Noch ein paar Lockerungsübungen des Gesichts machte Severus, als er dann bereits als erster Redner aufgerufen wurde. Er atmete tief durch, wie es sein Rhetor ihm beigebracht hatte, trat mit selbstbewusstem Schritt auf die Rostra hinauf, blieb oben stehen und ließ seinen Blick über die versammelte Menge streifen. Natürlich erblickte er bekannte Gesicht, darunter dasjenige der Plinie, doch erwiderte er keine der freundlichen Begrüßungen. Sein Herzschlag verschnellerte sich, als er den Kaiser sah und die Kaiserei, und den Praefectus Praetorio und den Pontifex pro magistro... Sein Kopf schwirrte, doch gab es nun kein Zurück mehr. Erneut atmete tief durch und erhob die Stimme.
Hört, ihr Quiriten! Ihr Männer und Frauen von Rechtschaffenheit, Pflichtbewusstsein und Anstand! Ihr habt die Umstände gehört, unter denen Orestes getan hat, was er getan hat, und Nein!
Hier folgte bereits die erste stilistische Pause seines Vortrags.
ich leugne nicht, dass Orestes seine Hand erhoben hat. Doch stelle ich die Frage: Ist diese Anklage gegen ihn überhaupt gerechtfertigt? Oder ist sie nicht vielmehr der klägliche Versuch, die schändlichen und frevlerischen Taten der Königsmörder Aigisthos und Klytaimnästra zu vertuschen?
Mit drohender Handbewegung deutete er in die Richtung der Rostra wo der den Ankläger imaginierte, bevor er fortfuhr.
Ja, anständige Römer, betrachten wir doch erstmal diese schändliche Tat genauer. Agamemnon, ein Mann wie ein Stier, stolz, stark, wagemutig, kam siegreich aus der ruhmreichen Belagerung aus Troja zurück. Ein starker Heerführer war er für seine Armee, die die Ehre des gesamten achäischen Volkes wiederherstellen sollte. Viele berühmte Männer seiner Zeit kämpften dort an seiner Seite und fielen im Kampf, doch die Götter -
Mit einer Handbewegung nach oben unterstrich er diesen Punkt. Er selbst glaubte ja nicht so wirklich daran, aber hier ging es ja nicht darum, was er glaubte, sondern was rhetorisch erforderlich war und die Unterstützung der Götter war nunmal immer wichtig und daher besonders zu unterstreichen.
- schienen ihre Hände über ihn zu halten, der im Sinne des höheren Gutes, nicht nur der Räson seines Staates, sondern der Räson eines ganzen Volkes wegen sogar seine eigene Tochter, seine geliebte Tochter Iphigenie opferte, damit die Ehre der Achäer wiedergewonnen werden konnte. Und es fiel ihm nicht leicht, ihr guten Quiriten, die ihr alle die familiären Bande kennt und pflegt, und da kann der Ankläger noch so viel zetern, rufen und kreischen, Agamemnon selbst hat nicht nur technokratisch seiner rituellen Pflicht genüge getan, sondern ein echtes, ein persönliches Opfer geleistet zum Wohl des achäischen Volkes, das er in einen Krieg zu führen hatte.
Erneut fixierte Severus den imaginierten Ankläger, setzte dabei aber auch einen amüsierten Gesichtsausdruck auf und ließ einen ebenso spöttischen Unterton vernehmen.
Dieser Mann kehrte nun heim. Über Jahre war er von seiner Familie getrennt und was erwartete ihn dort: Eine untreue Frau! Anstatt ihrem Mann auch während der Jahre des tapferen und mannhaften Kampfes in Treue verbunden zu sein, wie es die liebliche Penelope, die Ehefrau des großen Odysseus tat und noch einige Jahr hatte tun müssen, hat sie sich bereits in ihrer moralischen Verschlagenheit und lediglich getrieben durch ihre niedrigen, rein fleischlichen Gelüste einen neuen Liebhaber, den verräterischen Aigisthos, genommen und mit diesem plante sie nun die Ermordung des Agamemnon, dem siegreichen Feldherrn und mannhaften Kämpfers. Aber natürlich stellten sie sich diesem nicht direkt, denn sie wussten, dass sie einem so siegreichen, starken und ehrenhaften Mann nicht nur in Kampfeskraft, sondern auch in der Bewunderung des Volkes unterlegen wären. Nein, das taten sie nicht, sondern sie töteten ihn hinterrücks während eines Bades, wie der Stier am Futtertroge, der nichts Böses von seiner Umgebung erwartet wird er hinterhältig gemeuchelt.
Eine weitere Pause folgte. Ja, Severus wollte, dass das Wort "gemeuchelt" sackte, dass es sich in die Köpfe der Zuhörer einschlich und dort die Grundlage für den ersten Ansatzpunkt seiner folgenden Argumentation zu bereiten.
Und nun tritt mein Klient, der bedauernswerte Orestes, auf in dieser Tragödie, aber nicht als Täter, sondern als Opfer der blutrünstigen und herrschsüchtigen Hände der verdorbenen Klytaimnästras und ihres anmaßenden Bettgenossen Aigisthos. Mit dem versuchten Mord an ihrem Sohn demaskiert sich die Tat des Mörderpaares als das, was sie wirklich war: Nicht bloß die Rache wegen der Opferung Iphigenies, sondern der Wille die Macht im Staat an sich zu reißen, indem sie nicht nur den König, sondern auch seinen rechtmäßigen Erben, meinen Klienten Orestes, zu ermorden trachten, um alle rechtmäßigen Thronerben aus dem Weg zu räumen.
Punkt Zwei seiner Argumentation war damit angesprochen und daher folgte eine weitere kurze Pause.
Orestes hatte Glück, denn ebenso wie die Götter ihre Hände während des trojanischen Feldzuges über seinen Vater gehalten haben, so schienen sie nun ihn, den neuen, den rechtmäßigen König von Mykene zu schützen, indem sie ihm die Flucht vor dem Blutdurst seiner Mutter und ihres Bettgefährten ermöglichten.
Erneut brachte Severus hier die Götter ins Spiel, denn damit stellte er Orestes nicht nur aus rechtlicher Sicht in die Nachfolger seines Vaters, sondern auch im Hinblick auf den Schutz der Götter. Nachdem des Tod des Vaters war dessen Schutz und
die göttliche Unterstützung auf Orestes übergegangen.
Einige Jahre später, nachdem er eine Erziehung genossen und selbst zu einem tapferen Mann herangewachsen ist, trifft Orestes nun seine Schwester Elektra. Sie hat nun ebenfalls erkannt, von welch verdorbenem Geist Klytaimnästra und deren Liebhaber sind und im Verständnis um das größere Wohl, das ihren Vater antrieb ruft sie ihren Bruder an, seine Pflicht zu erfüllen, seinen rechtmäßigen Platz auf dem Thron von Mykene einzunehmen und die Besatzer dieser großen Stadt ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Orestes zögert nicht. Mit einer List, die denen des großen Odysseus alle Ehre machen würde, schafft er es, Zugang zum Palast zu bekommen. Als er, als Herold verkleidet, von seinem eigenen Tod berichtet, ist die letzte Freveltat Klytaimnästra vollbracht: Nachdem sie bereits ihre Tochter, eine Knönigstochter aus dem glorreichen Haus der Atreiden, schon als Sklavin behandelt hatte, beweint sie nun nicht etwa den Tod ihres eigenen Sohns, sondern feiert ihn! Ja, ihr anständigen Quiriten, sie feiert den Tod ihres eigenen Sohnes! Orestes, bei dem nun alle Zweifel über die Motive Klytaimnästras beseitigt sind, spricht nun als einzig wahrer König Mykenes sein Urteil über die beiden Frevler! Zum Wohle des Staates und zur Rache für die Ermordung seines Vaters, dem rechtmäßigen König von Mykene, sind sie des Todes. Also tötet er beide mit seinen eigenen Händen und sorgt so dafür, dass die Gerechtigkeit in Mykene wiederhergestellt wird.
Hier war nun der Kern seiner Verteidigungsrede und gleichzeitig dessen Höhepunkt erreicht. Die Stimme des Helvetiers blieb noch stark, auch wenn er langsam merkte, dass er das ständige laute Sprechen vor solch einer Menschenmenge nicht gewohnt war, sondern vor allem in seiner kleinen Schreibstube arbeitete. Er war daher auch einigermaßen erleichtert, dass sich die Rede langsam ihrem Ende näherte.
An dieser Stelle, werte Iudices, und ehrenhafte Quiriten, lasst uns gemeinsam auf meine Ausgangsfragen schauen. Ist diese Klage gerechtfertigt? Ich bin überzeugt, dass sie es nicht ist. Orestes handelte pflichtbewusst, indem er den hinterhältigen Mord an seinem Vater, dem siegreichen Feldherrn Agamemnon, an denen rächte, die ihn begangen haben. Er handelte rechtschaffen, da er als rechtmäßiger Nachfolger seines Vaters, als König von Mykene, das Urteil über die beiden verdorbenen Verbrecher, Klytaimnestra, die durch den Mord an ihrem Ehemann, dem versuchten Mord an ihrem einzigen Sohn und der schändlichen Behandlung ihrer Tochter Elektra ihr Mutterrecht unwiederbringlich verloren hat, und ihr Bettgenossen, der schändliche, der verräterische, der anmaßende Aigisthos, sprach und nicht einmal zögerte, es auch mit seinen eigenen Händen zu vollziehen. Und schließlich handelte er anständig, denn im Gegensatz zu Klytaimnästra und ihrem Liebhaber tötete er nur diejenigen, die sich selbst eines Verbrechens schuldig gemacht haben. Andernfalls könnte der Kläger nämlich wohl kaum hier stehen und seine in allen Punkten unberechtigte Klage führen, gegen meinen Klienten Orestes. In der Tat scheint es ihm nämlich nur darum zu gehen, die schändlichen Verbrechen seines Vaters Aigisthos reinzuwaschen.
Pflichtbewusstsein, Rechtschaffenheit, Anstand. Drei wichtige römische Tugenden, und Orestes ehrte sie alle.
Ich rufe euch auf, werte Iudices, und ich rufe euch auf, ihr ehrenwerten Quiriten, unterstützt ihn nicht dabei, sondern stellt klar, wer die eigentlichen Täter, die eigentlichen Verbrecher in diesem Falle sind. Dies ist nicht der pflichtbewusste, rechtschaffene und anständige Orestes, sondern diejenigen, die er ihrer gerechten Strafe zugeführt hat!
Punkt. Erneut musste Severus tief Luftholen, ließ seine Arme sinken und trat nun einen Schritte zurück. Er hatte es geschafft und er war ganz zufrieden damit. Ob er damit auch gewinnen konnte? Das wusste er nicht, aber er wusste, dass er den Namen der Helvetii mal wieder mit einem lauten Paukenschlag in den Mittelpunkt des städtischen Interesses gestellt hatte, wenn auch nur für die Zeit, in der er die Rede gehalten hatte.