Mit einem feinen Lächeln hatte der Optio Marius Musca Chrysogonas Zustimmung hingenommen. Er hatte wohl längst geahnt, dass die ehrgeizige Medica sich diese Chance nicht entgehen lassen würde.
Am selben Tag noch hatte Chrysogona den Archiatros des Asklepieions Gaius Stertius Tychicus von dem Angebot aus Rom und ihrer Entscheidung informiert. Tychicus schien nicht überrascht zu sein, wohl aber traurig, eine seiner fähigsten Mitarbeiterinnen zu verlieren. Er versprach ihr, dass sie jederzeit willkommen wäre, falls sie die Gunst des Kaisers nicht erlangen oder wieder verlieren würde. Dankbar hatte Chrysogona dieses Versprechen gehört, denn es stand schließlich noch in den Sternen, ob sie den Imperator von ihren Fähigkeiten überzeugen können würde.
Am darauffolgenden Morgen stand Chrysogona mit ihrem Assistenten Kairos in dem Behandlungsraum, den sie in den vergangenen Jahren ihr Eigen hatte nennen dürfen und packte. Sechs verschieden große bronzene Schröpfköpfe wurden in einer Kiste verstaut, desweiteren diverse Gefäße mit Heilmitteln von denen Chrysogona annahm, dass sie in Rom nicht so einfach aufzutreiben sein würden.
Mit sanfter Hand strich sie über das hölzerne Kästchen, das ihre Instrumente enthielt. In zwei übereinander angeordneten kleinen Schubfächern, waren die Skalpelle, Knochenheber, Spatel und Sonden, Pinzetten und Ohrlöffelchen in jeweils passende Aussparungen einsortiert. Die Klingen waren austauschbar, die Griffe der Instrumente edel verziert mit Tauschierungen in Form einer Schlange. Das Instrumentenkästchen und sein Inhalt waren ein Geschenk ihres Vaters gewesen, als er sie vor Jahren ans Asklepieion von Kos schickte.
Chrysogona reichte Kairos das Kästchen. Sie lächelte.
"Du wirst mir fehlen Kairos. Ich hatte nie zuvor einen so fähigen Helfer wie dich. Mein Nachfolger darf sich glücklich schätzen."
Die Medica reichte dem Sohn eines Olivenbauern beide Hände und drückte seine. Es fiel ihr schwer, Abschied von Kos zu nehmen. Abrupt riss sie sich los und drehte Kairos den Rücken zu. Sie bewegte sich auf die weit geöffnet Tür zu, die den herrlichen Ausblick auf das Meer freigab.
"Du kannst die Sachen zum Hafen hinunter bringen. Ich werde gleich nachkommen."
Während ihr Assistent die Kiste mit Instrumenten und Heilmitteln auf einen Wagen lud, auf dem auch schon eine Reisetruhe mit Chrysogonas Kleidung Platz gefunden hatte, schritt die Medica ein letztes Mal die Stufen zur obersten Terrasse des Heiligtums hinauf und betrat den Tempel des Asklepios. Nachdenklich ging sie an all den Weihgaben und Votivtafeln vorbei und versuchte sich den Anblick einzuprägen, damit er auch in der Fremde bei ihr blieb.
Dann wandte sie sich zum Gehen, ließ Tempel und Abaton hinter sich, ebenso die Tempel der mittleren Terrasse. Vor dem Tor des Heiligtums auf der untersten Ebene hatten sich die Kollegen versammelt, um Chrysogona zu verabschieden. Die Medica war kein gefühlsbetonter Mensch, doch konnte sie sich in diesem Augenblick einer gewissen Sentimentalität nicht erwehren. Sie umarmte und schüttelte Hände. Gute Wünsche und weise Ratschläge vermischten sich mit Scherzen und Sticheleien. Da musste sogar die ernste Medica grinsen. Sie sprach einen letzten Dank an den Archiatros Tychicus aus und verprach bald zu schreiben. Dann wandte sie sich ab, durchquerte das Tor und lief zum Hafen hinunter.