Nach einem Tag, der der Trauer und der Klage um den Kultheros Attis gewidmet war, stand an diesem Tag der "Dies sanguis" - Bluttag genannte letzte Trauertag an. An diesem Tag vergoss man das Opferblut nicht nur von Opfertieren, sondern in der Regel vergossen auch die Kultanhänger ihr eigenes Blut.
Phryne hatte diesem Tag entgegengefiebert. Er würde nach ihrem Einstandsopfer, das sie mit eigenen Händen vollziehen musste, ihre Aufnahme in die Kultgemeinde zur Folge haben. Nervös machte sie sich mit ihren Sklaven auf den Weg zum Heiligtum der Magna Mater. Glaucus trug den Käfig mit dem besonders schönen Hahn, den sie erstanden hatte, Korone das Tympanon und einen Korb mit Speisen.
Der Gallus erwartete sie, er trug das mit vielen Bändern und Amuletten geschmückte Gewand der Fanatici, wie es für den Charakter des heutigen Festes angemessen war.
"Salve, Phryne. Ich sehe, du bist gerüstet."
Er ließ sich von einem Opferhelfer den Hahn zeigen. Genau untersuchte er das Tier, ob es für das Opfer geeignet war. Dann nickte er.
Phryne half den anderen Kultgenossen beim Schmücken des Vorplatzes des Magna Mater-Tempels. Als sie damit fertig waren, begann der Gallus das Fest mit einem gesungenen Gebet an die Große Mutter und ihren Geliebten. Er wurde begleitet von einer leisen Melodie aus Cymbeln und Rasseln.
"Der Himmelsherrin, der großen Herrin,
der ersten von Himmel und Erde,
der Königin aller Götter, der überlegen starken,
deren Geheiß in den Tempeln der Welt Gewicht hat."
Der Gallus hielt inne, wog sich in der Melodie, dann setzte er zur Klage um Attis an.
"Um den Fernen erhebe ich Klage,
diese Klage ist die Klage um den Geliebten unserer Herrin,
klagend geht mein Herz nach dem Orte,
nach der Unterwelt, dem Aufenthaltsort des Hirten,
nach dem Ort, an dem der Jüngling gefesselt ist,
klagend geht mein Herz!"
Alle stimmten ein, man sang gemeinsam die Klage um Attis.
Das Fest nahm seinen Lauf. Jeder spielte ein Instrument. Zur aufpeitschenden Musik von Flöten, Tamburinen, Rasseln, Cymbala und dem Tympanon drehten sich die Mysten immer schneller im Tanz. Alles schien sich auf den einen großen Höhepunkt hin zu steigern. Die Priester teilten die Petischen aus, an deren Schnüre man scharfe Knochensplitter gebunden hatte. Manche der Teilnehmer hatten sich kleine Messer mitgebracht, mit deren Hilfe sie sich an den Armen Wunden beibrachten und das Blut fließen ließen.
Auch Phryne hatte sich in Ekstase getanzt, sie drehte sich berauscht im Kreis, griff nach der Peitsche und ließ sie auf ihren sonst doch so gepflegten Körper niedersausen. Rotes Blut verfärbte ihr buntes Gewand. Der Schmerz machte sie nur noch wilder, sie drehte sich noch schneller. Die Zurufe und das Klatschen der Kultgenossen trieben sie zu immer weiteren ekstatischen Darbietungen.
Plötzlich setzte die Musik aus. Erschöpft blieb Phryne stehen. Die sich um sie drehende Welt kam nur langsam zur Ruhe. Farben verschmolzen mit Klängen. Ein fordernder, treibender Rhythmus des Tympanon gab ihr einen Takt vor. Alles war bereit für ihr Opfer. Der Opferpriester plazierte den Hahn über dem Altar, ein anderer hielt die Kultschale, in der das Blut aufgefangen werden sollte. Mit einem auffordernden Blick rief der Gallus Phryne zum Opfer. Er reichte ihr das Opfermesser. Der Rhythmus der Tympana steigerte sich, Phryne trat vor.
Magna Mater, du Stütze der Versammlung, erhöre mein Gebet.
Stolze Königin der Götter, Höchste under dem Himmel.
Du lässt die Himmel erzittern und die Erde erbeben!
Für dich, Kybele soteria, opfere ich.
Nimm mein Opfer gnädig an und gewähre mir die Gnade
in deine Kultgemeinschaft aufgenommen zu werden,
gewähre mit die Gunst des ewigen Lebens - der vita aeterna!
Mit einer Sicherheit, die sie selbst sich am allerwenigsten zugetraut hätte, schnitt sie dem Hahn die Kehle durch und ließ sich auch durch sein Gezappel und Flügelschlagen nicht irritieren. Mit nach rechts gewandtem Blick hielt Phryne ihn über das Kultgefäß und sah zufrieden zu, wie sich sein Blut in der Schale sammelte.
Der Opferschlächter nahm ihr das tote Tier ab. Phryne hingegen goss einen Teil des Blutes über den Altar und die Statue der Göttin, den anderen Teil hielt sie über ihren Kopf und schloss die Augen während die warme Flüssigkeit sich in ihrem Haar und auf ihrem Körper verteilte. Bei den verbliebenen Resten konnten sich die Kultgenossen bedienen.
Das Lächeln des Gallus verriet Zufriedenheit. Die Musik setzte wieder ein. Phryne begann sich erneut in wilder Ekstase im Kreis zu drehen, sie wirbelte und tanzte...