Als Norwiga mit ihren Kriegern los zog kam sie am Felsen der Götter vorbei. Hier war das uralte Heiligtum, der heilige Hain mit dem Opferplatz, und dem Allsherjarode, dem obersten Priester, der für alle wichtigen Geschehnisse im Germanenlande befragt werden konnte. So ließ Norwiga den Trupp halten und ging mit ein paar ihrer Krieger zum Heiligtum. Der Aufstieg war beschwerlich und sehr steil, so dass sich das erklimmen des Felsens hinzog. Als sie endlich oben angelangt waren standen sie am Rande eines kleinen Wäldchens das leise im Nordwind dahinschaukelte. Es ging etwas magisches, etwas göttliches von diesem Wäldchen aus und umhüllte jedes Lebewesens mit einem innerlichen Frieden und einer Ruhe wie sie nur heilige Stätten aussenden konnten.
So schritten sie nun in die Mitte des Wäldchens um an den heiligen Hain zu kommen mit der Opferstelle. Der Hain war kreisrund und in der Mitte des Hains konnte man ein großes schwarzes Loch erkennen. Dies war die Opferstelle. Wie sie so dahinstarrten kamen in plötzlich die Priester entgegen angeführt von einem großen alten Mann mit einem langen weißen Bart. Es war der Allsherjarode der sich an Norwiga wandte und mit tiefer dunkler Stimme sprach:
Heilsa große Kriegerin was führt dich zum Felsen der Götter?
Oh Erhabener ich wünsche mir den Segen der Götter für einen Kriegszug gegen die Römer.
Nun Kriegerin du sagst es geht gegen die Römer und du musst dich auf schwere Gefechte vorbereiten? Dann werden wir ein Menschenleben opfern müssen um dieser schwerwiegenden Sache gerecht zu werden.
Auf ein Zeichen des Allsherjaroden bildeten die Priester einen Kreis um das tiefe Loch. Im Hintergrund wurde eine nackte Jungfrau herangeführt die sich in den Armen der Tempeldienern wand. Doch sie hatte gegen die kräftigen Männer keine Chance. Der Allsherjaroden trat auf das Mädchen zu und betrachtete es mit seinen tiefen Augen. Die junge Frau war auf einmal still und hatte einen starren Gesichtsausdruck angenommen.
Der Allsherjarode drehte sich so, dass man ihn sehen konnte, breitete die Arme aus und begann einen tiefen Singsang:
Wir bekennen uns zu den Kräften des Geistes und des Lebens, die das All durchdringen und uns.
Und erkennen im All formbildende Kräfte des Lebens, welche die Mannigfaltigkeit aller Erscheinungen bedingen, und anerkennen daher auch alle Sondererscheinungen in ihrer Naturnotwendigkeit als Offenbarungen der Kräfte des Lebens.
Da aber die Wahrheit und der Sinn ihres Daseins ebenso naturnotwendig in den Erscheinungen selber liegt, so ist es auch der Sinn oder die Aufgabe aller Erscheinungen, sich zu erfüllen.
Also erkennen auch wir den Sinn und die Aufgabe unseres Daseins – als Samenkorn mit uns erstanden und der Erfüllung harrend – in uns liegend.
Mithin glauben wir und wissen, dass eine Religion der Germanen nur aus ihnen selbst erstehen kann.
Religion ist uns das reine, weltbejahende tat- und erkenntnisfrohe Verhältnis der Seele zu den Wesen des Alls und zu ihren Erscheinungs- und Offenbarungsformen.
Unsere Erkenntnis und Erfahrung der Götter als letzte Wahrheiten und Wesenheiten und als in uns und durch uns wirkende Kräfte ist uns zugleich das Wissen um ein sittliches Gesetz in uns und der Grund unseres Vertrauens auf ihre Führung und die Ursache unseres Glaubens an die hohe Bestimmung der Germanen.
Aus solcher Erkenntnis erkeimt uns auch der Wille zum Guten, der Wille zur Reinheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, zur Selbsterlösung und zur Selbsterfüllung, und so ersteht uns auch der Wille zur freien, sittlichen Tat bis zur Selbstopferung.
Also erblicken wir in der Besinnung auf unser eigenes Wesen als den in uns sich auswirkenden besonderen Erscheinungsformen der Götter und in der Gesund- und Starkerhaltung, der Fort- und Höherentwicklung dieses Wesens zu immer reineren, edleren Formen und Zielen die vornehmste Aufgabe eines jeden Germanen innerhalb wie außerhalb der germanischen Grenzen.
Über das Grab hinaus aber schauen wir mit ganzem Vertrauen in die Unendlichkeit, daher wir gekommen sind. Unsere Aufgabe ist dieses Dasein zu erfüllen – sie zu bestimmen ist das Recht und die Kraft der Götter, die das All durchdringen und uns, in Zeit und Ewigkeit.
Mögen Wodan, Donar und Frija ihre göttliche Macht über diese Kriegerin Norwiga und alle sie begleitenden Krieger schützend halten, auf das der Kriegszug gegen die Ungläubigen erfolgreich verlaufen möge.“
Norwiga war tief ergriffen von der Zeremonie und starrte gebannt auf den Hohenpriester wie auch die junge Frau. Dann sah sie wie der Priester einen Dolch in den Händen hielt und der Frau schnell damit die Kehle durchschnitt. Das Blut schoss in einem gewaltigen Strahl aus der Wunde, während die Frau mit den Augen klapperte und begann in sich zusammen zu sinken. Dies war der Augenblick mit dem sie in den Abgrund geworfen wurde und in der gewaltigen Tiefe verschwand. Am Boden der Höhle hörte man einen dumpfen Aufschlag.
Der Allsherjaroden wandte sich mit dem blutbesudelten Dolch an Norwiga und fuhr ihr mit dem Blut erst über die Stirn, dann über die Wangen und brachte ihr den Segen des Opfers.
Mögest du die Erfüllung finden und den Sieg angeheftet haben.