Beiträge von Cossus Malleus

    Dass es mühsam werden würde, war Malleus von vornherein klar gewesen. Dagegen war auch nichts einzuwenden. Wer die Mühsal scheute, musste eben zuhause bleiben und sich den schlaffen Hintern am Herdfeuer wärmen. Sorgen hatte er sich anfangs lediglich um Procella gemacht, aber Publius’ Dreijährige schlug sich mehr als wacker. Die Entscheidung, den betagten Funkan im Stall zu lassen und stattdessen der zunehmend unruhigen Stute die notwenige Bewegung zu verschaffen, war also die richtige gewesen. Trotzdem befanden sie sich nicht gerade auf einem unbeschwerten Spazierritt. Von der Brücke bis zur ersten Weggabelung war es noch relativ zügig voran gegangen. Bis dorthin hatten die Baueinheiten der Zweiten Legion eine Schneise in den Schnee geschaufelt, die zumindest breit genug war, um Patrouillen und schmalen Fuhrwerken ein Durchkommen zu ermöglichen. Östlich der Gabelung jedoch markierte nur noch eine dünne Linie aus überwehten Spuren den Weg, der im Grunde gar keiner mehr war. Im Sommer hätte Malleus für die Strecke vom Rhenus bis zu seinem einstigen Heimatdorf selbst auf einem trägen Karrrengaul keine zwei Stunden gebraucht. Der germanische Winter aber war die Zeit der Götter, nicht die der Menschen. Allein Wodan zog in den dunklen Monden ungehindert über Land. Die Sterblichen, die es ihm gleich tun wollten, ob nun fürwitzige Römer oder gelangweilte Starrköpfe wie Malleus, lieferten sich auf Gedeih und Verderb den Launen des einäugigen Wanderers aus. Nicht in Kälte und Schnee zeigte sich dessen Unwille, dagegen konnte man sich wappnen. Auch nicht in der Gestalt von Wölfen oder von ihren Stämmen verstoßenen Wegelagerern, dagegen konnte man sich verteidigenden. Um Reisende ins Verderben zu stürzen, bediente er sich subtileren Mitteln: Dem Leichtsinn, der Selbstüberschätzung und der Unaufmerksamkeit des Reisenden selbst. Sich dessen völlig bewusst, hielt Malleus die Zügel locker, trieb die Stute nur selten an, und ließ sie ansonsten ihren eigenen Instinkten folgen. Sie hatten Zeit. Wenn nötig bis zur Abenddämmerung. Ein plötzlicher Schneesturm war nicht zu befürchten. Nicht an diesem klirrend kalten Tag. Das sagte ihm zum einen der kristallklare Morgenhimmel, zum anderen die lange Narbe am rechten Bein, die jeden Wetterwechsel zuverlässig mit stechenden Schmerzen anzukündigen pflegte. Keinerlei Schmerzen heute. Das war erfreulich, denn so irre war nicht einmal er, sich bei ungewisser Wetterlage auf den Weg durch die Schneemassen zu machen. Zumal aus purer Langeweile. Weil ihm im engen überheizten Haus seines Bruders Sebald die Decke auf den Kopf fiel.


    „Wara, Procella. Sachte, sachte..“redete Malleus mit ruhiger Stimme auf die temperamentvolle Stute ein, während er sie mit einem sanften Schenkeldruck dazu brachte, sich von den alten Hufspuren fern zu halten. Diese vereisten Löcher waren tückisch. All zu schnell konnte sich ein aufgeschrecktes Pferd darin die Fesseln aufreißen oder gar die Vorderhand brechen. Procella schien zwar gute Nerven zu haben, nichtsdestotrotz war es sicherer, sich neben den Spuren durch den Schnee zu arbeiten. Vor Anhöhen, Schneewehen und verdächtigen Mulden stieg Malleus aus dem Sattel und ging der Stute voran, die Zügel in der Linken und einen langen Eichenholzstab, mit dem er Beschaffenheit und Tiefe des Schnees prüfte, in der Rechten. Keine Hast. Keine Eile. Nach jedem kräftezehrenden Anstieg, nach jedem durchquerten Tiefschneefeld machte Malleus eine Verschnaufpause, rieb Procella mit einem Wolltuch ab und betrachtete die Umgebung. Sebalds ohnehin recht vage Wegbeschreibung erwies sich als völlig unnütz. Offensichtlich war er selbst seit vielen Jahren nicht mehr hier gewesen. Das Land östlich des Rhenus war mit den Jahrzehnten ein anderes geworden. Die schneebedeckten Felder nahmen kein Ende. Wo sich einst lichte Laubwälder dem Fluss bis auf einen breiten Uferstreifen genähert hatten, dehnten sich nun gerodete Flächen meilenweit gen Osten aus. Wo einmal schattenspendende Baumgruppen als Wegmarken gedient hatten, säumten wilde Hecken und niedere Sträucher den Pfad. Kleine Höfe duckten sich auf flachen Hügeln zusammen, wo es früher nichts als Gestrüpp gegeben hatte. Die verwandelte Landschaft unter dem dichten Schneemantel machte die Orientierung nicht eben einfach. Malleus blieb gelassen. So lange die fernen Höhen des Tauno ihre Formation beibehielten und so lange die Sonne noch nach Westen zog, würde er sich hier zurechtfinden. Außerdem war da noch der Quellbach. Der entsprang am Hang hinter dem Dorf und grub sich bis hinunter zum Rhenus. Wenn Malleus die zurückgelegte Strecke auch nur einigermaßen richtig einschätzte, konnten sie den Bach nicht verfehlen. Und sie verfehlten ihn auch nicht.

    Das bohrende Stechen, das Malleus beim Eintauchen ins Kaltwasserbecken durchzuckte, vermochte das erfrischende Vergnügen nicht nachhaltig zu trüben. Das kannte er bereits. Dieser Schmerz war ein alter Vertrauter, der ihn in unregelmäßigen Abständen immer wieder heimsuchte, sich vom linkem Ohr über den Hals bis zwischen die Schulterblätter fraß, um nach einer überschaubaren Zeit des Wütens schließlich seiner Gefährtin, der Taubheit, Platz zu machen. Ein Andenken an Moesia. Bemüht um möglichst tiefe gleichmäßige Atemzüge und jede unnötige Bewegung vermeidend ließ sich Malleus vom hüfttiefen Wasser umspülen. Abwarten. Er brauchte nur abzuwarten. Genau das tat er, und wie gewohnt zog nach einiger Zeit ein eisiges Prickeln über die linke Seite seines Oberkörpers. Sein Widersacher war wieder einmal weitergezogen. Auf unbestimmte Zeit. Bis zum nächsten Besuch. Befreit schnaubend begann Malleus mit den Armen zu rudern. Nach dem dumpfen Köcheln im Caldarium fühlte sich das erquickend kalte Wasser an, als hätte ihn das Leben selbst mit einer saftigen Ohrfeige aus trüben Träumen gerissen. Eine Erfahrung allerdings, die ihm ein Sprung in den Rhenus ebenso hätte verschaffen können, und das sogar völlig kostenlos. Beim diesem verlockenden Bild fiel ihm plötzlich wieder ein, dass er im dichten Schneegestöber hierher gekommen war. Damit hatten sich die geplanten Leibesübungen auf der Palaestra erledigt. Wie lange war überhaupt schon hier? Das musste man den Thermen lassen, ein ausgedehnter Badeaufenthalt konnte einen leicht Zeit und Ort vergessen lassen.


    Er sah sich um. Auch im Frigidarium hielten sich nur wenige Besucher auf, gerade einmal eine Handvoll, was angesichts des jähen Wintereinbruches nicht verwunderlich war. Die meisten Bürger hatten bei diesem Wetter sicher Wichtigeres zu tun; den Zugang zu ihren Häusern vom Neuschnee befreien zum Beispiel, die Dächer abdichten, sich mit Brennstoff eindecken, das Vieh in in die Ställe treiben und so. Das Vieh! Malleus schoß aus dem Wasser wie eine Forelle vor dem Regen. Verflucht! Die Pferde! Er hatte seinen Hengst und Cascas Stute vor einigen Tagen im Stabulum des mit Sebald befreundeten Schweinezüchters Bulbus untergebracht, dessen Anwesen den Pferden genügend Freifläche bot um sich anständig die Beine zu vertreten. Fragte sich nur, ob der Hausherr Funkan und Procella beim ersten Frost rechtzeitig ins Warme gebracht oder erst seine zahlreichen Säue zusammengetrieben hatte. Mit zornroten Ohren stemmte sich Malleus aus dem Becken, schnappte sich Tuch und Latschen, und stapfte ohne sich abzutrocknen eilig dem Apoditerium zu. Mochten Bulbus’ Götter ihm gnädig sein, wenn die Pferde nicht wohlauf waren.

    Ewigkeiten ließ er sich so treiben. Den Körper bis zum Hals im heißen Wasser, den Kopf angelehnt an die glatten Kacheln des Beckenrandes. Regungslos vernahm er das Knistern der Barthaare, die ihm mit Macht aus dem Gesicht drangen wie unzählige Midgardschlangen, spürte wie sein Atem verflachte und sein graues Haar allmählich weiß wurde. Aufgestachelt von der Wärme des Wassers begannen seine Narben zu pulsieren. Seine Beine fühlten sich an wie aus Wurzelholz geschnitzt, die alte Wunde an seinem Hals schwoll an, wucherte, drückte ihm die Luft ab. Das Blut hämmerte ihm in den Ohren, immer lauter, bis es jäh verstummte und einem monotonen Singsang wich, der aus Hunderten von Kehlen aufstieg und verheißungsvoll durch den Dampf waberte. Einige Stimmen waren ihm vertraut, auch wenn er ein paar davon vor vielen Jahren zum letzten Mal vernommen hatte. Spielgefährten aus Kindheitstagen lockten ihn, Kameraden, Freunde, einstige Liebschaften. Helle Stimmen. Dunkle Stimmen. Das raue Krächzen seines Freundes Blaesus, die nasale Kopfstimme seines Onkels Uland, der trockene Bass seines Vaters Harduin, das lichte Glucksen Lykkes, seiner Mutter. Harte Stimmen. Weiche Stimmen. Bittere und süße Stimmen. Über all diesen Stimmen wurde plötzlich das Schlagen gewaltiger Flügel laut. Ein eisiger Wind erhob sich, zog ihn an, trug ihn aus dem Becken. Dann hatte er plötzlich Wasser in der Nase und fuhr prustend hoch.


    Gedämpfte Unterhaltungen hallten von den Wänden des Caldariums wider, keine getragenen Gesänge. Nicht Odin’s Raben waren über dem Becken erschienen, sondern nur zwei harmlos wirkende Männer, Badegäste, die sich nun ebenfalls im heißen Wasser räkelten. Er hätte es wissen müssen. Jedes Mal das gleiche! fluchte er in sich hinein. Kaum saß er in dieser dampfenden römischen Pisse, weichte sie ihm auch schon das Hirn auf und schläferte ihn ein. Grundsätzlich hatte er gegen ein Schläfchen gar nichts einzuwenden, zumal nach einer Nacht wie der vorangegangenen, wären da nicht immer diese wirren Traumgespinste. Raben, Stimmen, Ahnungen, solchen und ähnlichen Mist träumte er oft in letzter Zeit.
    Schnaubend tauchte Malleus ein letztes Mal unter und erhob sich dann. Eigentlich fühlte er sich schon mehr als ausreichend gewässert, das reichte für die nächsten Paardutzend Tage. Andererseits hatte er dem stummen Idioten am Eingang eine ganze Sesterze hingeworfen. Ziemlich viel Geld für einen dumpfen Tagtraum und einen halben Becher eingeatmetes Badewasser. Da musste noch mehr drin sein. Eine Sesterze blieb eine Sesterze, es kam nur drauf an, was man draus machte. Erstmal wieder zu sich kommen im Tepidarium, dann einen erfrischenden Sprung ins Kaltwasserbecken, vielleicht eine anschließende Massage oder besser noch, etwas körperliche Betätigung auf der Palaestra, wenn die hier so was hatten. Und dann, möglicherweise, wenn er Lust dazu hatte, das Ganze nochmal von vorn. Grinsend fasste er den Vorsatz, noch das letzte Granum an Gegenwert aus der geopferten Sesterze herausquetschen. Luitberga würde auch am Abend noch rossig sein. Auf dieses Prachtweib war Verlass, die war immer rossig.


    Umschmeichelt von warmen Gedanken schwang sich Malleus aus dem Becken und griff nach dem geliehenen Wolltuch. Unter seinen Fußsohlen begann es sofort zu zischen, der Schmerz hingegen kam erst mit kurzer Verzögerung. „Scheißdreck!“ entfuhr es ihm gepresst, während er auf den heißen Bodenkacheln herum tänzelte, um die beiden ebenfalls geliehenen und achtlos hingeworfenen Holzlatschen einzusammeln. Auch das widerfuhr ihm so gut, wie jedes Mal, wenn er eine Therme beehrte. Eine Sesterze für einen miesen Traum, eine Nase voll Wasser und angesengte Füße, resümierte er finster, schlüpfte in die Schuhe, die ihm viel zu klein waren, und schlurfte schließlich brummend auf den nächsten Durchgang zu, nicht ohne den beiden Plaudertaschen im Heißwasserbecken noch einen mürrischen Blick zuzuwerfen, als trügen sie die Schuld an seiner Zerstreutheit.

    Nachdem er auf dem Forum ein webneues Kleidungsstück erworben hatte, marschierte Malleus zielstrebig auf den beeindruckenden Thermenkomplex zu, den es zu Zeiten seiner Jugend noch nicht gegeben hatte. Gestiftet und erbaut von Medicus Germanicus Avarus, stand da auf einem Bronzeschild über der Porta, zu Ehren des Imperator Caesar Augustus Divus Iulianus. Das war offensichtlich schon eine Weile her.
    Im Eingangsbereich stieß er auf ein neues Schild. Eine Sesterze Eintritt? Er hatte eigentlich angenommen, der Bau sei bereits bezahlt. Das war wirklich allerhand. In seinen Stammthermen in Rom und Ostia hatte er nie auch nur ein As hinlegen müssen. Am liebsten hätte Malleus auf dem Absatz kehrt gemacht, aber seine müffelnde Tunika hatte bereits zu trocknen begonnen und pappte ihm nun unangenehm eng am Körper.


    Schnaubend fischte er eine Münze aus seinem Beutel und ließ sie in das Holzkästchen des Kassierers fallen. „Eine Sesterze. Ihr spinnt doch. Ich will das Wasser ja nicht mitnehmen.“ Der Kassierer schien Kummer gewohnt und blieb stumm. Besser so, dachte Malleus, und stapfte grummelnd in den Gang zum Apoditerium.


    Sim-Off:

    Murrend überwiesen. :)

    Mit geschlossenen Augen lauschte Malleus einem tiefen wohligen Stöhnen, das wie aus weiter Ferne dumpf und lang gezogen über das heiße Wasser hallte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er das selbst, denn als er die Augen zuletzt geöffnet hatte, war er alleine im Becken gewesen, und das durfte auch gerne noch ein Weilchen so bleiben. Es gab eben Genüsse, denen man sich am besten alleine hingab, ein Bad im Heißwasserbecken zählte zweifellos dazu. Es war ja nicht so, dass er dieser römischen Leidenschaft überhaupt nichts abgewinnen konnte, allerdings fand er, dass es die Romani damit maßlos übertrieben. Er kannte eine Menge Leute – und Publius war auch einer von der Sorte – die, wenn es ihnen möglich war, jeden einzelnen Tag in die Thermen rannten. Jahrein, jahraus. Sommer wie Winter. Egal, ob sie dreckig waren oder nicht. Das konnte der Gesundheit auf Dauer nicht zuträglich sein. Wer wie er in einem rauchigen zugigen Langhaus geboren war und schon in der Kindheit Winter erlebt hatte, in denen der Rhenus sich nur noch eine schmale dampfende Rinne durch die Eisbänke hatte fressen können, durfte sich den Luxus nicht leisten, auf die zusätzlich wärmende Schicht aus klebrigen Schweiß und fettigem Schmutz zu verzichten. Aber davon verstanden die Römer nichts. Die schrubbten sich fast die Haut von den Knochen, schlotterten sich dann aber durch die germanischen Winter wie frisch geschorene Wollschafe. Alles mit Maß und Ziel.


    Er selbst hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Thermen immer um die Kalenden herum aufzusuchen. Grundsätzlich. Ohne Ausnahme. Da war er eisern. Insofern traf es sich ganz gut, dass ihm das Missgeschick mit dem Urinbecken und der versauten Tunika gerade heute passiert war. Er war, was die Körperreinigung betraf, ohnehin im Verzug. Auch ein Grund, seinen Tagen endlich wieder Struktur zu verleihen. Die ersten Schritte waren immerhin getan. Im Apoditerium harrte eine neu erworbene Wolltunika in gefälligem Schiefergrau seiner Rückkehr. Mit dem besudelten Exemplar hatte er einen Sklaven zum nächsten Fullo geschickt, wo der angetrocknete Urin irrsinnigerweise mit flüssigem Urin entfernt werden würde. Seine verspannten Schultermuskeln waren gelockert, sein Schädel wieder klar und auf Normalgröße zusammengeschnurrt, alles in Ordnung. Alles eine Frage der Organisation. Malleus erlaubte sich ein weiteres gedehntes Stöhnen. Schade, dass Luitberga dieses Erlebnis nicht mit ihm teilen konnte. Geschadet hätte es ihr keinesfalls. Sie war ein prächtiges Weib, ohne Frage, nur wusch sie sich nach seinem Dafürhalten etwas zu selten.

    Nach etwa einer Viertelmeile Fußmarsches durch die weiß bestäubten Gassen konnte Malleus den stechenden Mief, der ihn umwehte, nicht länger ignorieren. Bei den Asen, er stank wie ein Hermelin. Seine Tunika hatte stundenlang Zeit gehabt, sich mit den flüssigen Ausscheidungen von wer weiß wievielen Stadtbewohnern vollzusaugen und dünstete nun unter dem gerafften Mantel hervor wie ein Kübel ungewässerter Schweinskaldaunen. So ging das nicht, oder? So konnte er Luitberga nicht unter die Nasenflügel treten. Schlimmstenfalls würde sie dasselbe von ihm denken wie das angewidert glotzende Volk, das ihm auf seinem Marsch begegnete: Sieh da, ein verkommener alter Schluckspecht, der das Wasser nicht mehr halten kann. Also was?
    Knurrend blieb Malleus stehen und schubberte sich nachdenklich den Bart. Doch erstmal zum Haus seines Bruders Sebald, um sich ätzende Kommentare anzuhören? Keine verlockende Vorstellung. Auf dem Markt eine neue Tunika erwerben? Wozu? Die alte war ja noch gut. Außerdem war ihm das ölige Nass inzwischen tief in die Brusthaare gekrochen, eine frische Tunika vermochte da nur kurzzeitig Wirkung zu entfalten. Es konnte es drehen und wenden wie er wollte, am Besuch eine Therme führte wohl kein Weg vorbei. Dabei war er alles andere als ein leidenschaftlicher Thermengänger. Meist schlief er schon im Caldarium ein und überhaupt war er in all den Jahren nie so recht dahinter gekommen, was die Römer daran fanden, sich gefühlte Ewigkeiten in diesen gemauerten Tümpeln zu suhlen, bis ihnen Gräten zu wachsen drohten.


    Wie auch immer, hier im Schneegestöber herum zu lungern, brachte ihn auch nicht weiter. Zum einen stand er den geschäftigen Passanten im Weg, zum anderen wurde die nasse Tunika in der Kälte langsam steif, was zwar den Gestank dämpfte, sich aber aber äußerst negativ auf den Tragekomfort auswirkte. Also schön. In die Therme. Aber was dann? Frisch gereinigt und duftend wie ein Säugling wieder in die harngetränkte Tunika schlüpfen? Närrischer Plan. Donnerkeil, das Leben konnte aber auch kompliziert sein, wenn man nichts anständiges zu tun hatte! Genau das war war sein Problem, ging ihm auf, während er sich an naserümpfenden Bürgern vorbei wieder in Bewegung setzte. Er hatte keine Aufgabe mehr. Exakt. Das war der Punkt. Seit sein neunmalkluger Schützling und - nun gut - wohl auch Freund Publius in die Reihen der Legion entschwunden war, wusste Malleus nichts mehr mit sich anzufangen. Seine Investition in Sebalds Betrieb war zwar mehr oder weniger dankbar entgegen genommen worden und würde gewiss auch Früchte tragen, eine sinnvolle Beschäftigung konnte sein Bruder ihm aber auch nicht anbieten. So hatte er sich die Heimkehr nicht vorgestellt. Ohne eine ihm würdige Aufgabe würde er hier alsbald völlig verblöden.


    Mit finsterem Blick schob sich Malleus durch die Menge. Das ziellose Treiben würde jetzt ein Ende haben. Eine vernünftige Strategie musste her. Im Grunde lag es doch auf der Hand. Er brauchte seine Sinne nur einmal richtig zusammen zu nehmen: Erst eine Tunika kaufen und dann in die Therme. Was bitte war daran kompliziert? Seine Laune besserte sich mit jedem Passanten, den er zur Seite rempelte. Er war schließlich nicht irgendein Tagedieb. Er war Cossus Malleus, Sohn des aufrechten Harduin, Nachkomme des wackeren Grimmbald von den Mattiakern! Er hatte für das Reich weit mehr getan als die meisten dieser fischhäutigen Neurömer, die sich mit ihren modischen Mäntelchen theatralisch Luft zufächelten, wenn sie an ihm vorbei trippelten.


    „Stinkt gewaltig, was?“ blaffte er den nächstbesten Vertreter dieser verweichlichten Spezies an. „Komm du erstmal in mein Alter! Dann leckst du auch aus allen Öffnungen! Spado!“ Doch, es war ein äußerst heiter stimmendes Gefühl, einer brauchbaren Strategie zu folgen. Markt. Therme. Luitberga. So würde das heute laufen, so und nicht anders.

    Malleus war gewiss kein Liebhaber alberner Wortspiele. Gleichwohl kamen ihm mehrere in den Sinn, als er sich brummend auf den Rücken drehte und in einen dichten Flockenwirbel blinzelte: Der Winter hatte ihn eiskalt erwischt. Mit herunter gelassenen Hosen. Auf dem falschen Bein. Letzterer Vergleich, das musste er zugeben, hinkte gewaltig, denn er stand nicht, sondern lag der Länge nach ausgestreckt zwischen zwei dunklen Balkenwänden, in einem Haufen länglicher Tonscherben, die trotz des jähen Frostes durchdringend nach Pisse stanken. Seine Hose, stellte er nach einem tastenden Handgriff fest, hing ihm tatsächlich in den Kniekehlen, die Tunika war über den Bauch hochgezogen, nur der dicke Mantel hatte ihn vermutlich davor bewahrt, sich im wahrsten Wortsinn den Arsch abzufrieren. Die Frage, wie er hierher gekommen war, brauchte er sich nicht zu stellen. Da erstens kein Gaul herumstand und er zweitens das angenehme Gewicht seines Geldbeutels an der Hüfte spürte, stand außer Zweifel, dass er zu Fuß und aus freien Stücken in diesem engen Durchgang gelandet war. Nur war ihm noch nicht ganz klar, was er hier gewollt hatte und wieso seine Kleidung derart verrutscht war. Das musste unverzüglich in Ordnung gebracht werden.


    Nachdem er Hose und Tunika wieder an ihren Platz gefingert hatte, gönnte sich Malleus ein paar Momente der Besinnlichkeit. Seine Zungenspitze fuhr genüsslich über den glitzernden Bart, nahm mit einem wohligen Zucken die schmelzenden Flocken auf. Schneeflocken. Viele Schneeflocken. Dicht fallende große körnige Schneeflocken. Wann hatte er Flocken dieser Größe und Konsistenz zum letzten mal gekostet? Vor acht Wintern war das wohl gewesen. Bei Forum Iulii. An den Hängen der Alpes Iuliae. Verdammt lange her. Erinnerungen. Erinnerungen machten ja weise, wie man so sagte, letztendlich aber machten sie vor allem eines: Alt. Schon möglich, dass es sich für einen Kerl seines Alters nicht mehr ziemte, am hellen Vormittag in einer Urinpfütze zu liegen und Schneelflocken zu lutschen, aber darauf, was sich ziemte oder nicht, hatte er noch nie viel gegeben. Außerdem war er nicht alt, er fühlte sich nur manchmal so. In jedem alten Soldaten steckt noch eine gute Schlacht! sagte er sich grinsend und stemmte sich endlich auf die Beine. Oder zwei. Oder ein ganzer Feldzug. Er mochte vielleicht nicht mehr der Schnellste sein, aber verglichen mit seinen meist träge gewordenen, oft aufgedunsenen Altersgenossen war er er noch immer eine blank geschliffene Klinge, in jeder Beziehung. Nur mit dem Erinnerungsvermögen haperte es bisweilen.


    Grübelnd starrte er auf die langsam unter der Schneedecke verschwindenden Scherben. Eine Amphore war das nicht, eher etwas breiteres, eine Art Tonfass. Der Gestank brachte ihn schließlich darauf. Aber natürlich, das war einmal das Sammelgefäß eines Tuchwalkers gewesen. Diese erste Erkenntnis zündete eine Flamme in seinem Brummschädel, in deren Licht sich die Erinnerungsfragmente allmählich wieder zu einem Bild zusammenfügten. Ach ja, richtig. Die Taberna zum Eberkopf. Gesellige Veteranen. Ausgelassene Stimmung. Heißer Würzwein. Verflucht viel heißer Würzwein, um genau zu sein. Dann der Heimweg im dichten Nebel. Seine penetrant drückende Blase. Ein geradezu perfekt platziertes Urinbecken. Der Rest war dann wohl das Ergebnis aus vom Suff bedingten Gleichgewichtsstörungen und lähmender Müdigkeit. Eine jener Nächte eben, die ab und an einfach sein mussten. Dass er seit seiner Heimkehr vor ein paar Tagen ausschließlich solche Nächte verlebt hatte, beunruhigte ihn nicht weiter. Die Anzahl der Tabernae in Mogontiacum war nicht unendlich, wenn er alle durch hatte, konnte er immer noch früh schlafen gehen. Oder von vorn anfangen. Das würde er dann situativ entscheiden.


    Jetzt brauchte er erstmal was zu beißen. Da es für ein bescheidenes Ientaculum bei seinem geizigen Bruder ohnehin bereits zu spät am Tage war, schlug Malleus sich voll Vorfreude den Mantel hoch und stapfte durch den weich knirschenden Neuschnee davon. In Richtung Silva Nigra. Sicher war Luitberga bereits bei der Arbeit. Die würde sich bestimmt freuen. Zumindest, wenn sie sich von seinem letzten Besuch schon erholt hatte.