trüben Fischaugen flackerten wieder etwas. Das blasse Gesicht blieb leichenstarr. „Willst du heim? Geht’s dir dann besser?“ Ein gequältes Seufzen durchfuhr Marullus eingesunkene Brust und strömte in ein paar leise gemurmelten Worten aus seinem halbgeöffneten Mund. Antias verstand nicht, was Marullus sagte, begriff aber endgültig, dass der Zwilling für die CU verloren war.
„.. Chelidonis, nicht dein Herzchen
Chelidonis, muss es sein
Chelidonis, nur dein Schößchen
Chelidonis, ganz allein ..“
Völlig unvermittelt knallte Hispo den Topf in den Bottich und keifte Fimbria an. „Was anderes als dieser aufreizende Saukram fällt dir nicht ein? Das machst du mit Absicht, Raecius!“ Antias fuhr erschrocken herum. Was war denn jetzt wieder? Fimbria machte nicht den Anschein, als wüsste er worum es ging. Mit zornrotem Schädel riss Hispo seinen Mantel an sich und stampfte zur Barackentür. „Da verbring ich die Nacht lieber im Kaltwasserbecken als bei euch rücksichtslosen Furzgesichtern!“ Die Tür schwang knarrend auf und wummerte krachend wieder zu. Nun waren sie nur noch zu dritt in der Baracke, genau genommen sogar nur zu zweit, denn wo sich Marullus in Wirklichkeit herumtrieb, vermochte niemand zu sagen. Müde erhob sich Antias, warf seine Patera ebenfalls in den Bottich und zerrte dann Fimbria den Weinschlauch aus den Armen. „Beim Iuppiter, Fimbria .. manchmal wünschte ich, ich hätte Germania nie verlassen.“