Serenas Blick hing wie gebannt auf dem Antlitz ihres Gatten. Sie hörte zu, verarbeitete, aber im Entschluss schwankte sie.
'Siehst du!' Triumphierend meldete sich das alte Ich zu Wort. 'Ich habe dir gesagt, dass du nichts ändern musst!' Es schien Serena verlockend, den gewohnten Weg weiterzugehen. Tiberius lieferte sogar überzeugende Argumente, denn anscheinend stellten Klienten keine Neuerung dar.
Das neue Ich gab sich nicht geschlagen. Mahnend wisperte es: 'Hast du denn schon wieder alles vergessen?' Serena zuckte zusammen. Wie sollte sie die Erlebnisse im Lararium vergessen? Sie hatte die Göttin gespürt, ohne sich selbst für verrückt zu halten. Hin und her gerissen beschloss sie, die Angelegenheit weiter auszuleuchten.
"Du punktest mit Fakten, ich habe nur ein Gefühl." Nach dem Eingeständnis ihrer mageren Argumente fühlte sie sich nicht erleichtert, dabei müsste sie es sein, denn alles sprach für Tiberius' Ansicht. Stattdessen wuchsen Zweifel.
"Wie sah es denn vor Divus Iulianus aus? Bei Ihm gab es doch die Senatorinnen." Insofern schien seine Regierungszeit wenig geeignet, um sie zum Vorbild zu nehmen. Nachfolgende Kaiser hielten es ähnlich bei den Klientinnen, sagte Severus, allerdings nicht mit den weiblichen Senatoren, was vielleicht einen Trend einläutete.
Plötzlich fiel Serena ein, sie durfte gar nicht wanken, denn zu Beginn der Cena schloss sie den Pakt mit Iuno. Es galt, Tiberius zu gewinnen, und erst jetzt fühlte sie sich erleichtert.
Eine beruhigende Erklärung, warum ein Christ ihre erste Klientin tötete, ohne dass Iuno richtete, fiel ihn nicht spontan ein. Sie würde darüber nachdenken müssen. Sie könnte auch die Vestalinnen besuchen, um deren Einschätzung zu erfragen.
Als Severus auf ihre Frage, wie sie ihm gefiel, antwortete, schaltete Serena alle anderen Gedanken ab. Sie wollte nichts missverstehen und nichts überhören, denn sein Wunschbild musste in ihr Selbstbild passen. Sie lächelte, weil er ihr ein gutes Gefühl gab, trotz der vielen Fehler. Er bezeichnete sie als unkonventionell, was sich nicht schlimm anhörte. Wenn er sie nie als geschmacklos empfand, konnte sie ihn bisher auch nicht enttäuscht haben, so schlussfolgerte sie. Serenas Erleichterung folgten prompt neue Sorgen. Was, wenn ihm nur die alte Serena gefiel, nicht aber die neue?
Sein eindringlicher Blick ließ ihren Atem stocken. Ein kleines Mädchen war sie freilich nicht, nur aktuell verunsichert und auf der Suche nach Orientierung. Sie sah ein, dass sie nicht dauerhaft auf ihrem Zimmer bleiben konnte und die Öffentlichkeit mied. Respekt würde sie sich verschaffen können, daran zweifelte sie nicht, aber noch trug sie Trauer, noch fehlte ihr die Kraft. Ihr Blick folgte seiner Hand und sie sah aus dem Fenster. Das Capitolium erstrahlte im Sonnenlicht des Herbstes. In Gedanken sah sie die Ränge gefüllt, spürte die Luft vibrieren und hörte Getose. Rom pulste weiter, ungeachtet der Tatsache, dass das Leben um ihren kleinen Jungen zum Stillstand gekommen war. Ein Stillstand, der sie mit erfasste.
Sie riss den Blick los und erforschte Tiberius' Augen, bevor sie eine Bitte äußerte.
"Gib mir noch etwas Zeit zum trauern. Ich bin nicht so stark wie du." Insgeheim zweifelte sie, aus dem Tal der Trauer je herauszufinden, aber funktionieren musste sie.