Beiträge von Cossus Malleus

    Malleus' Miene verfinsterte sich. Der duccische Pontifex war hier gewesen? Entgegen aller Gebote des Notfallplanes? Konnte es sein, dass der ansonsten so zuverlässige Makedone völlig den Verstand verloren hatte? Irgendwelche neugierigen Würdenträger hier rein zu lassen! Zu diesem Zeitpunkt! In dieser Situation! Schon saugte der alarmierte Custos alle verfügbare Luft für einen geharnischten Anschiss zusammen, da ging ihm plötzlich ein Licht auf. Ziemlich spät, wie er sich beschämt eingestehen musste. Pontifex Duccius Verus war Silvana’s Vater und Curio damit dessen Gener. In offizieller Mission war der Pontifex also sicher nicht hergekommen. So schnell Malleu’s Jähzorn aufgebrandet war, verebbte er auch wieder. Mit Acanthos’ Verstand war alles in bester Ordnung. Wenn hier jemand Probleme damit hatte, klar zu denken, dann er selbst.


    Anstatt den Scriba anzuschnauzen, nickte Malleus ihm respektvoll zu. Es konnte nur von Vorteil sein, die Duccier auf seiner Seite zu haben. Auf Acanthos’ wohl eher rhetorisch gemeinte Frage nach dem wirklichen Motiv des Anschlags hatte er nicht viel mehr als ein Achselzucken zu erwidern. „Wenn ich das wüsste ...“ Eine Drohgebärde möglicherweise. Eine Warnung oder ein Denkzettel? Ein Racheak? Vielleicht sollte der Aedil auch nur eine Weile von seinen Amtsgeschäften fern gehalten werden. Malleus wusste es nicht.


    Ohnehin ließ der Mangel an Atemluft allmählich das Gefühl in ihm hochsteigen, mit jedem Schnaufer weniger zu wissen. Das Gequatsche hatte ihn angestrengt, und die aufrechte Haltung setzte der frischen Wundnaht mittlerweile empfindlich zu. Was er hier trieb, war schlechterdings unverantwortlich. So ging ihm die Aufforderung des Makedonen, sich wieder hinzulegen, zwar einerseits gegen den Stolz, leuchtete ihm andererseits aber durchaus ein. In diesem Zustand konnte er wohl niemandem eine große Hilfe sein. Außerdem würde Alpina ihm den Kopf abreißen, wenn er sich weiter ihren Anweisungen widersetzte. Und das wollte er nun wirklich nicht. Dafür hatte er sie viel zu gern.


    „Du hast recht .. Acanthos. “ seufzte er müde. „Im Grunde .. war es das .. auch schon.“


    Zum Zeichen seiner Einsicht begann sich Malleus umgehend wieder in die Horizontale zu manövrieren. Das dauerte entnervend lange. Nicht so lange allerdings, wie es gedauert hatte, sich hochzustemmen. Es ging also aufwärts, sagte er sich, es konnte nur aufwärts gehen. Nach ausgedehnter Verschnaufpause bedachte er den Scriba mit einem leisen Lächeln.


    „Eins noch .. mach dir die .. Geschwätzigkeit der Leute .. zunutze. Streu ein paar Gerüchte. Wenn der Drahtzieher .. befürchten muss .. dass sein Handlanger noch lebt .. wird er sich früher oder später .. aus der Deckung wagen. Vielleicht überkommt ihn .. plötzlich die Reiselust .. oder so.“


    Noch während er sprach, senkte sich die Ermattung auf ihn nieder wie ein Leichentuch. Schluss für heute. Acanthos hatte schon schwer genug an seiner Verantwortung zu tragen. Solange er ihm nichts davon abnehmen konnte, sollte er sich mit Ratschlägen besser zurückhalten.


    „Du wirst es .. schon richtig machen. Da bin ich .. mir sicher.“

    Malleus nickte nachdenklich vor sich hin. Das hatte er sich schon gedacht. Wenn er den blonden Bullen auch nur annähernd richtig eingeschätzt hatte, gehörte der nicht zu den Männern, die sich gänzlich unbewaffnet zu einem solchen Unternehmen aufmachten, dafür barg es zu viele Unwägbarkeiten. Dennoch hatte auch der Germane nicht mit blanker Klinge angegriffen, sondern mit einer Dachlatte. Natürlich konnten Bleirohre und Dachlatten am Ende ebenso tödlich sein wie ein geschliffener Gladius. Kam eben ganz drauf an, was man damit vorhatte.


    „Denkst du, was ich denke?“ fragte er Acanthos unvermittelt. „Zwei Bewaffnete greifen ihr Opfer .. mitten in der Menge .. mit unhandlichem Gerümpel an. Sieht das für dich .. nach einem .. wohl durchdachten Mordversuch aus?“


    Nun gut, vielleicht hatten sie es einfach nur mit zwei unverbesserlichen Vollidioten zu tun. In dem Fall aber wäre ihr Auftraggeber ein noch viel größerer Vollidiot, und das war nach Malleus’ Dafürhalten eher unwahrscheinlich. Einem wirklich genialen Geist schien der Anschlag allerdings auch nicht entsprungen zu sein, und das wiederum brachte ihn zu seinem nächsten Punkt.


    „Ich habe diesen Belgier .. Gowin .. kurz vorher .. in der Gasse gesehen. Stand direkt .. neben dem Soldaten, der mich .. erwischt hat. Kann Zufall sein. Immerhin ist der Bursche .. Händler. Mir war aber so .. als hätten sich die beiden .. kurz unterhalten. Ich bin mir .. nicht sicher.“


    Malleus zog an einem Zipfel der Bettdecke und wischte sich damit den Schweiß ab. Eine Pause hätte ihm verdammt gut getan. Das Sprechen wurde zusehends mühsamer. Nichtsdestotrotz musste er versuchen, endlich zum Punkt zu kommen.


    „Wer auch immer .. dahintersteckt, ob nun der Belgier .. dieser flegelhafte Gurox .. oder irgendein anderer Drecksack .. es wird ihm jedenfalls .. ganz und gar nicht schmecken .. zu erfahren, dass der .. einstige Soldat .. überlebt hat .. und wohl in ein .. paar Tagen .. vernommen werden kann.“


    Das Abwischen half gar nichts. Der Schweiß floss schneller als Malleus ihm Herr werden konnte. Er ließ ihn fließen. Luft zu holen war schon schwer genug und allemal wichtiger als einen manierlichen Eindruck zu machen.


    „Kannst du .. meinem .. kurzatmigen Gestammel .. soweit folgen, Acanthos? Wir müssen .. auf den Busch klopfen. “

    Als Malleus hörte, dass Curio zu sich gekommen war, fiel ihm ein ganzer Steinbruch vom Gemüt. „Gut.“ nickte er Acanthos lächelnd zu, „Gute Nachrichten.“ Der Aedil war jung und kräftig. Wenn es ihm gelungen war, die Besinnungslosigkeit abzuschütteln, würde er den Rest des Weges auch noch schaffen. Schließlich war er hier in den besten Händen. Dass sein Gedächtnis gelitten hatte, war zwar bedauerlich, konnte aber angesichts seiner Verletzung nicht verwundern. Iullus Helvetius Curio würde also wieder auf die Beine kommen. Alles eine Frage der Zeit, des Willens und des Fürsorge. Neben einer heilkundigen Schwägerin hatte der Aedil vor allem seine energiegeladene junge Frau an der Seite. Sowas konnte Wunder wirken.


    Malleus lächelte dem Scribus noch einmal erleichtert zu, und wurde dann ernst. Nur, um sich beruhigen zu lassen, hatte er Acanthos nicht hergebeten. Seit dem Anschlag hatte er keine Gelegenheit mehr gehabt, sich mit dem Makedonen auszutauschen, und nun, nach endlosen Stunden der Grübelei, erschien ihm das dringlicher denn je. Jeder Tag, der verstrich, würde es schwieriger machen, an die Schuldigen heranzukommen.


    „Du musst diese Ratte .. gesehen haben.“, begann Malleus mit sorgsam eingeteilten Atemzügen. „Ein bulliger Germane .. nehm ich an. Hast du erkennen können .. ob er noch andere Waffen bei sich hatte .. außer dieser Dachlatte?“


    Wenn ja, warum hatte er sie nicht benutzt? Der Soldat war mit einem Gladius bewaffnet gewesen. Trotzdem hatte er zunächst mit dem Bleirohr angegriffen. Warum?


    „Und der andere Kerl.. was denkst du .. ist mit seinem Leichnam passiert? Was haben die .. Apparitores .. mit dem angestellt?“


    Im allerschlimmsten Fall hatte die den Kadaver noch stundenlang in der Gasse liegen lassen. Dann würde es verdammt schwer werden, den wahren Drahtzieher herauszulocken.

    Als Acanthos eintrat, war Malleus gerade folgsam dabei, seine Atemübungen zu absolvieren. Langsam, konzentriert, den Oberkörper aufgerichtet, die Hand als Widerstand auf die rechte Seite gepresst, wie Alpina es ihm gezeigt hatte. Solange er den Rücken durchstreckte, bekam er im Sitzen sogar etwas mehr Luft als zuvor im Liegen, zumindest schien es ihm so. Wenn er sich allerdings von der Mattigkeit übermannen und nach vorn sacken ließ, ging so gut wie gar nichts mehr, dann quetsche sein Sternum den lädierten Lungenflügel noch mehr zusammen. Das war zwar frustrierend aber immerhin kontrollierbar. Erzwingen ließ sich nichts.


    Mit einem erstickten Grunzen blickte er zu dem wartenden Makedonen auf. „Acanthos .. danke, dass .. du gekommen bist.“ Acanthos sah auch nicht gerade aus wie das blühende Leben. Die Last der Verantwortung und die Ruhelosigkeit der letzten Stunden waren ihm deutlich anzusehen. Der omnipräsente Scriba hatte ein paar Stunden Schlaf zweifellos weit nötiger als der schnaufende Veteran. Die sollte er auch bekommen. Malleus wollte ihn nicht davon abhalten und gedachte sich daher kurz zu fassen. Zu einem launigen Schwätzchen reichte die Luft ohnehin nicht. Bevor er aber loswerden konnte, was ihn umtrieb, musste er eines unbedingt wissen:


    „Wie steht es um den Aedilen?“

    Malleus nickte nur müde. Für Diskussionen hatte er keinen Atem übrig, zumal es albern gewesen wäre, mit Kaeso über Zuständigkeitsfragen zu debattieren. Der Junge meinte es gut, und er nahm die ihm übertragene Verantwortung nicht auf die leichte Schulter. Dass er die Dinge aus einem anderen Blickwinkel sah als der Patient, lag in der Natur der Sache und tat Malleus’ Sympathie für den tüchtigen jungen Burschen keinen Abbruch. Allerdings irrte Kaeso in ein paar ganz wesentlichen Punkten. Zum einen war die Gesundheit des Custos Corporis eben nicht von übergeordneter Bedeutung. Zum zweiten war es immer noch Malleus selbst, der darüber entschied, was er sich zumuten konnte oder nicht. Zum dritten schließlich war er nach wie vor für die Sicherheit mitverantwortlich.


    Gewiss, Acanthos oder Duccia Silvana konnten ihn von seinen Aufgaben entbinden, die Entscheidungsgewalt lag im Moment allein bei ihnen. Von seinen Verpflichtungen jedoch konnten sie ihn nicht lossprechen. Das oblag ausschließlich dem Aedilen, und selbst der hätte Malleus nicht dazu bewegen können, sich aus der Sache rauszuhalten. Dienst bis zur letzten Konsequenz hatte er Helvetius Curio damals versprochen, und er war ein Mann, der meinte, was er sagte. Das war er nicht nur Curio schuldig, sondern auch Silvana, Alpina, Acanthos, Kaeso, Roderiq, Liam – allen Bewohnern der Casa eben, die ihm Schutz und Pflege gewährten und die seine ungeplante Anwesenheit erdulden mussten.


    Malleus war sich völlig im Klaren darüber, dass er weit tiefer in Curio’s private kleine Welt vorgedrungen war als es dem Aedilen recht gewesen wäre. Daran ließ sich hier und jetzt nichts ändern. Aber sobald es seine Verfassung erlaubte oder wann immer es gewünscht wurde, würde er die Casa verlassen. Mit oder ohne Hilfe. Es gab nur sehr wenige Dinge, die er wirklich fürchtete, nicht einmal eine Handvoll. Anderen zur Last zu fallen gehörte dazu.

    Malleus bedachte Kaeso mit einem wohlmeinenden Nicken. „Guter Plan. So machen wir’s.“ Der Bengel war in Ordnung. Er dachte mit, kapierte schnell, half wo er nur konnte und war den Bewohnern der Casa momentan fraglos eine ungleich größere Stütze als der flügellahme Custos. Diese Wahrheit zu verdauen, war schwer. Und die Notwendigkeit, sogar beim Wasserlassen die Hilfe des Jungen in Anspruch nehmen zu müssen, machte es nicht eben leichter. Mit Würde hatte das Ganze nicht viel zu tun. Nur – Würde allein brachte ihn auch nicht schneller auf die Beine. Letztlich war Würde nur eine Begleiterscheinung, kein Selbstzweck. Wenn seinen Ahnen nicht gefiel, was er hier trieb, mussten sie ihre Blicke eben von ihm abwenden. Ihm gefiel es auch nicht, aber was sollte er machen?

    Auch mit Kaeso’s tatkräftiger Unterstützung gestaltete sich das Ganze weit mühsamer und schweißtreibender als Malleus gehofft hatte. Die Wunde selbst erwies sich dabei erneut als das kleinere Übel, woran es vor allem gebrach, war Luft. Da half es auch nichts, sich aufrecht hinzustellen und zu pumpen wie eine Erdkröte. Im Gegenteil. Je schneller er schnaufte, desto schwindliger wurde ihm. Sein ursprünglich angestrebtes Ziel, ein paar Schritte zu gehen, wenigstens bis zur Tür und wieder zurück, musste er sich für den Moment aus dem Kopf schlagen. Vielleicht später am Tag. Oder morgen. Jetzt nicht.


    Entsprechend ernüchtert ließ er sich nach vollbrachtem Werk wieder auf die Bettkante plumpsen. „Danke .. Kleiner.“ Mehr gab der zerknüllte Luftsack in seiner Brust nicht her. Erst als sich das diffuse Flackern vor seinen Augen gelegt und der Atem sich wieder verlangsamt hatte, fand er die Kraft, dem Jungen anerkennend die Schulter zu tätscheln. „Du machst das alles .. ganz hervorragend. Kannst stolz auf dich sein.“ Mit einem schwachen Lächeln wischte sich Malleus den Schweiß von der Stirn. Kaum zu glauben, welch wohltuende Entspannung von einer entleerten Blase ausgehen konnte. Wenn er sich jetzt hinlegte, würde er gewiss binnen Augenblicken einschlummern. Genau deswegen blieb er sitzen. Alles zu seiner Zeit. „Hör zu, Kaeso .. ich muss Acanthos sprechen. Bitte .. tu mir den Gefallen .. und sag ihm das. Ich komm hier schon .. klar.“

    [Blockierte Grafik: http://oi65.tinypic.com/1zfiiah.jpgBolanus


    Elegant wie ein Spaltblock ließ sich Bolanus vom Pferd plumpsen. Aus. Schluss. Ende. Fast zwölf Horae hatte er auf dem knochigen Rücken dieser Schindmähre verbracht, war unbeirrt die Gassen entlang getrabt, von der Casa nach Nordwesten, an den Wällen des Castellums entlang nach Osten zum Stadttor, von dort wieder nach Süden bis an den Rand der Canabae und wieder zurück zur Casa, um die vereinbarten Klopfzeichen zu geben. Wie viele Runden im Lauf der Nacht und des frühen Morgens zusammengekommen waren, konnte er nicht einmal schätzen. Jetzt jedenfalls stand die Sonne schon hoch am Himmel und Bolanus an der Schwelle zum Wachschlaf. Genug war genug. Seine Augen brannten, sein Arsch glühte und der Magen hing ihm bis zu den Fußlappen. Er war ein pflichtbewusster Apparitor, das konnte nach dieser Nacht niemand mehr bestreiten, aber auch Apparitores waren nur Menschen.


    Mit unsicheren Schritten tappte er auf die Porta zu und pochte ein letztes Mal. Zwei, eins, eins. zwei, was so viel bedeutete wie: Keine besonderen Vorkommnisse – alles ruhig. Diesmal jedoch zog Bolanus nicht wieder von dannen, um sich auf den Klepper zu hieven, sondern klopfte erneut. „Liam! Mach auf, Mann. Ich bin fix und fertig.“


    Sollte der Ianitor von ihm denken, was er wollte. Der hatte seinen breiten Keltenhintern auch nicht wund geritten. Alles hatte seine Grenzen. „Ich rühr mich hier nicht mehr vom Fleck, bis ich abgelöst werde!“ Von wem, war Bolanus mehr als egal.



    Malleus hörte ihr zu und nahm dabei erleichtert zur Kenntnis, dass der Spott des Chirurgicus sie nicht wirklich getroffen hatte. Zufrieden lächelnd ließ er seine Hand wieder sinken. Gutes Mädchen. Tapfere Frau. Mochten die Götter sich ihrer besinnen und den Bruder des Aedilen wohlbehalten zu ihr zurückschicken. Alles, was er selbst für sie tun konnte, würde er tun. Im Moment war das freilich nich gerade viel. Die einzige Möglichkeit, Alpina zu entlasten, bestand darin, ihren Ratschlägen und Anweisungen zu folgen und so schnell es nur ging wieder auf die Beine zu kommen. Ob sich beides immer in Einklang würde bringen lassen, stand allerdings auf einem anderen Blatt. Mit einem gutmütigen Brummen griff er nach dem dampfenden Becher und trank ihn in kleinen Schlucken leer. Schmeckte schauderhaft. Wenn es stimmte, dass sich die Heilkraft einer Arznei an deren Bitterkeit ermessen ließ, war Alpines Trank das reinste Wundermittel. Schmackhaft oder nicht, er würde jedenfalls alles hinuntergießen, was sie ihm vorsetzte.


    Nur bei der Frage des Schlafmohns winkte er ab. Die Schmerzen waren zwar kaum zu ignorieren, würden aber von selbst langsam nachlassen, zudem wollte er spüren, was mit seinem Körper vor sich ging. Nur so konnte er seinen Zustand realistisch einschätzen, und diese Einschätzung fiel alles in allem gar nicht mal so pessimistisch aus. Wenn er dem Schmerz bewusst nachspürte – ohne sich von den diffusen Wolken, die er ausstrahle, narren zu lassen –, dann fand er ihn auf verhältnismäßig kleinem Raum um die Stichwunde konzentriert. Ein ramponierter Knochen. Wucherndes Fleisch. Revoltierende Nervenenden. Nicht weniger aber auch nicht mehr. Gewiss, er war kein Zwanzigjähriger mehr und ein abgenutzter Leib war nachtragender als ein unverbrauchter, das führten ihm seine Vernarbungen regelmäßig vor Augen, aber so lange die Wunde sauber blieb und das Blut zirkulierte, würde schon alles irgendwie wieder zusammenwachen. Immerhin war er noch an einem Stück. Arme und Beine waren intakt, der Rest seiner Glieder den Göttern sei Dank ebenfalls. Der Blutverlust machte ihm noch zu schaffen, auch deshalb hielt er eine weitere Gabe von Schlafmohn für überflüssig, aber auch das würde mit ein klein wenig Geduld wieder in’s Lot kommen. Blieb die ärgerliche Sache mit seinem rechten Lungenflügel. Das war das wirkliche Problem. Daran musste er tatsächlich arbeiten. Alles andere konnte er nur abwarten.


    So tat er also, was Alpina sich von ihm wünschte, bündelte seine Sinne unter dem sanften Druck ihrer Handfläche und atmete langsam und konzentriert gegen den Widerstand an. Am Ende eines jeden Atemzuges konnte er ein leises flatschendes Geräusch vernehmen, als schlüge irgendwo tief unter seinem Brustbein ein nasses Segel gegen einen Mastbaum; und jedes Mal, wenn das Flatschen hörbar wurde, hob sich Alpina’s Hand ein klein wenig. Sonderlich schmerzhaft war das Ganze nicht, allerdings begann ihm nach einiger Zeit der Schädel zu prickeln. Außerdem machte sich das ganze Herumgedrücke auf seinem Rumpf langsam auch anderweitig bemerkbar. Als Kaeso plötzlich in’s Cubiculum wuselte, um Alpina zu diesem unmanierlichen Cincius zu beordern, kam das Malleus nicht gerade ungelegen.


    „Für’s erste sollten wir es .. sowieso .. gut sein lassen, Alpina. Meine Blase fühlt sich an .. wie ein Kuheuter.“ Fürwahr, schon der brachiale Griff des Chirurgicus hatte Wirkung hinterlassen und Alpina’s Heiltränke trugen fraglos das ihre dazu bei. „Du weißt hoffentlich .. dass ich dir überaus .. dankbar bin. Aber es gibt Dinge ..“ Mit einem verschmitzten Lächeln deutete er auf den irdenen Nachttopf unter dem Lectus, „.. die muss ich selbst erledigen.“ Kaeso würde ihm aufhelfen. Der Junge war kräftig und wenn es sein musste auch äußerst diskret. Alpina musste ja nicht erfahren, dass Malleus sich aufrecht erleichtert hatte. „Dann werd’ ich versuchen zu schlafen.“ Würde er nicht, zumindest nicht sofort. Aber auch damit sollte sich Alpina nicht belasten.

    So. Ein Chirurgicus. Malleus fixierte den Römer abschätzend und ließ dann brummend dessen Arm los. Nun gut. Wenn es sich so verhielt wie Alpina sagte, hatte er dem großspurigen Knochenflicker wohl dankbar zu sein. Sei’s drum. Man konnte sich seine vermeintlichen Retter eben nicht immer aussuchen. Als Geste grenzenloser Dankbarkeit schenkte Malleus dem Chirurgicus ein knappes Nicken. Das musste erstmal reichen. Schließlich war noch nicht einmal erwiesen, ob die Wundnaht hielt, geschweige denn, ob darunter wirklich alles war wo es hingehörte. Er hatte in Moesia schon Wundärzte gesehen, die einen Anus nicht von einem Loch im Boden unterscheiden konnten. Dementsprechend begrenzt war sein Vertrauen in diese Zunft. Zugegeben, er selbst hatte mit den Medici bislang immer Glück gehabt, aber das musste ja nicht zwangsläufig so bleiben. Von welchem Schlag dieser Römer war, würde sich erst noch zeigen.


    Dem leutseligen Chirurgicus schienen Selbstzweifel gänzlich unbekannt zu sein. Dem genügte es nicht, seine Kunstfertigkeit unter Beweis zu stellen, nein, dieser Zeitgenosse hielt sich auch noch für einen begnadeten Comicus. Malleus, derben Zoten ansonsten alles andere als abgeneigt, hätte nicht sagen können, was ihm lästiger war – das stechende Gefummel an seiner Wunde oder die abgeschmackten Sprüche des Cinciers. Trotzdem biss er die Zähne zusammen und ließ den selbsternannten Spaßvogel schwafeln. Je ungestörter der seine Arbeit verrichten konnte, desto schneller würde er wieder verschwinden. Ohnehin hatte Malleus, was Zweideutigkeiten, Sticheleien und Schmähungen betraf, ein enorm dickes Fell. Zumindest wenn es um ihn selbst ging. Dass der Chirurgicus seinen Spott auch auf Alpina ausdehnte, nahm er ihm dagegen ausgesprochen übel. Fast noch übler nahm er ihm aber, dass er die Behandlung damit beendete, seinem Patienten die Hand so tief in den Bauchraum zu rammen, als wolle er dessen Rückenwirbel zählen. Ein heißer Druck schoss Malleus vom Bauch an den Rippen empor in die Brust. Seine Lungen entleerten sich mit einem langgezogenen Pfeifen. Vor seinen Auge tanzten Funken. Was für ein Rindvieh! Hatte ihm der Kerl nicht gerade noch an’s Herz gelegt, zu atmen? Wie bitte sollte er atmen, mit fünf knochigen Fingern in der Bauchhöhle? Und überhaupt - er atmete nun schon seit fast fünf Decennia! Er war verdammt geübt darin! Atmen war für ihn keine unlösbare Aufgabe! Das schaffte er im Schlaf!


    Malleus spürte seine Laune in’s Bodenlose sacken und als der große Meister sich zum krönenden Abschluss erneut an einem schalen Scherz auf Alpina’s Kosten versuchte, war der schnaufende Veteran drauf und dran, sich doch noch von seiner undankbaren Seite zu zeigen. Bevor er jedoch einen adäquates Fluch hervorgekramt hatte, war der polternde Chirurgicus verschwunden. Keinen Wimpernschlag zu früh. Malleus glotze noch ein paar Augenblicke wütend auf die geschlossene Tür, nahm dann Alpina neben sich wahr und begann sich zu entspannen. Ihre Frage vertrieb ihm den Zorn augenblicklich. Ob dieser verhinderte Grobschmied ihm weh getan hatte? Sie hatte wirklich Humor, das musste man ihr lassen.
    „Er hat sich jedenfalls .. aufrichtig darum bemüht.“, keuchte er mit einem heißeren Lachen hervor. Noch einmal warf er einen Blick zur Tür, diesmal eher amüsiert als erbost. „Reizender Bengel. Muss ich schon sagen.“ Dann wandte er sich wieder Alpina zu und sah sie lange nachdenklich an. Sie hatte schon so viel getan, weit mehr als er von ihr verlangen durfte, und zum Dank musste sie sich seinetwegen auch noch anzügliche Äußerungen anhören. „Du .. nimmst dir dieses dumme Geschwätz .. doch nicht etwa zu Herzen?“ Wieder zuckte seine Hand unwillkürlich, wieder hielt er sie zurück. „Dieser Cincius .. mag ja ein ganz passabler .. Chirurgicus sein .. aber darüber hinaus .. weiß er gar nichts. Er sieht nicht ..“ Ein trockener Hustenanfall schüttelte ihn kurz durch, legte sich aber schnell wieder. Atmen. So war es doch, richtig? Atmen. Vollidiot! „Er sieht nicht, wer du bist. Der sieht nur .. wer er selbst ist .. verstehst du?“ Diesmal ließ er seine Hand gewähren und strich Alpina tröstend über den Arm. „Andere sehen das aber .. sehr wohl.“

    Ob es nun Duccia Silvana’s Anrufung der Götter zu verdanken war, Alpina’s Fürsorge oder dem schlichten Umstand, dass er sich bis an die Schwelle zur totalen Erschöpfung gegrübelt hatte – letztlich war es unerheblich. So oder so fühlte Malleus das erste mal, seit er hier lag, wieder eine leise Ahnung von Kraft durch seine Adern geistern, die mit wirklicher Stärke freilich noch nicht viel gemein hatte. Irgendwann, nachdem Silvana das Cubiculum verlassen hatte, war er endlich in einen tiefen traumlosen Schlaf gesunken und wider Erwarten hatte ihm das gut getan. Männer seiner Profession schliefen üblicherweise weder tief noch lange, dafür aber in Situationen und Körperhaltungen, die einem braven Civis nicht das kleinste Quentchen Entspannung ermöglicht hätten. Sich einfach fallen zu lassen, deckungslos ausgestreckt auf einem weich gepolsterten Lectus, dazu noch in einem im Grunde unbekannten Haus, das grenzte für Malleus fast schon an Selbstaufgabe. Aber es konnte tatsächlich helfen. Allerdings machte es die Birne weich.


    Eingelullt von wohliger Wärme und sanftem Frieden nahm er Alpina’s aromatischen Kräuterduft zwar wahr, brachte es aber nicht fertig, die lähmende Trägheit aus Hirn und Muskeln zu vertreiben. Selbst als Alpina sich an seiner Kleidung zu schaffen machte und schließlich sogar mit einem nassen Etwas an ihm herum rieb, kostete es ihn erhebliche Mühe, sich nicht wieder davon treiben zu lassen. Das lag natürlich größtenteils an Alpina selbst. Die einfühlsame Kräuterfrau war in seinem Bewusstsein nicht als Bedrohung abgespeichert, sondern als das genaue Gegenteil davon. Sie weckte zwar seine Sinne, forderte sie aber nicht heraus. So blieb er unter ihren Händen zunächst nur ein Stück schlaffer Sehen und Muskeln, höchst nachlässig kontrolliert von seinem halbwachen Geist. Als aber eine polternde Stimme die Stille durchschnitt und eine fürwitzige Pratze auf Malleus’ Schulter klatschte, änderte sich das. Schlagartig.


    Er hob die Lider, und noch ehe sein Blick sich gänzlich geklärt hatte, fuhr sein Hand nach oben und schloss sich um einen behaarten Männerarm. Vor seinen kalt funkelnden Augen begann sich die selbstgefällige Fratze eines glattrasierten Römers abzuzeichnen. Malleus verstärkte den Druck. So gut es eben ging, mit nahezu tauben Handflächen und zitterndem Arm. „Was soll das werden?“ Keine Antwort. Ohne den Römer auch nur einen Atemzug lang aus den Augen zu lassen, suchte er Alpina’s vertrautes Gesicht am Rand seines Sichtfeldes. „Alpina .. wer ist der Kerl?“

    Untermalt vom unaufhörlichen Knistern seines Atems zogen Bilder ohne Zahl durch Malleus’s nachtdunklen Schädel. Orte, Menschen, Gesichter. Lebende, Tote, Freunde, Feinde und immer wieder – wie auf einem Kinderkreisel verewigt – die grimmigen Züge dieses einstigen Soldaten. Erstarrt in der Bewegung. Das schwere Bleirohr in der Faust. Keiner der Männer, die Malleus in seinem langen Leben getötet hatte, war in seinem Gemüt haften geblieben, keine der erloschenen Gestalten hatte ihn je länger als ein paar Stunden verfolgt. Soldaten dachten über den Tod nicht nach. Sie redeten auch nicht über ihn, weder über den eigenen noch über den ihrer Kameraden. Schon gar nicht riefen sie sich die Gesichter derer in Erinnerung, die durch ihre Hand gestorben waren. Derlei unnütze Gedanken machten nur mürbe und schlugen dem Tod eine Bresche in’s eigene Leben. Was nicht mehr war, durfte verblassen. Je schneller desto besser. Der getötete Angreifer jedoch weigerte sich standhaft, zu verblassen. Mehr noch. Jedesmal, wenn er an Malleus Geist vorbei trieb, waren seine Züge deutlicher und sein Blick spöttischer. Dieser Blick – daran gab es nicht den geringsten Zweifel – würde Malleus noch geraume Zeit erhalten bleiben. So lange nämlich, bis es ihm gelang, herauszufinden, für wen der Kerl letztlich gestorben war. Seine Arbeit war längst noch nicht getan, in gewisser Weise hatte sie eben erst begonnen. Mit nur einem Lungenflügel indes, würde es schwierig werden, die Wahrheit an’s Licht zu zerren. Deshalb musste er die zahllosen Bilder einfach weiterziehen lassen, und sich damit begnügen, zu atmen. Immer weiter und weiter. Immer ein klein wenig langsamer und klein wenig tiefer.


    So verstrich die Zeit. Unendlich langsam und unsäglich monoton. Das allgegenwärtige Knistern wurde allmählich zu einem Flüstern, das Flüstern zum Raunen, das Raunen zu leisen eindringlich gesprochenen Worten. Malleus atmete und lauschte. Weder stammten diese kurzen Sätze aus seinem eigenen Mund noch waren sie an ihn gerichtet. Die Götter waren es, die angerufen wurden – die Asen, die Vanen, schließlich der Schirmer der Welten selbst. Malleus erkannte die gesprochenen Formeln, und auch die Stimme, die ihnen Klang verlieh. Duccia Silvana, die junge Frau des Aedilen, hatte sich neben seinem Lager niedergelassen. Ihr hatte er einen halbtoten Ehemann nachhause gebracht. Sie, die selbst noch geschwächt war von der Geburt ihres Sohnes und nun auch noch um Curio’s Leben bangen musste, hatte sich her begeben, um Kraft für den niedergestreckten Custos zu erbitten.


    Malleus fühlte sich, als dränge der Gladius noch einmal zwischen seine Rippen. Er wollte ihr danken, ihr Trost zusprechen. Gleichzeitig überkam ihn das quälende Bedürfnis, sie um Vergebung zu bitten. Gesund und munter hätte er Curio zu ihr zurückbringen müssen. Unversehrt und voller Tatendrang, so wie er sie am Morgen verlassen hatte. Dass er nicht mehr hatte tun können als er getan hatte, spielte dabei keine Rolle. So lange der wirklich Schuldige nicht ausgemacht war, lag die Schuld bei ihm. Das war nun mal seine Sicht der Dinge. Duccia Silvana’s Fürbitten nahm er mit tiefer Dankbarkeit hin. Die Hilfe der Götter würde er noch verdammt nötig haben.

    Obgleich er noch an der Schwelle zwischen Wachen und Träumen entlang trieb und obwohl er sie nicht hatte kommen hören, wusste Malleus plötzlich, dass sie da war. Ihr Duft verriet sie; jenes erdige herbfrische Aroma von Kräutern und Mixturen, das ihr ebenso zur Natur geworden war wie ihre nachdenklichen Blicke und ihr besonnenes Wesen. Wahrscheinlich nahm sie selbst diese Düfte gar nicht mehr wahr. So wie er bald den Gestank kalten Schweißes und geronnenen Blutes nicht mehr wahrnehmen würde, der von ihm aufstieg. Er hasste es, untätig hier herum zu liegen, hatte mittlerweile aber einsehen müssen, dass ihm für’s erste gar nichts anderes übrig blieb. Die rechte Seite seines Brustkorbes fühlt sich an, als sei er unter ein Pferd geraten. Die bescheidene Ausbeute an Luft, die er der Kühle des Cubiculums abtrotzen konnte, reichte gerade so aus, um klebrigen Dreck auszuhusten und sein Hirn am Laufen zu halten. Ausgedehnte Leibesübungen waren da nicht drin.


    Alpina hatte schon recht. Momentan konnte sie mehr für Curio tun als er. Eine Einsicht, die Malleus ganz und gar nicht schmeckte, die aber nicht von der Hand zu weisen war. Dennoch – es war nicht recht, ihr das alles aufzubürden. Die Behandlung des Aedilen, die Pflege des nutzlosen Leibwächters, die Sorge um Duccia Silvana, die selbst noch nicht gänzlich genesen war. Verdammt viel auf einmal für eine noch junge Frau wie Alpina, mochte sie auch noch so erfahren und belastbar sein. Sie war ein Segen für dieses Haus. Kümmerte sich um alles und jeden. Und wer kümmerte sich um sie? Gewiss, Roderic war da, um sie zu beschützen, Kaeso, um ihr zur Hand zu gehen, die Verantwortung aber konnte ihr keiner abnehmen. Wenn er ihr helfen wollte, blieb Malleus also nur eine Wahl: Er musste tun, was sie sagte, und so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen. Für Stolz und Sturheit war hier kein Platz.


    Der Duft wurde noch intensiver. Malleus konnte spüren, wie sich eine Ohrmuschel auf seine Brust senkte. Warm, weich, gesäumt von widerspenstigen Locken. Einen Augenblick lang war er versucht, seine grobe Pranke auf Alpina’s Schulter zu legen, um ihr anzudeuten, dass sie ihren Kopf noch eine Weile dort lassen und sich etwas ausruhen sollte. So wie er sie einschätzte, hatte sie nicht viel geschlafen in den letzten Stunden. Aber er ließ sein Hand wo sie war. Schon um Alpina nicht zu erschrecken. Schließlich richtete sie sich wieder auf und schwieg irgendwo jenseits seiner geschlossenen Augen vor sich hin. Malleus konnte nicht einschätzen, ob ihr gefiel, was sie gehört hatte. Ihm gefiel es jedenfalls nicht. Ganz im Gegenteil, es ging ihm extrem auf den Geist. Dieses permanente Rasseln und Quietschen in seiner Brust war ihm inzwischen fast lästiger geworden als die Mühsal des Atmens selbst. Zumal in der lähmenden Stille des Raumes.


    Noch immer gab Alpina nicht das leiseste Geräusch von sich. Sie wollte ihn offenkundig nicht wecken, und er wiederum wollte sie glauben machen, dass er schlief. Im Grunde war das dämlich. Aber wenn es sie beruhigte, ihn schlafen zu sehen, wollte er ihr den Gefallen gerne tun. Schwer zu sagen, wieviel Zeit verging, bis sich der Duft von Wald und Kräutern wieder verflüchtigte. Irgendwann roch Malleus nur noch seinen eigenen Schweiß und gab sich mit leisem Bedauern wieder den bizarren Träumen hin, die im Dunkel auf ihn warteten.

    Während Malleus über Alpina’s Worte nachdachte, ebbten die Windböen in seinem Kopf allmählich ab und das Pochen der Wunde wurde zusehends schwächer. Stattdessen begann sich eine angenehme Schwere seines Körpers zu bemächtigen, kroch von den Beinen kommend den Rumpf empor, nistete sich warm in seinem Brustkorb ein und schickte sich an, langsam aber stetig die Kälte aus seinem leergeblasenen Schädel zu vertreiben. Das Leben des Aedilen habe er gerettet, sagte sie. Hatte er das? Ja, vermutlich hatte er das. Aber Curio’s Leben zu retten war ja auch verdammt nochmal das Allermindeste, was man erwarten durfte. Mochte er das Leben des Helvetiers gerettet haben – gut und schön – vor seiner schweren Verletzung hatte er den jungen Burschen nicht bewahren können. Das lag ihm auf der Seele wie Mehltau. Dennoch schien Alpina ihm – dem Leibwächter ihres Schwagers – keine Vorwürfe machen zu wollen, wirkte im Gegenteil beruhigend auf ihn ein und kümmerte sich in einer Weise um sein Befinden, die ihn fast schon anrührte. Susina Alpina, das wusste er, hatte einen guten Ruf. Sowohl in der Stadt als auch in der näheren und weiteren Umgebung. Die trächtigen Weiber vertrauten ihr, und bei denen ging es immerhin sogar um zwei Leben, die sie der kundigen Frau anvertrauen mussten. Malleus selbst tat sich da üblicherweise etwas schwerer. Das letzte weibliche Wesen, dem er sein Leben bedenkenlos anvertraut hatte, war eine Stute gewesen.


    Wieder einmal musste sein Instinkt entscheiden, und der entschied sich eindeutig dafür, Alpina zu vertrauen und zu tun, was sie im Moment für das Ratsamste hielt. „Gut ..“ seufzte er mit schwacher Stimme auf, „In Ordnung .. Alpina .. du hast sicher recht.“ Dann legten sich eine Hand auf seine Augen. Behutsam, leicht und doch bestimmt. Nun merkte er auch, dass ihre Hände gar nicht so kühl waren, wie sie sich an seinen Schultern angefühlt hatten. Die Handfläche und die schlanken Finger über seinen Lidern fühlten sich vielmehr an, als würden sie von klarem reinem Willen durchströmt. Ob sie sich dessen wohl bewusst war? Malleus holte tief Luft, um ihr von seiner Entdeckung zu berichten, formte die Worte, öffnete die Lippen, glitt dann aber davon, ohne sich etwas sagen zu hören.

    Wie er da so saß, die Beine über der Kante, den Blick auf das gähnende Nichts unter seinen Füßen gerichtet, schnaufend und schwitzend, fühlte er sich wieder ganz schön mies. Mies und ernüchtert. Ganz so klar wie erhofft, war sein Geist wohl doch noch nicht. Irgendwas lief da nicht ganz rund in seinem wolkigen Schädel. Wie sonst war es zu erklären, dass er den rotbraunen Schopf am Rand seine Blickfeldes zwar registriert, dann aber sofort wieder verdrängt hatte? Zum heißen Pochen über den Rippen, dem schwindelerregenden Fallwind in seinem Kopf und den ohnehin bereits an ihm nagenden Selbstvorwürfen gesellte sich nun auch noch ein quälend schlechtes Gewissen Alpina gegenüber.


    Mit schuldbewusster Miene ließ er ihren Tadel über sich ergehen und wehrte sich auch nicht gegen ihre energischen kühlen Hände an seinen Schultern. Er war dieser Frau zu Dank verpflichtet. Allein schon dafür, dass sie hier war. „Bist du da sicher?“ keuchte er mit schwergängiger Zunge und fragte sich im selben Moment, was bei allen Göttern er damit eigentlich meinte. Abgesehen von dieser wirklich dämlichen Frage ließ er sich aber widerspruchslos zurück auf sein Lager drücken. Das winddurchtoste Haupt wieder in’s Kissen versenkt, fand er endlich Muße für ein schwaches Lächeln. „Saublöde Frage .. natürlich bist du sicher. Entschuldige. Es ist nur so ..“ Die Notwendigkeit, sich ein paar Augenblicke auf die höchst anspruchsvolle Aufgabe des Atmens zu konzentrieren, ließ sein Lächeln schnell wieder schwinden. „.. ich sollte hier nicht liegen .. das weißt du .. hier bin ich so nutzlos wie ein Pferdeapfel.“ Wobei, das stimmte nicht ganz. Mit trockenen Pferdeäpfeln konnte man zur Not die Hütte heizen, mit siechen Leibwächtern nicht. Die qualmten wahrscheinlich bloß und verpesteten die Luft.

    Es gab Träume, die waren schwärzer als der Tod. Die ließen nichts zurück als nacktes Grausen. Dann gab es welche, die durchflammten den Geist wie ein erstarrter Blitz. Bis in die letzten Winkel. Sogar bis in Schluchten und Grotten hinein, die weit abseits von allem lagen, was man wusste oder kannte. Andere wiederum umspülten einen wie warmes duftendes Öl, wuschen den Frost aus den Knochen, die Narben vom Fleisch und die Verwerfungen von der Seele. Von denen gab es leider viel zu wenige. Die meisten bewegten sich einfach nur träge durch die Zeiten, ließen einen auf Menschen, Orte und Geschehnisse blicken, die man einmal gekannt, gesehen und erlebt hatte. Oder auf ein Leben, das man so nie gelebt hatte, aber hätte leben können, wenn man an dieser oder jener Kreuzung einen anderen Weg gegangen wäre. Manche führten Klage, manche spendeten Trost, manche zeigten die Dinge schlicht wie sie waren, kalt, scharf, blank. Ohne Zierrat, ohne Hülle, ohne Ausreden. Das waren die schlimmsten, fand Malleus. Die scheuerten wie Flusskiesel über den Grund seines Geistes und trieben dort noch lange weiter, bis in den nächsten und übernächsten Traum hinein. Aber auch die gingen, wie alle anderen Träume, irgendwann vorüber.


    Wie lange er sich in diesen vielgestaltigen Gespinsten verloren hatte, vermochte er nicht einmal annähernd einzuschätzen. Jahre? Tage? Stunden? Letztlich spielte es keine Rolle. Das wabernde Knäuel seiner Gedanken hatte sich entwirrt, seine Atemzüge gingen flach aber regelmäßig, das stechende Pochen seiner Wunde erschien ihm durchaus erträglich und sein Körper begann ihm allmählich wieder zu gehorchen. Mehr dufte er zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Umständen wohl nicht erwarten. Trotzdem konnte er nicht einfach müßig hier rumliegen. Der Aedil ist in Sicherheit .. Helvetius Curio wird überleben, hatte er Alpina irgendwann sagen hören. Aber das war schon Stunden oder Tage her. Oder Jahre? Er wusste es nicht. Was hieß schon Sicherheit? Was hieß Überleben? Ein einzigen Augenblick vermochte das Unterste zuoberst zu kehren. Daran, was in seiner Abwesenheit alles passiert sein konnte, wollte er gar nicht denken. Musste er aber.


    Brummend fummelte der die schwere Decke beiseite und versuchte, sich aufzurichten. Keine gute Idee. Sofort schienen rotglühende Zangen an seiner Flanke zu zerren, was ihn auf eigentümliche Weise an die Verhörmethoden erinnerte, die er als junger Duplicarius einst gefangenen Dakern und Jazygen hatte angedeihen lassen. So fühlte sich das also an. Interessant. Immerhin – manche der Gefangenen hatten die Tortur überlebt, und was ein verfluchter Daker aushielt, konnte einen Mattiaker ja wohl erst recht nicht umhauen. Angestachelt von purem Trotz gelang es ihm schließlich, den Oberkörper empor zu wuchten und die Beine über die Bettkante zu schwingen. Als er dann aber schnaufend auf den Fußboden hinunter blickte, musste er feststellen, dass keiner da war. Wie Geißblattranken auf einer Klippe baumelten seine Beide über dem Abgrund hin und her. Das war eine Hürde, mit der nicht gerechnet hatte. Da ging es verdammt weit runter, und die plötzlich einsetzenden Sturmböen in seinem Kopf machten die Sache nicht angenehmer. „Scheiße.“ wehte es ihm von den Lippen. „Sachte, Mann, sachte. Wenn du da runterfällst, ist es aus. Und als Leiche nützt du niemandem mehr.“

    Schwer atmend starrte Malleus in’s rostbraune Halbdunkel seiner geschlossenen Lider. Er war noch da. Der graue Hund dagegen nicht. Zwar fühlte sich seine rechte Rumpfseite an, als lecke das Untier noch immer mit rauer Zunge über glühendes Fleisch, aber dem war nicht so. Das war nur Schmerz. Nichts weiter. Eben noch hatte die Bestie in blinder Raserei auf ihm gewütet wie der Fenriswolf am Abend der Götter. Jetzt war sie fort; hatte sich knurrend in den Schatten zurückgezogen, um in aller Ruhe auf seine Beute zu warten.


    Malleus machte sich keine Illusionen. Seine Tage waren längst gezählt. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft würden sie wieder aufeinandertreffen. Im Dämmerlicht einer engen Gasse vielleicht, im Rausch eines Kampfes oder in den Flammen eines Fiebertraumes – wer konnte das schon sagen? Bevor es aber soweit war, würde er dem Vieh unmissverständlich klar machen, dass er nicht gedachte, sich von dessen lauernder Präsenz aus dem Tritt bringen zu lassen. Schon gar nicht jetzt, nachdem ihm wieder einmal vor Augen geführt worden war, wie stetig sein Lebensfluss der großen Mündung zustrebte. Am Werk seiner Tage würde er von den Ahnen dereinst gemessen werden, nicht an deren Zahl. Noch war er mehr als ein Ledersack voll Hundefutter.


    Es war mühsam, sich der sanften Brandung zu widersetzen, die ihn hob und senkte wie die wiegenden Arme einer Milchamme. Und es wurde mit jedem saugenden Atemzug mühsamer. Dennoch versuchte er, dagegen anzukämpfen. Nichts konnte ehrloser sein, nichts verabscheuungswürdiger als auf Wache einzunicken. Zumal wenn die Kameraden bereits vom Feind bedroht wurden. „Wo .. ist der .. Aedil?“ presste er keuchend vor Anstrengung hervor. „Wie .. geht es ihm?“


    Ob er laut genug gesprochen hatte, um wahrgenommen zu werden, vermochte er nicht zu sagen. Seine Worte noch einmal zu wiederholen, gelang ihm trotz aller Mühen nicht mehr. Zu verlockend war das Auf und Ab der warmen Wogen, zu einlullend das rauschende Niedergehen der Wellenkämme. Alles war wie es war, und wie es war, war es in Ordnung.

    [Blockierte Grafik: http://oi65.tinypic.com/1zfiiah.jpgBolanus


    Bolanus war in der Aufregung einfach Kaeso, Liam und dem Medicus hinterher gestapft und fand sich nun anstatt im Besprechungsraum des Aedllen in der Taberna Medica wieder. Was er hier vorfand, machte ihn endgültig fertig. „Oh .. oh ..verflucht.“, stammelte er betroffen. Helvetius Curio schien schon tot, Cossus Malleus auf dem besten Wege. So schlimm hatte er es sich dann doch nicht vorgestellt. Schon gar nicht so blutig. An der Stirn des Aedilen, an den Kleidern des Leibwächters, an den Händen der Kräuterfrau, auf den Kissen, am Boden – überall Blut. Und er sah es nicht nur, er roch es auch. „Ich .. ich .. bin .. jetzt da.“ bröckelte es stockend aus ihm heraus. Ob einer der Anwesenden von seinen Worten Notiz genommen hatte, blieb unklar. Reaktionen kamen jedenfalls keine. Dass sich die Dinge so entwickelt hatten, war Bolanus gar nicht recht. Eigentlich sah der Notfallplan vor, sich umgehend hier zu melden, entweder bei Malleus oder bei Acanthos. Nun lag aber der eine keuchend in seinem Blut und vom anderen war weit und breit nichts zu sehen. Zudem wurde er das peinliche Gefühl nicht los, hier bloß im Weg zu stehen. Es war ohnehin schon voll genug in Susina Alpina’s Taberna. Besser, er machte schleunigst, dass er hier wieder rauskam.


    Im Grunde war ja alles bereits eingehend besprochen worden. Sollte es nötig werden, sich in der Casa zu verschanzen, war es seine Aufgabe, draußen die nähere Umgebung zu sondieren und sich nach jeder gedrehten Runde mit einem ganz bestimmten Klopfzeichen beim Ianitor bemerkbar zu machen. Alles klar soweit. Dumm nur, dass derjenige, der ihn nach drei Horae ablösen sollte, gerade vom Medicus untersucht wurde, und den wiederum schien das, was er sah, nicht gerade mit Begeisterung zu erfüllen. Also keine Ablösung sondern doppelte Wachschicht. Na wunderbar.


    Bolanus hatte gute Lust, verschiedene Aspekte des Planes hier und jetzt noch einmal mit Acanthos auszudiskutieren, als aber der Medicus nach Tüchern und Instrumenten verlangte, wurde ihm schlagartig schwül. Das musste er sich nicht antun. „Ich werde dann mal meinen Posten beziehen.“, warf er unadressiert in Runde. „Acanthos weiß Bescheid.“ Und wenn er die ganze Nacht draußen patrouillieren musste, immer noch besser als dem Lanius beim Entbeinen zuzusehen. Ihm war sowieso schon speiübel.




    [Blockierte Grafik: http://oi65.tinypic.com/1zfiiah.jpgBolanus


    Verschwitzt, verstaubt und ausgesprochen verärgert kam Bolanus die Gasse entlang galoppiert. Der störrische Mietgaul machte ihn fertig. Ebenso wie das scheinheilige Pack auf den Straßen ihn fertig machte. Die ganze verfluchte Situation machte ihn fertig. Ahnungslos wie ein Rehkitz war er von seinen Botenritten in die Stadt zurückgekehrt, voll Vorfreude auf den wohlverdienten Krug am Abend, doch anstatt ihm – immerhin einem Mitarbeiter des helvetischen Officiums – sachlich zu berichten, was seinem Dienstherren widerfahren war, hatten ihn sowohl Passanten als auch Torwachen sofort mit aufdringlichen Fragen bedrängt. Was nun mit seiner Anstellung werde? Ob er schon Näheres über die Hintermänner sagen könne? Ob er so gut sein wolle, dem Aedilen die besten Wünsche auszurichten? Wie denn die Witwe reagiert habe? Unfassbar. Erst in der Curia war er von anderen Apparitores über den Stand der Dinge aufgeklärt worden. Die Leute waren es gar nicht wert, dass man sich für sie in’s Zeug legte. Das sollte er dem Aedilen unbedingt mal sagen, wenn er wieder auf den Beinen war. Jetzt musste er sich erst einmal in den Notfallplan einordnen, der für Situationen wie diese erstellt worden war. Vielleicht konnte er helfen. Vielleicht auch nicht. Krieger war er jedenfalls keiner. Aber Amtsdiener. Und ein langes Jagdmesser hatte er auch.


    Gute zwei Perticae von der Casa entfernt, begann er den Gaul zu zügeln. Zum einen, weil das Vieh nur ausgesprochen träge reagierte, zum anderen, weil Bolanus vor der Porta eine Gestalt kauern sah. Bei genauerem Hinsehen erwies sich die kauernde Gestalt aber glücklicherweise als Kind. Das war Kaeso, der Helfer von Curio’s Schwägerin Alpina.Erleichtert aufatmend brachte Bolanus den Klepper schließlich zum Stehen und ließ sich stöhnend von dessen Rücken gleiten. Alle Wetter! Der Junge schien aus dem letzten Loch zu pfeifen. Hatten die ihn rausgeschmissen oder gar nicht erst reingelassen?


    „Ist das Haus schon verrammelt?“, fragte er bange. Sicher, er war spät dran, aber das war ja nun wirklich nicht seine Schuld. Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er auf die Porta zu und hämmerte dagegen. „Bolanus hier!“





    Alles in Ordnung. In allerbester Ordnung. In absoluter und vollkommener Ordnung. Was man nicht so alles dahersalbaderte im Lauf seines Lebens. Ohne jeglichen Verstand. Ohne auch nur einen Atemzug lang inne zu halten, um den tieferen Sinn dessen zu erkunden, was man man da von sich gab. Wortbatzen. Satzklumpen. Auswurf. Wiedergekäut, aus dem Schlund gewürgt und achtlos ausgespuckt wie einen Kornhülse. Wie dumm man doch war, wie blind für das Glitzern der Wahrheit hinter Schleim und Speichel. Und Blut. Alles in Ordnung. Drei Worte die Alles erklärten, Alles vorweg nahmen. Ordnung war über Allem. Immer. Egal, in welcher Form sie sich zeigte, ob mit Glück, Schmerz, Liebe oder Tod. Malleus musste lachen. Wenn er lachte, biss ihn zwar der hechelnde graue Hund in die Rippen, aber auch das war in Ordnung. Sie kannten sich. Schon sehr lange. Das letzte mal waren sie sich in einer bewaldeten Talsenke etwa vierzig Meilen südöstlich von Ratiaria begegnet. Damals hatte sich der Hund an seinem Hals gütlich getan. Das war siebenundzwanzig Jahre her. Nun war er wieder da, um sich den nächsten Bissen zu holen. Malleus konnte das gut verstehen, und er empfand auch keinen Hass auf das Tier, war es doch auch nur ein Teil der Ordnung die Alles zusammenhielt. Irgendwann, vielleicht heute, vielleicht morgen, würde der Hund sein Mahl beenden. Gut möglich, dass er den Tag und die Stunde bereits kannte und deshalb so geduldig war. Noch aber pulsierte das Blut durch seine Beute.


    Ganz in der Nähe, nur ein paar Schritte entfernt, hatte sich ein anderer Hund niedergelassen, um sich am Fleisch des jungen Curio zu laben. Malleus war sich den Tatsachen vollkommen bewusst. Schließlich war er wach und am Leben. Seine Sinne mochten sich nach innen gekehrt haben, verlassen hatten sie ihn nicht. Er roch sein Blut. Schmeckte die rostige Patina auf seiner Zunge. Spürte die zerrenden Bisse des grauen Hundes. Hörte gedämpfte Stimmen von nebenan. Sah auch die rotbraune Wolke über sich hinwegziehen, in der er Alpina mehr erahnte als erkannte. All das wahrzunehmen gelang ihm noch immer, sich zu bewegen jedoch, gelang ihm kaum. Sein Körper fühlte sich an wie begraben. Fünf Ellen tief verscharrt in feuchtem Lehmboden und gekrönt mit einer Steinkuppel aus kindsgroßen Findlingen. Alles war in Ordnung, soviel stand fest. Und diese Ordnung, das wurde ihm zunehmend klarer, verlangte von ihm, die Gier seines alten Bekannten nicht zu sättigen, solange seine Pflichten nicht erfüllt, seine Schulden nicht abgegolten und seine Versprechen nicht erfüllt waren. Sterben ist keine Entschuldigung für Nachlässigkeit. Wie oft hatte er das seinen Rekruten an die Köpfe geworfen? Nicht oft genug, wie er auf den Schlachtfeldern von Moesia und Pannonia hatte feststellen müssen. Hier wurde nicht gestorben! Hier nicht und auch nicht nebenan. Das sah der Tagesbefehl nicht vor.


    Die Zähne so fest zusammengebissen, dass sein Kopf sich anfühlte, als bestünde er nur aus zwei knackenden Kiefern, versuchte Malleus, sich zur Seite zu drehen, die Wolken vor seinen Augen zu vertreiben und zu sehen, was um ihn her geschah. Es dauerte Ewigkeiten, und der Hund hatte seine helle Freude daran. Sollte er, das ging schon in Ordnung. Was Malleus dann endlich sah, war die quälende Mühsal allerdings nicht wert. Er starrte auf eine Wand, eine kühle glatte Wand. Daneben ein Durchgang. Das war alles. Was im Raum jenseits des Durchganges vor sich ging, blieb seinen blinzelnden Blicken verborgen. Aber er vernahm Schritte. Immerhin. Und er konnte die monoton vor sich hinmurmelnde Stimme einer Frau hören. Ansonsten nahm er nicht viel wahr. Nur die Wand, die Schritte, die Stimme und das Wühlen der Hundeschnauze zwischen seinen Rippen.

    Malleus starrte mit unbewegter Miene auf die flinken Hände Alpina’s hinunter. Sie verrichtete ihr Werk ruhig und konzentriert. Und sie wusste zweifellos was sie tat. Ob es auch ausreichen würde, den jungen Helvetius zu retten, war eine ganz andere Frage. So wie Curio nun auf der Kline lag, mit abgewickeltem Verband und offen klaffender Wunde, wirkte er noch lebloser als zuvor. Sollte dieser Mann sterben – das schwor Malleus bei seinen Ahnen – würden ihm weitere folgen. Ob ihre Beteiligung bewiesen werden konnte oder nicht. Es gab ohnehin bereits zu viele Menschen in den Gassen der Stadt. Zunächst jedoch galt es, das bisschen Leben, das noch in Curio war, um jeden Preis zu schützen. Aber dazu brauchte es einen klaren Kopf, und seiner schien sich Atemzug um Atemzug immer weiter einzutrüben. Schnaufend wischte er sich den strömenden Schweiß vom Gesicht und versuchte sich zu konzentrieren. Liam musste sofort verständigt werden, Bolanus, sollte er auffindbar sein, ebenso. Niemand durfte rein. Niemand durfte raus. Nur er oder Liam. Gab es Waffen im Haus? Wenn ja, wo? Kaum hatte er den Arm gesenkt, wölbten sich schon wieder dicke Schweißperlen auf seiner Stirn, die ihm in die Augen zu rinnen drohten. Verflucht nochmal! Erneut wischte er sich über das Gesicht. Dabei erblickte er den langen Schnitt an seinem linken Unterarm. Sah schlimmer aus als es war. Wenn er den Arm nicht in die Latrine steckte, würde das recht schnell verheilen. Alles in Ordnung.


    Wo war er mit seinen Überlegungen stehen geblieben? Das Gebäude. Richtig. Acanthos musste sofort Vorkehrungen treffen. „Acanthos. Es eilt.“ brummte er rau, während er sich zum Scriba umdrehte. „Wir müssen umgehend ..“ Acanthos war schon auf dem Weg. „Guter Mann.“, lächelte Malleus nickend in’s Leere. Wahrlich ein guter Mann. So richtig warm würde er mit dem verschlossenen Makedonen wohl nie werden, seinen uneingeschränkten Respekt besaß der Scriba aber allemal. Nach einem letzten bitteren Blick auf den bleichen Curio schickte Malleus sich an, Acanthus zu folgen, wurde aber sowohl von seinen seltsam federnden Beinen als auch Alpinas’ fragender Stimme abgebremst. Zuerst wusste er nicht, was sie meinte. Den Unterarm? Wohl kaum. Etwas verwirrt glotze er an sich hinunter, sah seine mittlerweile von Blut durchtränkte Tunika unter dem Mantel hervorschimmern und begriff, warum sie gefragt hatte. Wenngleich ihn die verletzte Flanke inzwischen kaum mehr schmerzte, sah es unter der Tunika wohl nicht besonders appetitlich aus. Aber je müder er wurde, desto leichter wurde ihm seine rechte Körperseite. An sich ein ganz angenehmes Gefühl.


    „Das? Ist nicht alles meins ..“ antworte er mit träger Zunge. „Bisschen was ist von Curio .. und ne ganze Menge von einem ehemaligen Soldaten .. aber der ist tot .. kann dem Aedilen nicht mehr gefährlich werden.“ Dann setzte er ein freundliches Lächeln auf, und schritt auf die Tür zu. „Tu dein Bestes, Alpina.“ Jeder hatte seine Aufgabe. Alpina würde gewiss alles für Curio tun, was ihr nur möglich war. So wie Acanthos und Liam. So wie Kaeso. So wie er selbst. Was für ein Glücksfall, die kundige Kräuterfrau im Haus zu haben, dachte er noch auf dem Weg zur Tür, in diesem großen schönen Haus, mit den kühlen glatten Mauern und den sauberen glänzenden Böden. Dann fiel er vornüber und blutete ihn voll, den sauberen glänzenden Boden.