Sofort nachdem Caius seine Anrede an den jungen, gutgekleideten Mann abgeschlossen hatte, schalt er sich innerlich schon wieder dafür, denn ihm wurde erst jetzt bewusst, dass er seinen Noch-nicht-aber-vielleicht-bald-Gesprächspartner aus dessen eigenen Gedanken gerissen hatte, was der junge Mann denn auch sogleich mit seiner ersten Äußerung bestätigte. Caius hatte ihn also: gestört. Und das war natürlich nicht seine Absicht gewesen.
Der Verginier war daher erleichtert, dass der Jüngling ihm trotzdem antwortete: Bürger, Vertreibung der Könige, Freiheit... Die Worte des jungen Mannes zeigten Caius zunächst, dass er die Satzfetzen des Turban-tragenden Redners nicht gänzlich falsch zusammengesetzt hatte. Schön für den Verginius, doch half ihm das noch nicht sehr dabei, diese Lehren auch inhaltlich zu verarbeiten, auch wenn er natürlich wusste, welche geschichtlichen Ereignisse durch die wenigen Andeutungen aus dem Mund des jungen Mannes bezeichnet wurden.
Tiefere Gedanken über diese Themen hatte Caius sich allerdings noch nie gemacht, ganz zu schweigen davon, dass er sich über sie eine eigene, fundierte Meinung gebildet hätte. Die Themen waren ihm zwar bekannt wie wohl fast jedem Einwohner des Reiches, waren ihm vermittelt worden von Eltern und Lehrern in der Elementarschule. Diskussion und Reflexion über diese Fragen waren für jemanden wie ihn, der von der Hand in den Mund lebte, jedoch nicht vorgesehen gewesen.
Eigentlich, so stellte Caius nun gerade an sich fest, fand er das alles aber ziemlich interessant, und es betraf ihn ja auch, gerade ihn in besonderer Weise. Gerne hätte der Verginius deshalb mit dem jungen Mann, der ihm soeben bereitwillig Auskunft gegeben hatte, weiter über diese Themen gesprochen, und das konnte bei seinem Wissensstand nur heißen: dem jungen Mann zuzuhören. - Aber es sollte ganz anders kommen.
Denn auf einmal stand der Redner mit dem Turban vor dem jungen Mann und ihm selbst und zerrte ausgerechnet den Verginier zu der Stelle auf dem Forum, von der aus er selbst bis vor Kurzem seine wirren Gedanken vorgetragen hatte. Beschäftigt mit seinen eigenen Überlegungen, hatte Caius gar nicht bemerkt, dass sich dieser Redner dem jungen Mann und ihm selbst zugewandt hatte. So war er vollkommen überrumpelt, ließ sich ohne Widerstand von dem Alten fortschleifen und brachte in Richtung des jungen gutgekleideten Mannes, dessen Meinung er so gerne kennengelernt hätte, nur noch die folgenden Worte über den Turban tragenden Redner hervor: "Auweia, der Typ hier muss ja vollkommen verrückt sein..."
Gleich danach sah Mamercus sich allerdings auch schon einer gewissen Schar von Leuten gegenüber, die bisher dem bärtigen Redner gelauscht hatten und nun ihn, Caius Verginius Mamercus, erwartungsvoll ansahen - manche auch mit einer Portion Schadenfreude im Gesicht, so kam es dem Verginier jedenfalls vor. Er fühlte sich natürlich furchtbar unwohl; nichts in seiner Schullaufbahn hatte ihn je darauf vorbereitet, vor fremden Menschen zu sprechen. Gleichwohl erkannte Caius, dass Weglaufen hier nicht galt, und er wollte auch von sich aus auf keinen Fall kneifen. Einen kurzen Moment lang sah Mamercus an sich und seiner schon ziemlich abgestoßenen grünlichen Tunika hinunter, dann hob er seinen Kopf wieder und wandte sich an die Umstehenden: "Quirites!" Caius war sich ganz und gar nicht sicher, ob diese Anrede hier überhaupt passend war, aber er hatte sie irgendwann halt mal aufgeschnappt. "Quirites! Wir stehen hier auf dem Forum Romanum und sind umgeben von all den Gebäuden, in denen das, was Rom ausmacht, Gestalt angenommen hat. Hier gehen wichtige Teile der Verwaltung ihrer Arbeit nach, hier tagt der Senat, hier treffen sich die Bürger Roms, um ihre Gedanken über ihre Stadt und ihr Reich auszutauschen. - Gar nicht weit von hier liegt der Palatin mit den Palästen des Kaisers. Und die Frage ist nun, so habe ich es wenigstens verstanden: Gehören diese Paläste mit ihren Bewohnern auch zu den Gebäuden, in denen das, was Rom ausmacht, Gestalt angenommen hat? Oder lebt der Kaiser in einer Welt, die abgehoben ist von dem Volk auf dem Forum und auch auf den Märkten?" Gerade dieser letzte Punkt mit den Märkten war dem Verginier wichtig, hatte er doch dort weit mehr zu tun als auf Foren.
"Ich sage euch jetzt, was ich darüber denke. Mein Name ist Verginius Mamercus. Ich bin Abkömmling einer etruskischen Familie, die ursprünglich aus Vetluna - ihr nennt es: Vetulonia - stammt. Etrusker, habe ich gesagt, ich gehöre also dem Volk an, das einst die Könige über Rom stellte, die dann von den Bürgern Roms vertrieben wurden." An dieser Stelle machte sich unter den Zuhörern Unmut breit, aber damit hatte Mamercus gerechnet. "Ich gehöre weiterhin einem Volk an, das nach tapferem Kampf von den Römern besiegt wurde. Stadt für Stadt haben Römer die Gebiete meines Volkes erobert. Und doch, obwohl ich also einem Volk angehöre, dessen König die Römer vertrieben haben und dessen Gegner sie waren in langen Kriegen - trotzdem bin jetzt auch ich ein römischer Bürger und stehe hier mit euch allen auf dem Forum im Herzen Roms. Und schaut doch euch selber an -" der Verginier deutete mit seiner Hand nacheinander auf bestimmte seiner Zuhörer, "hier steht ein Nubier, dort ein Germane oder Brite, dort ein Grieche - und wir alle gehören jetzt geeint dazu zu diesem Rom mit seinen prächtigen Gebäuden, mit seinem Wohlstand, mit seinen Gesetzen und mit seinem Frieden, den die Kaiser uns gebracht haben." Der Verginier holte Luft, um zum Schlussakkord anzusetzen: "Ja, die Kaiser. Denn erst mit den Kaisern ist Rom zu einer Heimat für alle seine Bewohner geworden und bietet allen die Chance auf ein Leben in relativem Wohlstand und Frieden."
Caius Verginius Mamercus wusste nur zu gut, dass er selbst diese Chance, jedenfalls was den Wohlstand anging, noch nicht hatte nutzen können. Er wusste auch, dass viele Reiche nur danach trachteten, immer noch reicher zu werden, und zu diesem Zweck die einfachen Menschen aus dem Volke ausbeuteten. Dem Kaiser kam dabei aber nach Meinung des Verginius noch die geringste Schuld zu.
Ob er diese und andere seiner Ansichten hatte verständlich machen können, das wusste Mamercus freilich nicht, und so war er gespannt darauf, was andere nun erwidern würden. Langsam wandte er seinen Kopf zu dem jungen, gutgekleideten Mann, mit dem er anfangs gesprochen hatte.