Ohne sich den Mantel umzulegen, blickte Malleus gedankenverloren an der alten Buche empor. Von Osten schob sich bereits Düsternis über die Wipfel. Die tief stehende Wintersonne mochte noch für eine knappe Stunde Tageslicht gut sein, führ mehr auch nicht. Selbst wenn Malleus ernsthaft in Betracht gezogen hätte, sich unverzüglich auf den Rückweg zu machen, wäre es dafür längst zu spät gewesen. Müßig, abzuschätzen, wie weit er vor Einbruch der Nacht gekommen wäre, ohnehin hatte er nicht vor, sich davonzumachen, ohne ein paar Antworten erhalten zu haben. In Mogontiacum wurde er weder erwartet noch vermisst, und wenn Eldrid seine Anwesenheit nicht ertragen konnte, würde er eben bei den Gesellen in der Schmiede übernachten. „Ist dir nicht kalt, Onkel Wunold?“ hörte er Ulf fragen, und gewahrte im gleichen Moment den aufkeimenden Schmerz, der sich wieder einmal anschickte, durch die linke Seite seines Oberkörpers zu wandern. Kälte und Schwertwunde. Keine gute Kombination. Er musste besser auf sich acht geben. Mit einem unterdrückten Keuchen warf er sich den Mantel über, knüpfte sich die Schließbänder zu und ließ dann langsam seine Schultern kreisen. Ulf beobachtete die Lockerungsübungen mit unverhohlener Faszination. „Hat sie das öfter? Wind im Kopf?“ Anstatt zu antworten, begann der Kleine, die Bewegungen seines Oheims etwas unbeholfen nachzuahmen. Dass er sich dabei ausnahm wie ein balzender Birkhahn, tat dem Eifer keinen Abbruch. Malleus sah dem flatternden Bengel eine Weile wortlos zu, trat dann aus dem langen Schatten der Buche und schlug, ohne recht zu wissen, warum, den Weg hinauf zum Quellhang ein. Nach gerade einmal zwanzig Schritten kam ihm das unförmige Knäuel auch schon nachgewuselt. „Nicht oft, aber manchmal schon.“ berichtete Ulf schnaufend. „Meistens, wenn fremde Leute zu Papa in die Schmiede kommen. Da kriegt sie Angst, glaub ich.“ Malleus nahm die Information brummend zur Kenntnis, hatte aber so seine Zweifel, ob der Junge Eldrid’s Verhalten richtig zu deuten imstande war. Nach Angst hatte das nicht ausgesehen, eher nach tiefsitzendem Hass. „Angst wovor?“ fragte er trotzdem. Ulf zuckte mit den weichgepolsterten Schultern. „Weiß ich doch nicht. Bist du auch ein Schmied?“ Malleus verneinte. „Dann bist duu ..“ Ulf’s Stimme wurde zu einem bedeutungsschweren Raunen, „.. ein Gode?“ Fast hätte Malleus laut aufgelacht. „Nein, das schon gar nicht.“ Ob ihn diese Klarstellung enttäuschte oder beruhigte, wusste der neugierige Dreikäsehoch wohl selbst nicht so genau, jedenfalls hielt er für’s erste die Klappe.
Je weiter Malleus der verschneiten Dorfgasse nach Norden folgte, desto fremder wurde ihm die Siedlung. Das einstige Dorf hatte am Fuß des bewaldeten Hanges geendet. Am Saugatter des alten Gotmar, vor einem kleinen Eibenwäldchen. Einige der Eiben standen zwar noch immer, markierten aber nicht mehr die Dorfgrenze. Auch jenseits der Bäume lugten weitere Giebel über die Schneeberge. Die Gasse knickte in einer flachen Steigung nach Osten ab. Zu den Quellen jedoch ging es geradeaus, zwischen Koben und Kate hindurch den Hang hinauf. Zielstrebig marschierte Malleus bergan. Das Wohnhaus rechts des ausgetretenen Pfades war deutlich höher gebaut und augenscheinlich neuer als die übrigen Langhäuser unten im Dorf. Zudem bestanden die Außenwände weder aus Lehm, Torfplaggen oder Grassoden, sondern aus gemauerten Steinsockeln und behauenen Stämmen, ebenso wie der Stall gegenüber. Nicht gerade praktisch für den germanischen Winter, fand Malleus, sah aber gut aus. Hinter dem Stall war auch schon wieder Schluss mit den Neuerungen. Dort ragte der obligatorische Misthaufen aus einer flach ausgehobenen Sickermulde. Ein sehniger alter Knecht schaufelte die Hinterlassenschaften des Stallviehs in die Mulde, beaufsichtig von einem hoch aufgeschossenen jungen Burschen, dem Dummheit und Arroganz schon von weitem anzusehen war.
„Oh je. Blödmann Trautwin.“, warnte Ulf halblaut von hinten, „Der gehört schon zu den Großen.“ In der Tat, das war nicht zu übersehen. Der Knecht glotze das heran schreitende Paar kurz verwundert an und verschwand dann eiligst im Stall. Blödmann Trautwin dagegen trat zwei Schritte von dem dampfenden Haufen weg und versperrte mit geblähter Brust den Weg. „Das ist Folkward’s Grund!“ intonierte er mit glühendem Stolz im Blick. Malleus stapfte ungerührt weiter. Folkward’s Grund. Am Arsch. Das war der Weg zum Quellbecken. Seit jeher. Die Gebäude beiderseits des Pfades mochten auf Folkward’s Grund stehen, die alten Wege gehörten allen oder niemandem. Seltsame Ansichten hatten hier Einzug gehalten. Römische Ansichten.
Lediglich ein ersticktes Ächzen wurde laut, als Trautwin von Malleus’ linker Schulter abprallte, danach war außer den schweren knirschenden Schritten des Veteranen eine Weile nichts mehr zu hören. Bis die Stille von einem erschrockenen Quieken durchschnitten wurde, das Malleus augenblicklich auf dem Absatz kehrt machen ließ. Ein völlig verdrecktes Etwas lag in der Mistmulde und versuchte verzweifelt, trotz der dicken Kleiderschicht auf die Beine zu kommen. Am Rand der Mulde hatte sich Trautwin aufgebaut, mit verschränkten Armen und einem triumphierenden Grinsen im bartlosen Gesicht, das allerdings krampfhafte Züge annahm, als er den nunmehr ausgesprochen schlecht gelaunten Malleus auf sich zu stampfen sah. „Das ist Folkward’s Grund.“, krächzte das Bürschchen noch einmal, sah aber wohl sogleich ein, dass das den nahenden Hünen einen Dreck interessierte. „Der .. der hat mir die Zunge rausgestreckt!“ suchte er sich nun schrill zu verteidigen, ohne Erfolg. Als ihn nur noch fünf Schritte vom Verderben trennten, tat er endlich das einzig Richtige, in dem er den hustenden Ulf so behutsam es ging aus der Mulde zog und auf die Beine stellte. Eine Armlänge vor dem käsebleich gewordenen Jüngling rammte Malleus seine Calcei in den harschen Schnee. „Die Mütze.“ Ganz so blöd schien der Blödmann nun auch nicht zu sein, immerhin begriff er sofort was gemeint war und watete bereitwillig in den Mist, um die tropfende Fellkappe seines Opfers herauszufischen. Ulf riss sie ihm wütend aus der Hand. „MEIN ONKEL WILL DA HOCH!“, wurde der bleiche Trautwin angequäkt, „UND WENN ER DA HOCH WILL, GEHT ER AUCH DA HOCH!“ Malleus verbiss sich ein Grinsen. So wichtig war es ihm gar nicht mehr, da hoch zu gehen. Vielleicht war es eher angeraten, sich mit dem eingesauten Bengel auf den Rückweg zu machen. Ulf schien entschieden anderer Auffassung. Mit hochgerecktem Kinn drückte er sich die schmierige Kappe auf den Kopf und watschelte voraus. „Du hättest ihn verhauen können.“ nölte Ulf leicht beleidigt, als Malleus ihn eingeholt hatte. „Du hättest ihm nicht die Zunge rausstrecken müssen.“ entgegnete Malleus dumpf. Darauf fiel dem besudelten Kerlchen nichts Geistreiches mehr ein.
Kaum drei Dutzend Schritte hangaufwärts kamen sie an die Stelle, an der das Bachbett zu einer sanften Schleife um das Dorf herum hinaus auf die Ebene ansetzte. Nach einem weiteren Dutzend schließlich erreichten sie die breite Felsvertiefung, in der sich die trüben Rinnsale dreier Waldquellen sammelten und zum künftigen Bach vereinten. Das Quellbecken. Malleus trat andächtig näher, atmete tief ein und kniete sich auf den Fels. Schwere Düfte trieben in dünnen Wolken über die Wasserfläche, ausgewaschen aus den Eingeweiden der Erde, an die Oberfläche getragen von uralten Quellströmen, die ihrerseits einst der Quelle des Mimir entsprungen waren. Dies war ein Ort der Einkehr. Ein heiliger Ort. Ohne den stillen Spiegel zu trüben, ließ er seine Hände langsam über das Wassers gleiten. Feuchte Wärme stieg auf, netzte ihm die schwieligen Handflächen. „Jetzt weiß ich’s!“ fiepte es plötzlich hinter ihm, „Du bist ein König! Stimmt’s?“
Malleus zog im Reflex die Hände zurück. Richtig, der Kleine war ja auch noch da, den hätte er fast vergessen. „So? Kein Bär?“ knurrte er über die Schulter. „Ach Onkel. Bären haben doch auch einen König. Du bist ein bestimmt ein großer König!“ Jetzt, da ihm Ulf wieder in’s Bewusstsein getreten war, drang auch dessen Gestank wieder zu ihm durch. „Es gibt keine Könige mehr. Hier nicht.“ erklärte er unwirsch. Und Bären auch nicht, wollte er noch hinzufügen, ließ es aber bleiben, als er in Ulf’s braun verkrustetes Gesicht blickte. So konnten sie nicht in Malvin’s Haus aufkreuzen. „Und wo sind die hin?“ fragte Ulf ungeniert weiter. Malleus blieb die Antwort schuldig, nestelte sich stattdessen das Focale vom Hals und tauchte es in’s laue Wasser. „Verflucht nochmal, Junge, du stinkst nicht nur wie ein Scheißhaufen, du siehst auch so aus. Komm mal her.“ Ulf kam. „Kopf hoch. Stillhalten.“ Es kostete Malleus einige Mühe, dem Kleinen die Jauche aus dem Gesicht zu wischen, schon weil der sich nicht eben kooperativ zeigte und immer wieder an der Mantelschließe seines Onkels herumfummelte. „Was ist das, Onkel?“ fragte er mit einem mitleidigen Blick auf Malleu’s entblößten Hals. „Eine Narbe. Stillhalten hab ich gesagt!“ Ulf formte das Gesagte lautlos mit den Lippen nach und bohrte dann weiter. „Tut dir das weh?“ Malleus tauchte das Halstuch erneut ein. „Nein.“ log er – nicht gerade überzeugend. „Wirklich nicht? Gar nicht? Nicht mal ein bisschen?“ Seufzend ließ Malleus das schmutzstarrende Focale sinken. „Naja. Doch, ein bisschen schon. Warum willst du das wissen?“ Ulfs sah traurig von ihm weg auf die Dächer des Dorfes hinab. „Weil, Tante Eldrid hat ganz viele davon.“