Eine kalte Hand griff nach ihrem Herzen, als die Rauchsäule ein weiteres Mal nicht aufstieg, sondern nach unten gedrückt wurde, um sie einzuhüllen. Keine Träne rollte mehr, weil alles in ihr erstarrte. Leichenblasse Haut spannte sich über eingefallene Wangen, während die Zähne leise aufeinander klapperten. Das Zittern des Körpers entzog sich ihrer Kontrolle, daher sah sie sich außerstande aufzustehen. Sie blieb am Boden und ließ einen Kälteschauer nach dem anderen über sich ergehen, unfähig sich zu rühren, oder Anweisungen zu geben. Niemand im Lararium traute sich zu sprechen, sich zu bewegen oder gar fortzugehen, um Hilfe zu holen. Zuweilen knackte die Kohle, die noch immer glühte, aber deren Wärme Serena nicht erreichte. Stattdessen kroch die Kälte des Bodens in ihren Leib.
Das Zeichen, um das sie Iuno bat, wies auf sie.
Der Blick der Kaiserin haftete am Boden, ohne die Struktur und Farbe des Materials wahrzunehmen. Gedanklich weilte sie nicht an diesem Ort, sie reiste durch ihr Leben. Als jüngste von drei Schwestern wuchs sie behütet auf. Ihre Ehe mit dem damaligen Statthalter Tiberius Severus wurde zwar arrangiert, aber sie basierte auf Respekt und Sympathie, sodass Serena gern an der Seite ihres Mannes weilte. Eines Tages wurde er zum Kaiser gewählt und ...
Ihr Atem stockte. Sie erinnerte sich an ihren Auftritt nach seiner Wahl auf dem Forum Romanum. Der Tag sollte der größte in seinem Leben werden, aber vermutlich, so gestand sie sich heute ein, beging sie zu jener Stunde bereits den erster Fehler: Sie ritt hoch zu Ross auf dem Forum ein.
Fehler im Auftreten konnten mit Unwissenheit nicht entschuldigt, aber erklärt werden, doch nur kurze Zeit später verließen Serena alle guten Geister und sie beschloss, heimlich nach Macht zu streben. Sie gab Audienzen und nahm sogar eine Klientin an. Der eigene Verstoß gegen die alten Sitten und Gebräuche paarte sich mit der Akzeptanz von Verstößen anderer Frauen. Wie selbstverständlich nahm sie es hin, dass Frauen Rittertitel trugen. Eine weitere Klientin namens Tiberia Lucia folgte und Serena scheute sich nicht, diesen Erfolg bei jeder Gelegenheit zu erwähnen, aber auch das reichte der Kaiserin noch nicht.
Wieder hielt sie den Atem an, denn es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Ihr Sohn wurde nicht aus Liebe gezeugt und auch nicht aus dem Pflichtgefühl einer römischen Frau heraus, sondern in erster Linie, um ihre Machtposition zu stärken. Ein eigenes Kind mit dem Kaiser strebte sie rastlos an und bis zur Niederkunft schienen die Götter mit ihr gewogen. Ein Sohn, ein Thronfolger kam im Leben an, die Existenz des Caesars verlor an Bedeutung. Die Einsicht, ihr Kind als Mittel zum Zweck in die Welt gesetzt und ihm damit die Zukunft genommen zu haben, rollte wie eine Lawine über sie hinweg, aber sie kam zu spät. Ihr Kind kämpfte in diesem Augenblick um sein Leben und sie traf die Schuld!
Sie wollte die ernüchternde Reise in die Vergangenheit abbrechen, aber etwas hielt sie zurück. Ein Gewicht beschwerte sie, blähte sich in ihrem Innern auf, kroch aus dem Bauch nach oben und hielt fortan die Lunge besetzt. Sie konnte kaum noch atmen. Die Schwester der Schuld, die Scham, bemächtigte sich ihrer. Der letzte ihrer vielen Fehltritte lag bis heute tief in ihrer Erinnerung versteckt. Sie bemühte sich sehr, nicht mehr an die Reise nach Germanien zu denken, doch der Mantel des Vergessens taugte nicht mehr. Es wäre ein Leichtes, die Schuld dieser Aglaia zuzuschieben, aber versagt hatte sie und sie ekelte sich dafür.
Wäre sie doch bloß früher mit sich ins Gericht gegangen, dann läge ihr kleiner Sohn nicht im Krankenbett, sondern spielte in der Sonne. Sie wurde bestraft, weil sie nicht von allein den Weg zurück in die Anständigkeit fand und der Preis dafür zählte nicht einmal vier Jahre.