Iulia war aufs höchste von den Versen des Dichters Meleagros von Gadara verzückt. Gerade las sie wieder eines seiner wollüstigen, erotischen Gedichte. Welch Empfindungen sie dabei immer durchströmten! Iulia konnte nicht benennen, was sie genau empfand, oder wozu diese Empfindungen da waren, doch für sie stand fest, dass sie sie wieder und wieder verspüren wollte. Ihr gefiel das Kribbeln, das sie hinter ihrer Stirn spürte, wenn sie von großen muskulösen Männern las, oder die kühlen Schauer in ihrem Nacken, wenn davon die Rede war, dass sich eine Frau ganz den fleißigen Fingern ihres Liebhabers hingab.
Tief versunken las sie auf ihrem Bett in ihrem Cubiculum. In letzter Zeit war so viel passiert. Wann hatte sie Meleagros das letze mal gelesen? Es musste wohl noch zuhause bei Onkel Proximus in Misenum gewesen sein. Da plötzlich knallte die Tür auf und einem Wirbelwind gleich stürmte Servilia Gemina, Iulias Mutter, herein, in Händen eine Käseplatte mit Walnüssen und frischen Weintrauben haltend.
Servilia Gemina, Witwe des Kaeso Iulius Iuvenalis
"Hallöööööchen, kleiner Sperling, ich bringe dir was feines!" flötete sie. Ertappt schrak Iulia hoch und ließ die Papyrusrolle zu Boden fallen. Ihre Mutter blieb im Raum stehen und betrachtete verwirrt ihre Tochter und ihren schuldbewussten Gesichtsausdruck. "Ach, was hast du denn? Naja sieh her, ich hab eine leckere Kleinigkeit für dich in der Küche herrichten lassen." Sagte sie und stellte mit Schwung die Käseplatte am Bett ihrer Tochter ab. "Danke, Nana." murmelte Iulia mit eingezogenem Kopf. "Aber gerne doch, Liebes." sprach Servilia mit einem liebevollen Blick auf ihre Tochter. Der zweite fiel auf die am Boden liegende Schriftrolle. "Oh, sieh nur Kind, dein Papyrus ist dir vorhin zu Boden gefallen. Was liest du denn da schönes? Lass einmal sehen." Iulias Augen weiteten sich vor Schreck, als sie realisierte, dass ihre Mutter nach der Schriftrolle griff. "Nicht!" rief sie und wollte noch die Hand ausstrecken, um vor ihr die Rolle zu schnappen und in Sicherheit zu bringen, doch zu spät. Servilia Gemina war schneller gewesen und entrollte das Papyrus, um zu sehen, welch ehrwürdigem Dichter ihre Tochter heute ihre Zeit schenkte. War es wohl Aristoteles, oder gar Cicero?
Doch die Miene der Mutter verfinsterte sich schlagartig, als sie erkannte, von welchen bedeckten und unbedeckten Körperteilen sie da gerade las und was Mann und Frau zwischen den Zeilen dieser Rolle nicht alles miteinander trieben. "WAS IST DAS TOCHTER, BIST DU NOCH GANZ BEI TROST?!" begann sie loszubrüllen. Iulia, die sich beim Lesen stets genau vor diesem Tag gefürchtet hatte sprang auf und begab sich auf Sicherheitsabstand zu ihrer Mutter. "Aber Nana..." "KEIN ABER!" unterbrach Servilia Gemina sie schnaubend wie ein Stier. Sie begann schimpfend und keifend auf ihre Tochter zuzugehen, dabei immer wild mit der Schriftrolle in der Hand herumfuchtelnd, als Iulia beschloss, dass es wohl zu ihrem Besten war die Flucht zu ergreifen. Schnell wandte sie sich um und lief zur Tür. "BLEIB WO DU BIST TOCHTER! WIR BEIDE HABEN EIN PAAR WÖRTCHEN MITEINANDER ZU BEREDEN!" rief ihr Servilia dunkelrot im Gesicht hinterher. Doch schon war Iulia zur Tür hinaus. Sie würde einfach hinaus auf die Straßen laufen und dann warten und erst wiederkommen, wenn der schlimmste Zorn ihrer Mutter verraucht war.
Eilig lief sie durch die Räume des iulischen Anwesens, ihre Mutter etwas entfernt im Schlepptau. "Komm her! *Keuch* Warte auf mich!" rief sie ihr schnaufend hinterher, doch Iulia dachte nicht daran ihr diesen Wunsch zu erfüllen und sich danach ein stundenlanges Gebrüll darüber anzuhören, von wegen sie sei noch zu jung für derartige Texte und was sie sich dabei überhaupt gedacht hätte usw. usw. bla bla wie strenge aufbrausende Mütter eben bei solchen Themen immer waren...
Schon die Porta hinaus in die Freiheit vor Augen lief Iulia gehetzt ins Tablinum und bemerkte dabei Marcus Iulius Licinus und eine fremde junge Frau bei sich. Überrascht blieb sie stehen. "Oh." gab sie nur von sich. Wer das wohl war?