Beiträge von Cossus Malleus

    Am Morgen nach der Vereidigung des neuen Aedilen stand Malleus erneut vor dessen Casa und klopfte an. Dieses Mal allerdings hatte er nicht erst um einem Termin ersucht. Der Ianitor, so nahm er an, war sicher bereits eingeweiht, und wenn nicht, war er es eben jetzt. Je schneller er sich den kantigen Veteranenschädel einprägte, umso besser. Ohnehin würde der hochgewachsene Bursche in nächster Zeit alle Hände voll zu tun bekommen. Die Wahl zum Aedil war für Curio ohne Zweifel mit einem ganzen Haufen neuer – meist falscher – Freunde und Sympathisanten verbunden, die sich hier in den nächsten Monaten die Klinke in die Hand geben würden. Da galt es, den Überblick zu behalten und die nötige Distanz.


    Wieder dauerte es ein Weilchen, bis sich jenseits der Porta etwas rührte. Malleus nützte die Zeit, um sich noch einmal seiner spärlichen Ausrüstung zu widmen. Cingulum, Pugio, der Beutel mit den selbsthergestellten gewachsten Holztäfelchen, Stylus, eine eingerollte Alligatura und natürlich sein sehr geschätzter Schnallenriemen – alles am Mann. Alles an seinem Platz. Mehr brauchte er nicht. Dass er sich für diesen Anlass extra den Bart in Form gestutzt und mit seinen letzten Sesterzen eine neue aschgraue Tunika erworben hatte, war nur schmückendes Beiwerk. Ein Zugeständnis an den guten Ruf seines Dienstherren sozusagen. Von ihm aus konnte die Porta jetzt aufgehen. Er war fertig zum Appell.

    Malleus stellte mit Wohlgefallen fest, dass die galante Duccierin von sonnigem Wesen war und das Herz offenbar am rechten Fleck hatte. Was sie über ihre Familie sagte, entlockte ihm ein leises Lachen. Wohl denen, die wussten, wer sie waren und woher sie kamen. Nicht in den Zweigen, in den Wurzeln liegt des Baumes Kraft, wie man so sagte. Es würde sich gewiss noch die passende Gelegenheit für eine Unterhaltung ergeben, daran hatte er kaum Zweifel. Helvetius Curio war ein ebenso zielstrebiger wie kompetenter junger Mann. Wenn ein solcher Bursche nicht die Möglichkeit erhielt, sich als Aedil zu bewähren, waren die Wähler des Municipiums weit dämlicher als Malleus sie in Erinnerung hatte. Aber zunächst einmal musste der Wahlkampf abgeschlossen und das Votum abgewartet werden. Danach würde man weiter sehen.


    „Den wünsche ich dir auch, werte Duccia Silvana.“, entgegnete er freundlich und neigte dann den Kopf in Richtung des Helvetiers. „Dir natürlich ebenso, geschätzter Helvetius Curio. Ich danke dir für deine Zeit, dein Vertrauen und deine Gastfreundschaft. Hoffen wir nun, dass deine Bemühungen mit Erfolg gekrönt werden. Sollte das der Fall sein, stehe ich zu deiner Verfügung. Gratias ago et vale bene.“ Als er sich zum Vorhang umdrehte, hinter dem vermutlich bereits der Inaitor wartete, streifte sein Blick noch einmal den drallen Bauch der hübschen Germanin. „Und du, Frau ..“ lächelte er Silvana gutmütig zu, „. gib gut auf dich acht. Aasheil ok Vana.“

    „Rom?“ kam es dumpf unter dem Mantel hervor, „Ich war mal in Borbetomagus. Mit meinem Vater und meinem ältesten Bruder. Aber das ist lange her. Da war ich noch ein junges Mädchen.“ Obgleich die neue Sachlage nicht gerade Anlass zu Frohsinn bot, musste Malleus dennoch schmunzeln. Junges Mädchen. Lange her. Luitberga hatte allerhöchstens fünfundzwanzig Lenze auf dem breiten Buckel, auch wenn sie durch ihre grobe Statur deutlich älter wirkte. „Warum fragst du?“ Ihre Frage war nachvollziehbarer als die seine. Ja, warum eigentlich? Warum fragte er? Er spielte doch nicht ernsthaft mit dem Gedanken, das, was er sich vorgenommen hatte, einfach zu verwerfen, weg zu gehen und Luitberga mitzunehmen. Oder doch?


    Malleus kratzte sich nachdenklich den Bart. Hatte sich nicht eben erst auf schmerzhafte Weise bestätigt, dass Bindungen, gleich welcher Art, ihn nur schwächten? Die einzige Bindung, die ihm jemals Halt gegeben hatte, war die Bindung an seinen Fahneneid. Fürwahr, er hatte alle Befehle des Princeps entschlossen ausgeführt, den Dienst niemals verlassen, den Tod nicht gescheut. Was das betraf, konnte ihm niemand etwas vorwerfen. Nur einer der vielen unausgesprochenen Pflichten war er nicht nachgekommen: Er hatte vergessen, sein Leben zu lassen. Publius hatte es besser gemacht. Selbst der sinnloseste Tod war am Ende nicht schlimmer als ein sinnloses Leben. Hatte er deshalb gefragt? Weil er sich der Illusion hingeben wollte, seine restlichen Jahre doch noch mit so etwas wie Sinn erfüllen zu können? Dann allerdings war er ein Narr.


    Durch sein Schweigen herausgefordert reckte Luitberga den blonden Kopf unter dem Fellmantel hervor und blickte ihn forschend an. „Du willst doch wohl nicht wieder fortgehen?“ Malleus konnte nur mit den Achseln zucken. Wollen war nicht der Punkt. Vielleicht würde er es eines Tages müssen. „Ist es wegen deinem Freund?“, bohrte Luitberga weiter, „Oder weil dir das Geld ausgeht? Wolltest du nicht für diesen Helvetier arbeiten? Gut, wenn du’s dir anders überlegt hast, auch nicht so schlimm. Ich kann in der Taberna immer bisschen was zu Essen abzwacken. Du wirst mir schon nicht verhungern.“ Malleus begann erneut zu schmunzeln. Sie hatte den Sinn der Frage tatsächlich nicht kapiert. Besser so.


    „Immer langsam, Berga. Noch ist der Helvetius bloß Kandidat. Wenn er aber gewählt wird, und das halte ich für wahrscheinlich, werde ich selbstverständlich für ihn arbeiten. Ich stehe zu meinem Wort.“ Das schien sie nur noch mehr zu verwirren. „Dann weiß ich nicht, was das blöde Geschwätz über Rom soll.“ Malleus gab ein gedehntes Brummen zum Besten. „Lass uns ein andermal darüber reden. Ja?“ Langsam wurde ihm warm unterm Mantel. Zudem hatte er noch so einiges zu tun. Die Pferde brauchten Futter, eine Dachkammer harrte der Besichtigung, Erkundigungen waren einzuholen, vor allem anderen aber musste er seine täglichen Übungseinheiten absolvieren.


    Luitberga zog erst eine beleidigte Flappe, wuschelte ihm dann aber lächelnd mit den langen Fingern durch’s Haar und erhob sich. „Natürlich. Erst gackern und dann nicht legen. Aber gut, ich wollte sowieso gehen. Heute ist mal wieder großer Spielabend in der Taberna. Da muss ne Menge vorbereitet werden. Schaust du auch mal rein?“ Malleus stöhnte auf. Trex. Tris. Duodecim Scripta. Ludus Latrunculorum. In den meisten Fällen lediglich kurzweilige Einleitungen zu Suff mit anschließender Keilerei. Gut für die Reflexe, schlecht für den Ruf. „Mal sehen.“


    Luitberga nickte, rieb sich den hünenhaften Körper mit ihrer Tunika ab, zog sich die Kleidung über, schlüpfte in riesige Calcei und schlurfte schließlich mit einem neckischen Winken der Stalltür zu. „Da vorne steht eine gefüllte Waschschüssel!“ rief Malleus ihr aus reiner Gewohnheit nach. „Ich weiß. Die steht da immer.“ trällerte es zurück. Dann fiel die Tür zu.

    Mit dem Rücken an den Trog gelehnt, halb sitzend halb liegend, hielt Malleus die Schriftrolle von sich fort wie eine gefangene Sandviper. Vergeblich. Das lähmende Gift der dürren Zeilen floss bereits durch seine Adern und begann seinen Geist zu vernebeln. Trotzdem setzte er sich den brennenden Bissen immer wieder aus, versuchte den lapidaren Sätzen eine andere Bedeutung anzudichten als die Offenkundige. Aber es half nichts, er konnte das Schreiben lesen, so oft er wollte, es stand jedes mal dasselbe drin. Als er die Todesnachricht behutsam wieder zusammenrollte und mit dem Verschlussband versah, tat er das, ohne sich dessen bewusst zu sein. Eine Woge aus Erinnerungen schlug über ihm zusammen. Ein strampelnder Taugenichts, der im Hafenbecken von Ostia unterzugehen drohte. Ein nervtötender kleiner Quälgeist, der Malleus am Tunikazipfel klebte wie Pferdeschweiß. Ein verbissener Bursche, der sich tapfer durch sein Übungspensum quälte, bis es ihm hoch kam. Ein selbstbewusster aufrechter junger Mann, der seinen Zuchtmeister mit warmem Stolz erfüllte. Ein Verführer. Ein Schlitzohr. Ein schlechter Lügner und geduldiger Zuhörer. Ein feiner Junge. Ein guter Freund. Ein Sohn. Die ganzen Jahre der Ausbildung, die Mahnungen, die Ratschläge, die väterliche Zuneigung, alles umsonst. Er hätte Publius damals ersaufen lassen sollen. So hatten es dessen römische Götter offenbar gewollt. Wer war er, der Vorsehung in’s Handwerk zu pfuschen und sich in fremder Leute Leben zu mischen? Wer war er, sich einzubilden, irgendwo noch einen Platz zu finden, wo er gebraucht wurde und etwas bewirken konnte? Männer wie er taten gut daran, sich an nichts und niemanden zu binden, sie brachten ihren Mitmenschen kein Glück.


    „Malleus?“ Die Stimme kam ihm bekannt vor. Müde sah er auf und erblickte eine große sperrige Frauengestalt. Derbe Gesichtszüge. Struppiges blondes Haar. Massiger Körper. Verschwitzt, verklebt, nackt kniete sie im Stroh und schlug die breite Stirn in Falten. „Was ist denn? Schlechte Neuigkeiten?“ Malleus sah Luitberga lange schweigend an, tastete dann nach seinem alten Fellmantel, bekam ihn schließlich zu fassen und schlug ihn auseinander. „Komm her, Berga. Du holst dir den Tod.“ Luitberga kroch auf ihn zu und ließ sich an seiner Seite nieder. „Erinnerst du dich noch an meinen jungen Freund?“ brummte er leise, während er den Mantel um seine und Luitberga’s Schultern schlang. „Den Römer, den ich am ersten Abend dabei hatte?“
    „Ja. Gut sogar. War ein außergewöhnlich hübscher Junge.“
    „Das ist wahr.“, lächelte Malleus versonnen, „Das ist wohl wahr.“ Publius war sich dessen auch durchaus bewusst gewesen und hatte diesen Vorteil stets zu auszuspielen gewusst. Wenigstens hatte Malleus' Eingreifen dem Jungen noch ein paar Jahre des Reifens und der amourösen Abenteuer verschafft. Das war immerhin ein kleiner, ein winziger Trost.


    „In dem Brief steht, dass er gestorben ist, hab ich recht?“, fragte Luitberga nach einer Weile geduldigen Schweigens, die sie dazu genutzt hatte, Malleus die Strohhalme aus den Brusthaaren zu zupfen. Malleus nickte. Er hatte das Schreiben dutzende Male gelesen, an dieser Aussage war nicht zu rütteln. „Woran denn?“ An einer Krankheit, durch einem Unfall, infolge einer Auseinandersetzung – da gab es mannigfache Möglichkeiten für einen jungen Rekruten. „Steht nicht drin.“ Damit gab sich Luitberga zunächst zufrieden. Nicht all zu lange allerdings. Nachdem der letzte Halm ausgezupft war, zog sie sich den Mantel bis über die Ohren, was ihre nächste Frage etwas dumpf klingen ließ. „Und wann?“ Malleus konnte nicht umhin, zu lächeln. Sie wollte mal wieder alles ganz genau wissen, ob es nun von Belang war oder nicht. „Steht drin, spielt aber keine Rolle. Auf alle Fälle zu früh.“ Viel zu früh. Publius wäre ein guter Soldat geworden, später sicher auch ein guter Vater, wenngleich nicht unbedingt ein guter Ehemann. Wie auch immer, der Junge hatte noch so einiges vorgehabt im Leben, und in Anbetracht der wenigen Jahre, die ihm vergönnt gewesen waren, hatte er die Zeit auch gut genutzt. Malleus dagegen ...
    „Warst du schon mal in Rom?“ fragte er unvermittelt, obwohl er die Antwort bereits kannte.

    Malleus begegnete Silvana’s frundlichen Worten mit einem unverbindlichen Lächeln und strich erst einmal in Ruhe die Pteruges seines Cingulum zurecht. Sowas nannte man wohl Dilemma. Einerseits war ihm völlig klar, dass er Curio mit seinen - in dessen Augen gewiss zu weitgehenden - Überlegungen mittlerweile auf die Nerven fiel, andererseits hatte er vollstes Verständnis dafür, dass die Gattin des Hausherren sich dafür interessierte, mit welchen Gestalten ihr Gemahl seine Zeit verbrachte. Frauen waren nun mal so. Blutjunge offenkundig schwer verliebte Frauen schon gar. „Aber nein, natürlich bist du nicht der Grund für meinen Aufbruch.“, beruhigte er die hübsche werdende Mutter, verkniff sich aber tunlichst, zu einem ausschweifenden Diskurs über die Unterschiede zwischen Ursache, Grund und Anlass anzusetzen. Freilich, es hätte fraglos seinen Reiz gehabt, die Belastungsgrenzen des vielbeschäftigten Helvetiers weiter auszuloten, schon aus rein beruflichem Interesse, aber für einen Tag - ach was, für den ganzen Monat - hatte Malleus bereits mehr als genug gequatscht. Er vermochte durchaus einzuschätzen, wann er störte, und es kam sogar gelegentlich vor, dass er auch Rücksicht darauf nahm.


    Die Vorstellung der langen Gesichter, die weiteres Salbadern seinerseits verursachen würde, ließ dann aber doch deutlich mehr Wärme in sein Lächeln fließen als ursprünglich geplant. „Ich weiß dein freundliches Angebot zu schätzen, werte Duccia Silvana. Aber du kennst den straffen Zeitplan deines Gatten gewiss besser als jeder andere. Ich wage mal zu bezweifeln, das die Anwesenheit eines ungehobelten alten Flegels euer gemeinsames Ientaculum sonderlich bereichern würde.“ Außerdem hatte er schon gefrühstückt. Brei mit Schwarten. Jeder wie er kann.

    Als Bulbus’ junger Stallbursche Thilo seinen Kopf zwischen zwei aufgespannten Pferdedecken hindurch steckte und sich umständlich zu räuspern begann, hätte Malleus ihm liebend gerne einen Stiefel an den Schädel geworfen. Dumm nur, dass er dafür erst einmal nach einem seiner hohen Calcei hätte suchen müssen. Das Schuhwerk lang wohl irgendwo unter dem Wust aus Stroh und Kleidungsstücken verborgen, auf dem Luitberga und er gerade dabei waren, dem ereignisreichen Morgen ein weiteres Ereignis hinzuzufügen. „Scheiße nochmal! Was willst du hier?“, blaffte der Veteran kurzatmig, ohne von der dampfenden Germanin abzulassen. „Ein Brief ist gekommen.“, kam es dünn zurück. Malleus schüttelte kurz den Kopf, ließ sich aber nicht aus dem Rhythmus bringen. „Hast du gehört?“, keuchte er amüsiert, „Ein Brief ist gekommen. Nicht zu fassen, oder?“ Luitberga kicherte kehlig auf. „Hauptsache, du bist noch nicht gekommen.“ Da sagte sie was.
    „Aber .. der ist für dich .. DER BRIEF IST FÜR DICH!“, quengelte Thilo tapfer gegen den steigenden Geräuschpegel an. Malleus ackerte unbeirrt weiter. Der Zeitpunkt, an dem ihn derartiges noch interessiert hätte, war definitiv überschritten. „ICH LEG IHN DANN MAL HIER HIN!“ Mir doch egal, war der letzte Gedanke, den Malleus bewusst wahrnahm, dann meldetet sich sein Hirn bis auf weiteres ab.


    Irgendwann, nach einer stillen Ewigkeit süßer Ermattung, begannen allmählich die ersten Gedankenfasern über Malleus’ leergeblasenen Geist zu flackern. Der frühmorgendliche Besuch bei Helvetius Curio zog neblig an ihm vorbei. Das Gespräch. Die Grübeleien auf dem Rückweg. Luitberga, die ihn schon in seiner Unterkunft erwartet hatte. Und noch was, das er aber zunächst noch nicht greifen konnte. Erst Luitberga’s entspanntes Hauchen brachte ihn drauf. „Du bekommst Briefe?“ Ach ja, richtig, da war doch dieser lästige kleine Rotzlöffel gewesen. Unendlich träge schälte er sich aus Luitberga’s Umklammerung, stemmte sich auf die Ellbogen und sah sich blinzelnd um. Tatsächlich, auf dem umgedrehten Schweinetrog, der Malleus gleichzeitig als Tisch und Stuhl diente, lag eine dünne Schriftrolle. Wenigstens hatte der Bengel so viel Schmalz in der Rübe gehabt, die Rolle nicht einfach irgendwo hinzuschmeißen.


    „Für gewöhnlich nicht.“, klärte er Luitberga gähnend auf „Magst ihn nicht lesen?“ Malleus erging sich in Gebrumm. Nein, mochte er eigentlich nicht. Nicht jetzt jedenfalls. „Vielleicht ist es wichtig?“ Das Brummen ging in unwilliges Stöhnen über. Weiber! Er hatte gute Lust, seiner muskulösen Gespielen vorzuschlagen, den Brief doch gefälligst selber zu lesen, was sie nicht konnte, aber das hätte nur zu einem postkoitalen Ringkampf geführt, und darauf hatte er im Moment erst recht keine Lust. Also robbte er widerwillig knurrend durch's Stroh, streife das Band von der Rolle und hielt die kurz gefasste Nachricht in den trüben Schein der Schweineblasenlaterna.

    Während Curio noch dabei war auf Malleus’ letzte Frage einzugehen, raschelte der Vorhang und eine offensichtlich hochschwangere blonde Schönheit, allem Anschein nach Germanin, kam in’s Triclinium geschwebt. Nicht schlecht, befand Malleus, wenn das die Gemahlin seines Gegenübers war, konnte der sich einen gesegneten Mann nennen. Und richtig, nachdem er zwischenzeitlich etwas aus dem Konzept geraten war, stellte Curio die sogar mit drallem Bauch noch äußerst wohlgeformte Frau als seine Gattin vor. Silvana, eine Duccierin. Ob nun aus Instinkt oder Zufall, so oder so war Duccia Silvana zum rechten Zeitpunkt erschienen. Zwischen den Männern war soweit alles gesagt, und bevor die kühle Distanz, die sich gerade in Malleus aufbaute, greifbar wurde, war es besser, diese nicht unangenehme Unterbrechung zum Anlass zu nehmen, sich allmählich auf den Weg zu machen.


    „Hejsa, Duccia Silvana.“, nickte Malleus der blonden jungen Frau mit einem verschmitzten Lächeln zu. „Cossus Malleus. Sehr erfreut. Keine Angst, ich werde dir deinen Gemahl nicht länger vorenthalten.“, und mit einem höflichen Nicken in Curio’s Richtung: „Nun, es ist wohl alles besprochen, Helvetius Curio. Solltest du meine Dienste schon vor der Zeit benötigen, lass es mich einfach wissen. Ich werde noch eine Weile bei Potitus Bulbus zu erreichen sein. Spätestens wenn deine Wahl feststeht, werde ich mich in deinem Officium einfinden.“ Dann stand er auf, zog Mantel und Cingulum zurecht und deutete eine leichte Verneigung an. „Welch verheißungsvoller Morgen. Möge ein ebenso verheißungsvoller Tag folgen.“

    Malleus hörte sich in Ruhe an, was der Hausherr über Aufgabenverteilung, Lageeinschätzung und Mietkonditionen zu sagen hatte und ließ dann ein zustimmendes Brummen vernehmen. Der Helvetius wollte keine Fremden im Haus. Völlig nachvollziehbar. Ebenso nachvollziehbar war auch der für ihn unerschwingliche Mietpreis. Damit hatte er schon gerechnet. Die Ideallösung war eben nicht immer die beste Lösung. Dass Curio ihm trotz Kenntnis der hohen Miete diese Alternative überhaupt vorgeschlagen hatte, nahm er mal so hin, und zog seine Schlüsse daraus. Nahe beim Forum zu wohnen, noch dazu in einer bezahlbaren Bleibe hatte jedenfalls auch seine Vorteile. Von dort waren es nur ein Paardutzend Schritte zur Taberna Silva Nigra und etwas mehr als eine Viertelmeile zu Bulbus’ Stallungen, wo Funkan und Procella untergebracht waren. Das passte alles ganz gut. Malleus würde nach getaner Arbeit etwas Abstand haben und seinen Dienstherren dennoch zügig erreichen, wenn der seine Hilfe benötigte. Und falls es die Situation erforderte, konnte man immer noch eine Feldpritsche in die leere Taberna stellen, für eine Nacht oder zwei. Weiter würde er in den privaten Kreis des Helvetiers nicht vordringen. Er hatte Curio durchaus verstanden. Vollkommen. Mit einem knappen Nicken nahm er die Hand vom Weinbecher und verschränkte gemächlich die Arme vor der Brust.


    „Ich verstehe, Helvetius Curio. Schön. Dann werde ich mich also um eine der Gästekammern des Cultus bemühen und mich parallel nach einer längerfristigen Lösung umsehen. Das sollte zu machen sein. Gehe ich recht in der Annahme, dass ein Umzug erst vonnöten sein wird, wenn deine Amtseinführung erfolgt ist?“

    In Malleus begann es zu arbeiten. Zunächst einmal sprach alles für Curio’s zweitgenannte Alternative. Hier in der Casa Quartier zu nehmen, würde ihm seine Aufgabe, den Helvetius und dessen persönliches Umfeld vor Ungemach zu bewahren, erheblich erleichtern. Er hatte sich durchaus zu Herzen genommen, was Curio über seine Familie gesagt hatte, und schloss deren Schutz selbstverständlich in seine Dienstauffassung mit ein. Sollte es da irgendwelche Probleme geben, wäre er bereits vor Ort und müsste nicht erst von einem Boten herbeigerufen werden. Zudem konnte er sich so ein unverstellteres Bild von ebenjenem Umfeld machen, was für eine realistische Einschätzung der Lage ohnedies unabdingbar war. Was Luitberga betraf, würde er freilich umdisponieren müssen. Gewiss, er brauchte sich ihrer nicht zu schämen, sie war ein stolzes, aufrechtes und zuverlässiges Weib, keine verschlagene kleine Lupa. Dass sie in der Taberna der Duccier arbeitete, machte sie noch lange nicht zur niederen Dienstmagd. Nur hatte sie hier bei den Helvetiern rein gar nichts zu suchen. Wenn er einigermaßen sparsam mit seinem Verdienst umging, sprach aber nichts dagegen, den lauschigen Platz in Bulbus’ Koben auch weiterhin für allerlei Erbauliches zu nutzen. Ein Mann brauchte schließlich etwas, woraus er Kraft schöpfen konnte.


    Auf den ersten Blick überwogen also die Argumente für eine Anmietung der leerstehenden Räume im vorderen Bereich der Casa. Eine auf ein Minimum reduzierte Reaktionszeit, Einblick in die familieninternen Vorgänge, die Möglichkeit kurzfristig anberaumter Besprechungen, das leichtere Einbeziehen des helvetischen Haushaltes in eventuell nötige Schutzmaßnahmen, alles schätzenswerte Vorteile, die nicht von der Hand zu weisen waren. Vorteile natürlich in allererster Linie für Helvetius Curio. Vom finanziellen Standpunkt betrachtet kam diese Alternative für Malleus einer Torheit gleich. Sicher bestand theoretisch die Möglichkeit, sich mithilfe der Räumlichkeiten ein Zubrot zu schaffen, nur bestand sein Händchen für gewerbliche Unternehmungen aus nichts als fünf Daumen. Wenn er da an seine Erfolge als Weinhändler dachte .. nun ja.


    Für Curio dagegen barg diese Lösung keinerlei Risiko, im Gegenteil. Wenn das Gehalt seines Apparitors zum Großteil als Miete für ein bislang ohnehin ungenutztes Objekt wieder in die eigenen Schatullen zurückströmte, beziehungsweise diese erst gar nicht verließ, hatte er sich letztlich für kleines Geld umfassenden Schutz gesichert. Das war auch völlig in Ordnung so. Jeder musste sehen, wo er blieb. Vorausgesetzt, die Miete würde sein Gehalt nicht auffressen, schien Malleus die zweite Variante trotz allem noch immer die vernünftigere. Was ihm daran sauer aufstieß, hatte daher auch nichts mit den Kosten zu tun, sondern wieder einmal mit seiner ureigensten Natur. Der Gedanke, quasi zu einem Teil des helvetischen Hausstandes zu werden, schmeckte ihm ganz und gar nicht. Er war kein Atriensis, schon gar kein Aushilfsianitor und erst recht kein Leibdiener. Außerdem ließ er sich nicht gerne auf die Finger schauen, gleichviel von wem. Aber bevor er sich mit derlei Bedenken herumschlug, musste er eine Zahl hören. Wenn die entsprechend hoch ausfiel, erübrigten sich weitere Überlegungen sowieso. In diesem Fall würde es dann eben eine Dachkammer hinter dem Apollotempel werden. Auch nicht zu verachten, und – zumindest nach Ansicht des ehrenwerten Helvetius Curio – in jedem Fall besser als ein Stall. Malleus sah das naturgemäß etwas anders, wollte in diesem Punkt aber auch nicht den eingeschnappten Starrkopf spielen.


    „Ja nun, das sind gewiss zwei sehr vernünftige Alternativen, jede für sich genommen mit gewissen Vorteilen verbunden. Wem sag ich das. Ich denke aber, was meine Aufgaben und damit deine Sicherheit anlangt, sind die Argumente, die für eine Einquartierung in der Casa sprechen, geradezu bestechend. Natürlich gehe ich nicht davon aus, dass du dir in deinen vergleichsweise jungen Jahren schon genug Feinde gemacht hast, um dich Tag und Nacht bewachen zu müssen. Aber eine wohlplatzierte Natter kann mehr Chaos anrichten als ein Sack voll Vipern. Wer dir oder deiner Familie wirklich Übles will, hält sich nicht an die Besuchszeiten. Insofern ist dein zweiter Vorschlag fraglos zu favorisieren. Da stellt sich nun allerdings die Frage nach der Machbarkeit. An welchen Mietsatz hättest du da gedacht? So in etwa?“

    „Das Ende krönt das Werk.“ murmelte Malleus wolkig, weil ihm schlichtweg nichts Geistreicheres einfiel, um seine Verblüffung zu überspielen. Beim Schweife Slepnirs’, das war ein verdammt anständiges Angebot, das der Helvetius ihm hier unterbreitete. Eines, das er gar nicht ablehnen konnte, wenn er noch einigermaßen bei Trost war. Mit zehn Sesterzen hatte gerechnet, mit fünfzehn geliebäugelt. Zwanzig Sesterzen pro Woche waren erfreulich, nicht unangemessen selbstredend, aber dennoch höchst erfreulich. Zumal auch der Betrag, den Curio für Recherchen veranschlagt hatte, realistisch angesetzt war. Damit ließ sich arbeiten. Und mit dem jungen Helevtier, dessen klar umrissene Gehaltsvorstellung jedwedes Feilschen hinfällig machte, gewiss ebenso. Malleus war’s zufrieden.


    Was ihn allerdings wirklich verdutzte, weit mehr noch als der anstandslos in Aussicht gestellte Verdienst, war die Sache mit seiner Bleibe. Was um alles in der Welt war denn an einem Schweinestall auszusetzen? Noch dazu, wo es sich um einen jüngst erst von Schweinen befreiten Schweinestall handelte, einen bloßen Stall also, der nun Pferde und einen Veteranen beherbergte? Sicher, größere Empfänge würde er da keine abhalten wollen, nichtsdestotrotz passte einer wie er da vorzüglich rein. Immerhin war er in einem Langhaus geboren, was ja genau genommen auch nichts anderes war als ein Stall. Gut, zugegeben, der Stall, in dem er momentan wohnte, konnte seine ehemaligen Insassen nicht verleugnen, Schweinemist roch eben noch eine Spur penetranter als Pferdedung,. Aber es war gemütlich da drin. Gemütlich, warm und vor allem günstig. Dazu kam, dass er dort jederzeit Luitberga, die Sonne seiner Lenden, empfangen konnte, ohne vorher irgend jemanden fragen zu müssen. Vor allem aber hatte er seine Ruhe. So ein Stall war verflucht nochmal was Feines. Trotzdem war Curio’s Einwand eine gewisse Berechtigung nicht ganz abzusprechen. Es fing schon damit an, dass Malleus verfügbar sein musste. Zudem hatte der Helvetius auf seinen Ruf zu achten. Ein Apparitor, der sich jeden Morgen erst einmal aus dem klammen Stroh wühlen musste, um seinen Dienst anzutreten, war da wohl nicht gerade hilfreich. Andererseits herrschte im Municipium nicht gerade ein Überfluss an bezahlbarem Wohnraum, um diese Jahreszeit schon gar nicht. In seinem Stall hatte er wenigstens ein Dach über dem Kopf.


    Derart beschäftigt mit Selbstrechtfertigungen bezüglich seiner Wohnsituation hätte Malleus fast vergessen, die von Curio dargelegten Konditionen zu kommentieren. Nicht, dass es da viel kommentieren gegeben hätte.
    „Nun, Helvetius Curio, dein Angebot ehrt mich gleichermaßen wie es dich ehrt. Selbstverständlich nehme ich es an. Ich danke dir. “ Das war nun also das. Zeit, anzustoßen? Noch nicht. Blieb noch dieses eine leidige Thema.


    „Tja, was meine Unterkunft betrifft .. nein, mit einer Lösung kann ich da im Moment nicht aufwarten.“ Ein leichtes Grinsen bemächtigte sich Malleus’ Zügen. „Bis gerade eben wusste ich ja noch nicht einmal, dass ich ein Problem habe.“ Gewiss war das nicht die Antwort, die sich sein Gegenüber erhofft hatte, aber was sollte er machen? Jetzt, wo die Räume beheizt werden mussten, schlugen die Zimmerwirte die Hälfte der Miete nochmal oben drauf, wenn sie sie nicht gar verdoppelten. Hinzu kam, dass viele Reisende vom frühen Winter überrascht worden waren und zusätzlich hier festsaßen. Auf die Schnelle eine neue Bleibe zu finden, würde sich schwierig gestalten. „Da werde ich mich wohl schleunigst umhören müssen. Bei meinem Bruder Sebald zu wohnen, kommt jedenfalls ebensowenig in Frage, wie für ihn zu arbeiten.“

    Malleus behielt die Hand am gefüllten Becher, drehte ihn langsam zwischen den ausgestreckten Fingern hin und her, führte ihn aber nicht an die Lippen. Noch nicht. Ob es tatsächlich einen Anlass gab, ihn zu erheben, würde sich erst erweisen, wenn der Hausherr mit seinen Ausführungen zu Ende war. Es deutete zumindest alles darauf hin. Die Punkte, die Curio aufführte, waren schlüssig und nachvollziehbar. Gewiss, es fielen dabei auch Bemerkungen, die zu einer Ergänzung geradezu herausforderten, aber Malleus ließ sich nicht hinreißen, lauschte stattdessen mit ausdrucksloser Miene, quittierte die eine oder andere Aussage mit einem zustimmenden Nicken und hielt sich ansonsten bedeckt. Er hatte das Seine gesagt. Alles Weitere lag bei Helvetius Curio. Zusätzliche Kommentare würden das Gespräch nur unnötig in die Länge ziehen. Im Wesentlichen war man sich ja einig, und angesichts der Tatsache, dass sein Gegenüber ihm trotz allen Einvernehmens noch immer ein Fremder war, durfte man Curio ein gewisses Maß an Vorsicht und Zurückhaltung nicht verdenken. Ganz im Gegenteil. Wenn der Helvetius sein Vertrauen weiterhin so sparsam verteilte, wie es offenkundig in seiner Natur lag, war das Malleus nur recht. Auch für den Versuch seines Dienstherren in spe, ihn bereits im Vorfeld etwas an die Kandare zu nehmen, hatte er vollstes Verständnis. Dass seine angedeutete Herangehensweise für die Verhältnisse in einer Provinzcivitas überspitzt und unnötig martialisch wirken musste, war ihm völlig klar. Nur hatte er schon zu viele böse Überraschungen erlebt, um sich nicht auf alle Szenarien, und seien sie noch so unwahrscheinlich, entsprechend vorzubereiten. Das lag eben wiederum in seiner Natur. Und seinem Schützling konnte das nur zugute kommen.


    Alles in allem, und abgesehen vielleicht von ein paar Restbedenken, die sich im Laufe der Zeit fraglos von selbst zerstreuen würden, hatten sich die beiden ungleichen Männer also offenkundig verstanden. Auf Curio’s abschließende Frage, ob sie überein kamen, konnte es daher nur eine Antwort geben:


    „Ja, das tun wir, Helvetius Curio. Wir kommen überein.“ Malleus ließ seine unbewegte Maske fallen und bedachte den jungen Helvetier mit einem verständnisvollen Lächeln. „In allen genannten Punkten. Und gewiss auch, was den Verdienst eines anständigen Apparitoren angeht. Ich nehme an, da gibt es allgemein übliche Sätze, an denen du dich orientieren wirst. Ich werde deinem Vorschlag also mit Interesse lauschen, dann so tun, als müsste ich ihn mir noch einen Moment durch den Kopf gehen lassen, um ihm schließlich aller Wahrscheinlichkeit nach höchst zufrieden zuzustimmen.“ Vertrauen gegen Vertrauen. Genau darum ging es hier.

    Der Gesprächsfluss strömte eindeutig der richtigen Mündung zu. Tatsächlich hatte Helvetius Curio Bedarf an einem guten Mann, und fürwahr, ein guter Mann saß vor ihm. Freilich hieß das noch nicht, dass er sich bereits für Malleus entschieden hatte, aber die Art wie er seine Vorstellungen konkretisierte, ließ doch auf ein gesteigertes Interesse schließen. Einem gänzlich aussichtslosen Bewerber hätte er wohl kaum eröffnet, worauf es ihm neben dem üblichen Personenschutz vor allem ankam.
    „Ein Schnüffler.“ schmunzelte Malleus hintergründig. „Ich verstehe.“


    Und ob er das tat. Als stolzem Veteranen der Ala brauchte man ihm über die essentielle Bedeutung von Sondierung, Feindaufklärung und Informationsbeschaffung nichts zu erzählen. Was das betraf, hatte seine Arbeit und die seiner Kameraden bereits unzähligen Legionarii den Arsch gerettet. Wie im Großen so im Kleinen. Selbstverständlich würde es nicht darum gehen, gefangenen Dakern oder Iazygen die Rückenhaut abzulösen oder ihnen glühendes Eisen in den Anus zu rammen, sondern um verlässlichen Instinkt, die nötige Beharrlichkeit und ein gerüttelt Maß an Fingerspitzengefühl. Hirnlose Brachialgewalt war hier eindeutig nicht gefragt. Um Curio effektiv schützen zu können, würde sich die Anwendung körperlicher Gewalt freilich nicht gänzlich vermeiden lassen. Ein entsprechender Informationsstand konnte sie allerdings in den meisten Fällen bereits im Vorfeld obsolet machen. Das politische Geschäft – gleichviel, ob nun in den italischen Metropolen oder den Civitates der Provinzen – glich weniger einem offenen Schlachtfeld als einem mit Fallen gespickten Pfad durch unübersichtliches Gelände. Es gab die gedungenen Angreifer, Aufrührer und Stänkerer, gewiss. Daneben gab es aber auch die gedungenen Opfer. Provokateure, die einzig und allein dafür bezahlt wurden, sich von den Gefolgsleuten des politischen Gegners auf möglichst spektakuläre Art und Weise schädigen zu lassen, um es ihrem Auftraggeber zu ermöglichen, dem Kontrahenten einen Strick daraus zu drehen. Da brauchte es schon einiges an Gespür und Hintergrundwissen, wollte man seinem Schützling keinen Bärendienst erweisen.


    Dass der Helvetier den immensen Wert von Informationen kannte und zu schätzen wusste, konnte die Überzeugung seines Gastes, dem richtigen Mann gegenüber zu sitzen, nur bestätigen. Natürlich würde Curio von einem Schnüffler nicht nur Informationen erwarten, die für seine Sicherheit relevant waren, sondern auch - und vermutlich größtenteils - solche, die seiner Karriere dienten. Das war Malleus vollkommen klar und kam seinen eigenen Interessen weit mehr entgegen als der junge Helvetius ahnen konnte. Trotzdem ließ er sich mit der Antwort Zeit, deutlich mehr Zeit, als nötig gewesen wäre. Zeit für sich selbst, aber in erster Linie für Curio. Ihn mit Worten für sich einzunehmen war ja schön und gut, aber wenn der junge Bursche nicht selbst zu spüren begann, dass er seinem Gesprächspartner vertrauen konnte, half alles Gerede nichts.


    „Nun denn, geschätzter Helvetius Curio.“ beendete Malleus schließlich das nachdenkliche Schweigen. „Bei aller Bescheidenheit gehe ich einfach mal davon aus, dass wir uns über meine Eignung zum Personenschützer weitestgehend einig sind. Da bin ich ohne Zweifel dein Mann. Kommen wir also auf die von dir erwähnte Zusatzqualifikation zu sprechen. Nun, was ich Dienst bis zu letzten Konsequenz genannt habe, beinhaltet selbstredend weit mehr als die Bereitschaft, mich im Zweifelsfall für dich abstechen zu lassen. Ich erachte das Beschaffen und Auswerten von Informationen als geradezu unabdingbar für einen umfassenden Schutz des mir Anvertrauten. Dass ein Mann deiner Profession nicht allein an vorbeugendem Wissen interessiert ist, sondern auch Nutzen aus dem einen oder anderen schmutzigen Detail zu schlagen weiß, liegt auf der Hand. Auch in dieser Beziehung kannst du meiner Loyalität gewiss sein.


    Allerdings werden dafür früher oder später ein paar zusätzliche Sesterzen vonnöten sein. Nicht für mich selbst wohlgemerkt. Zunächst wird es eine ganze Weile dauern, bis man mich dem Amtsträger Helvetius Curio zuordnet. So lange kann ich bedenkenlos den unbedarften neugierigen Einfaltspinsel spielen. Wenn sich aber erst einmal bis zur letzten Kuhweide herumgesprochen hat, dass ich deinen Schutz übernommen habe, wird manch parteiischer Informant mir persönlich mit Argwohn begegnen. In solchen Fällen wird es nötig sein, auf einen von mir unterwiesene und geführten Helfer - nennen wir ihn Unterschnüffler - zurückzugreifen. Jemand, der nicht mit deiner Person in Verbindung gebracht werden kann. Auswahl und Instruktion eines solchen Unterschnüfflers darfst du getrost mir überlassen, nur werden eben noch weitere Kosten anfallen. Dies nur der Erwähnung halber, denn ich wette die Hinterbacken meines Hengstes, dass du auch solche Eventualitäten bereits in deine Überlegungen mit einbezogen hast. Oder liege ich da falsch?“


    Mit gutmütig erhobenen Augenbrauen lächelte er dem findigen jungen Mann zu und füllte sich endlich den Becher. Vier fingerbreit Wein. Drei fingerbreit Wasser. Ein gutes Mischungsverhältnis für die Tageszeit.

    Mathematik. Das war das Wort. Malleus nickte vielsagend. Richtig, mit dieser wohltönenden Bezeichnung hatte der Calculator seine verschlungenen Gedankenknäuel verbrämt. Dass sich der Helvetius offenbar etwas näher mit diesen Hirngespinsten beschäftig hatte, löste in seinem Gast zunächst einen Anflug von Argwohn aus, der sich allerdings sofort wieder in Wohlgefallen auflöste, als Curio die militärische Vergangenheit seines Vaters erwähnte. Malleus quittierte dieses Detail mit einem strahlenden Lächeln. Wenn das so war, brauchte er sich um seinen Gastgeber keine Sorgen zu machen. Als Sohn eines Veteranen waren ihm ganz gewiss die richtigen Werte vermittelt worden. Pflichtbewusstsein, Disziplin, Haltung, Ehrgefühl und all die Tugenden, die einen aufrechten Mann von einer rückgratlosen Krämerseele unterschieden. Sehr erfreulich. Fast hätte er sich ganz entgegen seiner Prinzipien dazu hinreißen lassen, Curio’s Angebot anzunehmen und sich etwas einzuschenken, besann sich aber gerade noch rechtzeitig. „Danke. Vielleicht später.“ Um seinen Durst zu löschen, war er nicht hergekommen.


    Entspannt aber aufmerksam lauschte er den weitern Ausführungen des Helvetiers. Ohne Zweifel, hier war er beim Richtigen gelandet. Der Mann hatte Ahnung und wusste Malleus’ Qualifikationen realistisch einzuschätzen. Der erste Vorschlag erschien zunächst am verlockendsten. Eine der weit verstreuten Mansiones zu leiten, konnte Malleus bei den Plänen, die er mit seinem Schwein von Schwager hatte, sehr zupass kommen. Poststationen waren Sammelbecken für Tratsch, Gerüchte und Informationen aller Art, und die richtigen Informationen ließen sich in Fällen wie diesem nicht mit Gold aufwiegen. Sollte er auch noch das Glück haben, an einer der Ostrouten, gar der nach Nida, eingesetzt zu werden, würden sich daraus Möglichkeiten ergeben, von denen er am Vortag noch nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Aber genau da lag auch das Problem. Eine vermeintlich vielversprechende Ausgangslage konnte leicht zu überstürzten Aktionen verleiten. Alles zu seiner Zeit. Der Sieg liebt die Sorgfalt, wie die Romani zu sagen pflegten. Zudem war er kein Mann leerer Worte. Wenn er eine Position übernahm, füllte er sie auch aus. Unbeeinflusst von persönlichen Befindlichkeiten. Sich als Amtsdiener zu bewähren war daher eindeutig die bessere Alternative. Besser für ihn und alle Beteiligten.


    Wenn es sich so verhielt, wie Curio sagte, war der Weg in die direkten Dienste des Legaten der weitaus umständlichere. Vielleicht mit etwas mehr Ansehen verbunden als die Arbeit für einen der Amtsträger, schon möglich, aber auf Dinge wie Ansehen gab Malleus einen feuchten Flatus. Die Befristung der Dienstzeit bekümmerte ihn ebensowenig. Er war kein naiver junger Träumer mehr. Oft genug hatte er erlebt, wie wetterwendisch das Schicksal sein konnte. Wer wusste schon, was vor ihm lag? Langfristig planen zu können, mochte ja durchaus erstrebenswert sein, grenzte aber nach seiner persönlichen Erfahrung an Hybris. Im schlimmsten Fall würde er sich nach Auslauf der Amtszeit eben neu orientieren müssen. Außerdem blieb die Möglichkeit, sich durch herausragende Dienste doch noch beim Statthalter zu empfehlen. Was nun die in Frage kommenden Amtsträger betraf, lagen seine Präferenzen bereits wohlsortiert vor ihm, besser gesagt, saßen vor ihm. Fragte sich nur, ob der rührige junge Helvetius, der ihm mittlerweile fast schon sympathisch geworden war, überhaupt Verwendung für ihn hatte. Wenn nicht, würde Malleus die Wahl seines künftigen Dienstherren einfach dem Ratschluss Curio’s überlassen.


    „Ich muss sagen, werter Helvetius Curio, die Auswahl an Möglichkeiten, die du mir darlegst, übersteigt sogar die optimistischsten Hoffnungen, die ich in diesen Besuch gesetzt hatte. Allein schon dafür danke ich dir. Nun, wie du ja selbst sagst, ist der Postdienst in erster Linie ein Kampf mit dem Stylus und daher nach meinem Dafürhalten wohl eher für einen gesetzteren Zeitgenossen geeignet. In einer Anstellung als Amtsdiener könnte ich meine Anlagen sicher besser ausreizen. Allerdings verfüge ich, wie schon erwähnt, nicht gerade über besonders tragfähige Beziehungen. Das heißt, um mich als Apparitor bei einem deiner Amtskollegen zu empfehlen, bedürfte es deiner Vermittlung oder zumindest deiner Empfehlung und somit weiterer zeitraubender Umstände deinerseits.“ Malleus brachte sein Bedauern in einem tiefen Brummen zum Ausdruck, das nach einigen Atemzügen in leises Lachen mündete. „Wozu lange um den heißen Puls rumreden. Du brauchst nicht zufällig einen?“

    Zuhören konnte der junge Helvetier, das musste man ihm wirklich lassen. Malleus hatte Jahre gebraucht, sich diese Tugend auch nur leidlich anzueignen und war noch heute kein Ausbund an Langmut und Zurückhaltung. Auch ein knappes Jahrzehnt als Zivilist hatte es nicht vermocht, ihm den wortkargen Kasernenton gänzlich auszutreiben. Knappe Antworten waren ihm die liebsten, im Idealfall solche, die der Frage zuvorkamen. Sich in epischer Breite über seine Person auslassen zu müssen, war ihm im Grunde zuwider. Schon gar vor Fremden. Erst recht vor Leuten, die mehr aus Neugier als aus aufrichtigem Interesse in den dunklen Ecken seiner Vita herum bohrten. Entsprechend zufrieden registrierte er, dass Helvetius Curio nicht zu letzterer Sorte gehörte. Der wollte schlicht das wissen, was er wissen musste. Immerhin, das musste sich Malleus wiederholt vor Augen führen, wollte er etwas von Curio, nicht umgekehrt. Obgleich er das Gefühl hatte, bereits die ersten Fusseln auf der Zunge zu spüren, blieb er daher aufgeschlossen und mitteilsam.


    „Lesen und Schreiben sind kein Problem.“, beruhigte er den Helvetius, „Das hab’ ich schon als Junge erlernt. Der Onkel, bei dem ich aufgewachsen bin, hat auf sowas einigen Wert gelegt. Rechnen .. nun ja ..“ Malleus kratzte sich brummend am Kopf. „Also .. rechnen .. hm .. kommt drauf an, was du darunter verstehst, Helvetius Curio. Sicher, wenn konkrete Werte oder reale Mengen dahinter stehen, kann ich mit Zahlen durchaus umgehen, das schon.“ Zusammenzählen. Abziehen. Vervielfachen. Teilen. Solcherlei Kram. Klar, er war ja kein Trottel.
    „Wenn du aber diese hirnerweichenden hellenischen Spinnereien meinst, muss ich passen. Mein Waffenschüler in Ostia hatte einen korinthischen Calculator als Hauslehrer. Was der höheres Rechnen nannte, nenn’ ich fortgeschrittene Geisteskrankheit. Also, Rechnen, ja. Phantasieren, nein.“ Höheres Rechnen. Griechischer Mist. Wie man so hörte, hatte es in den einstigen Polis Achaias’ nur so gewimmelt von degenerierten Schwachsinnigen. Kein Wunder, dass es denen nie gelungen war, der römischen Zivilisation etwas entgegenzusetzen. Da er seinen Gesprächspartner für einen realistisch denkenden Mann hielt, ging Malleus einfach mal davon aus, dass solch geistige Purzelbäume erst gar nicht von ihm erwartet wurden.


    Die Frage nach seinen eigenen Vorstellungen erwies sich wiederum als nicht so einfach zu beantworten. Freilich, es stimmte, was der Helvetier sagte. Malleus war viel rumgekommen und hatte auch allerlei Erfahrungen gesammelt. Trotzdem überwog die Anzahl der Tätigkeiten, an denen er sich bislang noch nicht versucht hatte. Haushoch. Nicht eben einfach, sich auszumalen, wie er sich auf Dauer in einem stickigen Officium machen würde oder als notierender Scriba im Hintergrund. Was das betraf, war man also wieder bei seinem Talent zu Langmut und Zurückhaltung angelangt.


    „Nun, ich will mich nicht besser darstellen als ich bin.“, versuchte er die Fragen des Hausherren offen und ehrlich zu beantworten, „Natürlich gehörte es sowohl auf dem Weingut als auch bei der Aufsicht über die Gewürzkähne zu meinen Aufgaben, Buch zu führen. Hab’ ich auch immer ganz anständig hinbekommen. Allerdings hat mich die Erledigung dieser Teilaufgaben ungleich mehr Zeit gekostet, als ihnen eigentlich zugemessen war, wenn du verstehst. Auflistungen und Kalkulationen, die dein Scriba gewiss binnen eines Vormittages abarbeiten würde, haben sich bei mir immer erheblich in die Länge gezogen. Ein Dummkopf bin ich keineswegs, verfüge im Gegenteil über eine recht flinke Auffassungsgabe, die sich jedoch jenseits von Schreibpult und Tabulae weit effektiver nutzen lässt. Beispielsweise im Bereich des Personen- und Objektschutzes. Ob nun unter aktiver oder auch planender Beteiligung. Ich darf mir einen geschulten Instinkt attestieren, der es mir nicht nur ermöglicht, sich entwickelnde Situationen schnell und folgerichtig einzuschätzen, sondern ihnen auch mit den jeweils adäquaten Mitteln zu begegnen oder, wo es möglich ist, ihnen vorzubeugen. Grundsätzlich möchte ich noch einen Umstand betonen: Gemäß meiner persönlichen Ehrauffassung bemisst sich der Grad meiner Zuverlässigkeit nicht an der Höhe des Verdienstes. Ich bin nicht korrumpierbar. Wen ich als Dienstherren anerkenne, entscheide ich selbst. Wem ich aber diene, dem diene ich auch bis zur letzten Konsequenz.“


    Malleus bekräftige seine Sätze mit einem ernsten Nicken und lehnte sich dann seufzend wieder zurück. Bei den Nornen, so viel am Stück hatte er seit Jahrzehnten nicht mehr gequatscht. Nun hing ihm die Zunge aber endgültig in Fransen.

    Zusehends entspannt lehnte sich Malleus zurück. Die Reste seiner schlechten Laune wichen allmählich einer wachsamen Aufgeräumtheit. Dass dem Gastgeber offenbar ebensowenig an gedrechselten Wortpreziosen lag wie seinem Gast, kam diesem sehr entgegen. Malleus hatte die Miene des antwortenden Helvetiers aufmerksam beobachtet. Grundsätzliche Ablehnung hatte er in dessen Zügen nicht ausmachen können, vielmehr ein sachliches distanziertes Interesse. Zudem stellte er naheliegende Fragen und erging sich nicht in den üblichen klugscheißerischen Kommentaren über das offenkundige Unvermögen mancher Veteranen, nach ihrer Dienstzeit auf eigenen Füßen zu stehen. Näheres über die Hintergründe seines Gegenübers erfahren zu wollen, war sein gutes Recht und mehr als verständlich.


    „Ja, das ist richtig, Helvetius Curio. Veteran.“, begann Malleus nickend, schlug den Mantel zurück und klopfte bestätigend auf sein Cingulum. „Ich habe meinen Militärdienst in Pannonia geleistet, bei der Ala Prima Tungrorum Frontoniana. Also .. nach der Grundausbildung bei der achten Cohors Breucorum in Castrum von Bonnensia. Beendet habe ich die fünfundzwanzig Jahre Dienstzeit im Rang eines Duplicarius.“
    Wieder konnte er über manche Punkte seiner Vita nur den Kopf schütteln. Duplicarius. Ein Witz. Dabei wäre er zweifellos ein weit fähigerer Decurio gewesen als dieser Drecksack Ceballinus, dessen eigentliche Aufgaben er ohnehin weitgehend übernommen hatte. Aber was nützte es, darüber nachzusinnen, das war alles schon Ewigkeiten her. Mit einem trockenen Räuspern schluckte er die Erinnerungen an seinen Intimfeind hinunter und fuhr fort.


    „Nun ja, die darauffolgenden Jahre habe mit verschiedensten Tätigkeiten in Italia verbracht. Stipator, Tabernabetreiber, Speicherwache auf dem Emporium in Roma, Transportaufseher über die Lastkähne eines Gewürzhändlers, zuletzt Faktotum auf einem Weingut bei Ostia und nebenbei Kampfausbilder eines Sprösslings der dort ansässigen Familie. Tja ...“ Malleus strich sich nachdenklich durch den grauen Bart. Verdammt seltsames Gefühl, nüchtern und sachlich von der Vergangenheit zu berichten als sei es die eines anderen. Nun, im Rückblick, betrachtet, zusammengefasst in ein paar dürren Sätzen, nahm sich sein Leben aus wie ein einziger geschäftiger Nachmittag. Nicht mehr. Und was von alldem an Bildern und Empfindungen übrig geblieben war, begann bereits zu verblassen. Es war eine Pest, altern zu müssen.


    „Irgendwann ..“, nahm er den Faden schließlich wieder auf, „.. hat es mich dann zurück an die Orte meiner Kindheit gezogen. Und da bin ich nun. Im Moment wohne ich im .. also bei .. Potitus Bulbus, einem Schweinezüchter. Eine annehmbare und vor allem preiswerte Bleibe, an der es nichts auszusetzen gibt. Nur werden sich meine finanziellen Mittel spätestens bis zum Fest der Ostara .. also, ich meine im Aprilis .. erschöpft haben. Etwas Geld habe ich über die Jahre zwar ansparen können, aber ein Großteil davon steckt mittlerweile in der Gerberei meines Bruders Sebald, vielleicht kennst du ihn. Bis das mal Früchte trägt, hab’ ich mich wohl längst zu Tode gelangweilt oder bin verhungert." Letzteres war natürlich blanker Unsinn, gestand er sich mit einem leichten Grinsen ein. Auf welche Art auch immer er diese Welt einst verlassen mochte, der Hunger würde ihm gewiss nicht den Garaus machen, so viel war sicher.


    Geradezu amüsiert über die absurde Vorstellung seines Hungertodes lächelte er dem Helvetier zu. “Bevor du fragst, Helvetius Curio .. nein, eine Anstellung bei meinem Bruder ist definitiv keine Option für mich. Ich bin mir für kaum etwas zu schade und habe auch keine hohen Ansprüche an mein Entgelt, aber für meinen Bruder zu arbeiten, kommt nicht in Frage.“

    Der schmallippige Ianitor geleitete Malleus zunächst einen langen Gang entlang in’s Atrium, dann am zentral gelegenen Wasserbecken vorbei auf eine Wand aus Vorhängen zu, die den Raum dahinter, zweifellos das Triclinium, sowohl vor neugierigen Blicken als auch von Kälte und Zugluft abschirmten. Mit entsprechend anheimelnder Wärme empfing ihn dann auch das sparsam möblierte Speisezimmer. Sehr angenehm. Hier ließ es sich schon eine Weile aushalten. Der wartende Helvetier machte einen frischen und ausgeschlafenen Eindruck, wirkte dabei aber sichtlich weniger angespannt als am Tag zuvor auf dem Forum. Das würde sich im Laufe der nächsten Stunden sicher wieder ändern. Wenn Malleus an all die Termine auf der Tabula des Schreibers dachte, tat ihm der junge Bursche fast leid.


    „Salve, Helvetius Curio.“, erwiderte er höflich nickend den Gruß des Hausherren und nahm dann auf dem angebotenen Stuhl Platz. „Lass mich dir zunächst meinen Dank aussprechen. Dass du bereit bist, mir, einem Wildfremden, trotz der gewiss erdrückenden Last an Verpflichtungen ein paar Augenblicke deiner kostbaren Zeit zu opfern, ist eine sehr noble Geste, die ich durchaus zu schätzen weiß.“ Doch, doch – er konnte schon, wenn er wollte. Und wenn sein Gesprächspartner einen anständigen Eindruck machte, was hier der Fall war, wollte er auch. Nachdem er, wie es sich gehörte, einen anerkennenden Blick durch den Raum hatte gleiten lassen, fuhr Malleus ohne Umschweife fort. Endloses Gefloskel war nicht seine Sache, und der Helvetier hatte ja auch nicht ewig Zeit.


    „Nun, ich habe um diesen Termin ersucht, weil ich nach meiner Heimkehr bislang noch nicht wieder Fuß fassen konnte, und die Hoffnung hege, dass ein ortserfahrener und kenntnisreicher Mann wie du mir vielleicht einen Rat geben könnte, wie oder wo ich eine sinnvolle Betätigung finden kann. Ich bin ein paar Meilen östlich des Flusses geboren, musst du wissen, und habe den Großteil meiner Kindheit hier im Vicus verbracht. Aber in den vergangenen dreissig Jahren hat sich doch eine ganze Menge verändert. Die Männer, die zu Zeiten der Flavier hier das Sagen hatten, sind alle längst tot. Viele meiner alten Freunde ebenfalls, die übrigen sind fortgezogen. Zugegeben, ich hatte mir das alles etwas leichter vorgestellt. Mit den Jahren verklärt man eben manches ...“


    Nachdenklich blickte er vor sich in’s Leere. Ob dieser noch junge Mann das nachvollziehen konnte? Wahrscheinlich nicht. Der war wohl eher ein kühler Rationalist, und frage sich vermutlich eher, was sein Gegenüber die ganze Zeit getrieben- und warum er für seine späten Jahre nicht vorgesorgt hatte. Gute Frage. Warum hatte er eigentlich nicht?
    Malleus verscheuchte derlei unnütze Grübeleien mit einem Kopfschütteln und sah lächelnd zu Helvetius Curio auf. „Wenn es nicht so furchtbar theatralisch klänge und ein klein wenig mehr der Wahrheit entspräche, könnte man auch sagen, die schiere Not hat mich zu dir getrieben.“

    Zitat

    Original von Iullus Helvetius Curio


    Das Klopfen verhallte. Ob nun ungehört, ignoriert oder als nicht so wichtig empfunden, ließ sich nicht sagen, jedenfalls löste es zunächst einmal keine vernehmbaren Reaktionen aus. Kein Problem, sagte sich Malleus zähneknirschend, gab es doch kaum Erbaulicheres, als in der kältesten Stunde einer froststarrenden Winternacht vor fremder Leute Haus herumzustehen und sich die stechende Beinnarbe zu reiben. Sollte er öfter machen. Drückte so wohltuend auf die Laune.


    Gerade als er sich anschickte, die Porta erneut zu bearbeiten, wurde dann doch ein Riegel zurückgezogen und der breite Leib eines hochgewachsenen Ianitors erschien hinter der aufschwingenden Tür. Da war ihm ja endlich mal jemand gewachsen, stellte Malleus erwartungsfroh fest, zumindest was die bloßen Körpermaße anbelangte. Besonders oft kam das nicht vor. Jetzt musste ihm der Bursche nur noch blöd kommen, und sein Tag war vollends gerettet. Der Ianitor tat ihm den Gefallen jedoch nicht, klärte ihn nur darüber auf, vor wessen Tür er stand und fragte nach seinem Begehr.


    „Salve“, grüßte Malleus den Türöffner knapp, „Cossus Malleus. Zu Helvetius Curio. Ich bin angemeldet.“

    Nach einem bescheidenen Ientaculum bestehend aus selbst zubereitetem Getreidebrei mit zäher Schwarteneinlage war Malleus zum Sitz der Helvetier aufgebrochen. Den zerzausten Fellmantel hatte er wohlweislich im Stall gelassen und sich stattdessen seine alte aber gepflegte Militärpaenula übergeworfen. Auch das polierte und frisch eingefettete Cingulum trug er umgeschnallt. Dass er auf das Anlegen der halblangen Feminalia zugunsten seiner langen Wollhose verzichtet hatte, war weniger der Kälte geschuldet als vielmehr seiner dick vernarbten Beinwunde, die ihm ein kritischer Betrachter leicht als körperliche Einschränkung auslegen konnte, und verflucht, das war sie auch an manchen Tagen. Zumindest eine Einschränkung seines Wohlbefindens und seiner guten Laune. So auch ausgerechnet an diesem Morgen.


    Der Schmerz selbst war nicht das Problem, mit dem konnte er noch umgehen, was ihm weit mehr auf den Geist ging, war das, was er ankündigte. Schneefälle. So langsam hatte er die Nase gestrichen voll von den stetig wachsenden Schneebergen und den täglich enger werdenden Gehwegen. Als Sohn Germanias war er ja so einiges gewohnt, aber was sich da seit seiner Heimkehr über dem Land entleert hatte, war eindeutig zu viel des Guten.


    Nach schier endlosem Gestapfe und Geschlitter durch die noch dunklen Gassen hatte er endlich die Stadtmauer hinter sich gelassen und war in den Canabae angelangt. Wenn Luitberga’s Beschreibung stimmte, und davon ging er aus, konnte das zentrale Wohngebäude auf das er sich zu bewegte, nur die Casa Helvetia sein. Vor der Porta war bereits geräumt worden, stelle er fest. Das war auch das Mindeste, was ein Besucher erwarten durfte. Um keinen allzu verwegenen Eindruck zu machen, streifte er die Kapuze nach hinten und klopfte dann drei mal kräftig an die Tür.

    Zitat

    Original von Iullus Helvetius Curio
    Morgen früh zur ersten Stunde des Tages kannst du Helvetius zu Hause in der Casa Helvetia treffen.


    bot er an, wobei er nicht davon ausging, dass Mann ablehnen würde. Der nächstmögliche freie Termin lag nämlich erst in zwei Tagen und solange würde er bestimmt nicht warten wollen. So blickte er Cossus interessiert an, während er den Stilus bereithielt, um den Termin einzutragen.


    Zufrieden sah Malleus den Finger des Scriba über die Notizen gleiten. Da war schon eine Menge niedergeschrieben, gewiss lauter Termine. Das war höchst erfreulich, bestätigte es doch, dass Helvetius Curio kein aufgeblasener Wichtigtuer war, sondern tatsächlich ein sehr gefragter Mann. Wenn dem nichts Sinnvolles einfiel, wem dann? Sicher, viel Zeit würde der sich nicht nehmen können, und über die Maßen begeistert würde er vom Besuch eines dahergelaufenen Neuansiedlers wahrscheinlich nicht sein, das war Malleus schon klar, mehr hatte er auch nicht erwartet. Immerhin kam ihm die Tageszeit, die der Scriba als Gesprächstermin nannte, sehr entgegen. Früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang. Eine gute Zeit, wie er fand. Da war der Kopf noch klar. Später am Tag, zur neunten oder zehnten Stunde, nachdem er sich die Anliegen von zwanzig oder mehr Besuchern hatte anhören müssen, war wohl auch die Geduld des langmütigsten Honoratioren am Ende. Die Hora Prima ging also völlig in Ordnung.


    „Passt mir gut.“, nickte er dem Scriba zu, „Ich danke dir.“ Und um nicht als komischer Kauz oder undurchsichtiger Bittsteller auf der Liste vermerkt zu werden, wiederholte er vorsichtshalber noch einmal seinen Namen. „Cossus Malleus. Veteran.“ Friedliebender Veteran hatte er den Scriba erst beruhigen wollen, aber das war letztlich eine Frage des Standpunktes.

    Zitat

    Original von Iullus Helvetius Curio


    Salve!
    grüßte er zurück und musterte sein Gegenüber näher. Stark sah er auch und gewissermaßen respekt-, wenn nicht sogar furchteinflößend. Hoffentlich gab es da jetzt keinen Ärger.
    Worum soll es denn bei diesem Termin gehen?


    Malleus gönnte sich ein verbindliches Lächeln. Misstrauisch war er, dieser Scriba, gewiss auch freundlich auf seine Art, aber in erster Linie misstrauisch. Das war nicht zu übersehen. Wahrscheinlich befürchtete er, von einem ungeschlachten Radaubruder angesprochen worden zu sein. Was den Radaubruder betraf, konnte Malleus ihn beruhigen. Radau machte er nur, wenn sich der Aufwand auch lohnte, oder wenigstens die Bezahlung stimmte. Außerdem hätte er als Provokateur den Kandidaten direkt angegangen, nicht seinen Schreiber.


    „Nun, ich bin noch recht neu im Municipium.“, erklärte er dem Scriba in ruhigem Tonfall. Obwohl das im Grunde so nicht stimmte. Genau genommen war er schon hier gewesen, als Helvetier samt Schreiber noch nicht einmal Form angenommen hatten. Nur, darum ging es jetzt nicht. „Und da dachte ich, ein Mann wie Helvetius Curio könnte mir sicher einen Rat geben, wie und wo ich meine Schaffenskraft am besten einsetzen kann. Gewiss ist er mehr als jeder andere vertraut mit den hiesigen Gegebenheiten. Kurz gesagt: Ich möchte ihm meine Dienste antragen, beziehungsweise ihn um Rat fragen, wem ich sie sonst anbieten könnte.“


    Ob diese Motive harmlos genug waren für den Scriba? Malleus hoffte es zumindest. Wenn nicht, konnte es ja wohl kaum an ihm liegen. Oder doch? Gut, er hätte diesen Fellmantel heute nicht anziehen sollen, in dem sah er aus wie etwas, das ein feiner Bürger nicht einmal in seinem Hundezwinger beherbergen würde, aber daran ließ sich im Moment nichts ändern. „Übrigens ..“ fiel ihm noch ein, „.. wer von den richtigen Männern begleitet wird, braucht sich vor derben Attacken aus der Menge weniger zu ängstigen, wenn du verstehst, was ich meine.“