Aufgeregt begab sich Phryne zum Tempelbezirk der Magna Mater. Der Gallus und die anderen Kultgenossen warteten schon. Am ersten Tag des großen Frühlingsfestes, das Canna intrat, also "das Schilf tritt auf" hieß, würde das Kultdrama um Attis und Kybele beginnen. In Rom hatte es innerhalb der Kultgemeinde eine eigene Bruderschaft gegeben, die Cannophoroi. Ihre Aufgabe war es, an diesem ersten Tag die Aussetzung des Attis in einem Binsenkörbchen nachzustellen.
In der Kultgemeinschaft von Mogontiacum gab es nicht so viele Mysten. Deshalb übernahmen sie alle gemeinsam das Schilfschneiden. Mit scharfen Messern bewaffnet machten sie sich auf den Weg zu einem Nebenarm des Rhenus, an dem hohe Schilfrohre wuchsen.
Phryne und die anderen Eingeweihten schnitten und sammelten die Schilfrohre. Anschließend verteilten sie das Schilf auf alle Teilnehmer. Unter der Führung des Gallus begannen sie singend und tanzend, die Schilfbündel vor sich her tragend in die Stadt zu laufen.
Korone schlug den Tympanon. Sie begleitete ihre Herrin. Man feierte die Auffindung des kindlichen Attis durch die Magna Mater. Glücklich hatte die Göttin das Kind aufgenommen. Die Kultgemeinde feierte sie als Mutter. Stolz und ohne Scheu bewegte sich die kleine Kultgesellschaft durch die Straßen der Stadt auf den Tempelbezirk zu. Dort schuf man mit den Schilfrohren eine Kulisse, die den Aussetzungsort des Attis am Fluss Sangarios darstellen sollte.
Normalerweise sollte nun vor dem Tempel ein Stieropfer folgen. Doch die Kultgemeinschaft Mogontiacums war zu klein und nicht finanzstark genug, um sich einen Stier leisten zu können. Obwohl Phryne einen Großteil der finanziellen Belastungen trug hatte es nur für einen Widder gereicht. Aus der Haut des geopfeten Stieres wurden üblicherweise neue Tympana gefertigt.
Das Opfer des Widders sollte der nach dem Winter brach liegenden Erde neue Fruchtbarkeit verleihen. Wie der Regen des Himmelsgottes auf den trockenen Acker der Erdgöttin fiel, so sollte das Blut des Stieres oder in diesem Fall des Widders den Boden Mogontiacums und seiner unliegenden Felder fruchtbar machen.
Gebannt verfolgte Phyne das Geschehen und beendete den Tag mit allen anderen Mysten mit einer letzten großen Mahlzeit, den Resten des Opfertieres, bevor ein siebentägiges Brotfasten beginnen sollte.