Am Tag zuvor nach Thulas Flucht...
Ich blieb im Gras liegen und rührte mich nicht mehr. Wie durch ein Wunder kam niemand, um mich zu suchen. Es wurde dunkel, aber ich blieb dort, wo ich war. Es war meine Angst, die mich hier festhielt. Meine Erinnerungen an meine damalige Flucht, als ich noch ein Kind gewesen war, nahmen wieder Gestalt an. Hoffentlich gab es hier keine wilden Tiere! In meiner Vorstellung war es das Schlimmste, von Wölfen angefressen zu werden.
Schließlich kam die Nacht und mit ihr die Schreie von Füchsen, Eulen und sonstigem nachtaktiven Getier. Ich tat kaum ein Auge zu, so groß war meine Angst. Aber irgendwann übermannte mich einfach die Müdigkeit und ich fiel in einen traumlosen Schlaf.
Die ersten Sonnenstrahlen des Morgens waren es dann, die mich weckten. Wenn ich nicht hier im Dreck, mitten in der Wildnis gelegen hätte, dann hätte dieser Tag vielleicht ein guter Tag werden können. Aber so räumte ich ihm wenig Chance ein.
Ich wagte es, mich aufzusetzen und über das hohe Gras zu linsen. Der Wald lag still vor mir, hinter mir und auch neben mir. Ich begann zu sinnieren. Es war schon seltsam, dass uns niemand gesucht hatte. Ob Ygrid noch lebte? Wenn nicht, dann hatte sie es sich selbst zuzuschreiben! Diese dämliche Göre! Warum hatte sie das nur getan? Sie hätte mich um ein Haar ertränkt! Doch viel wichtiger war es, zu überlegen, was ich jetzt tun sollte. Nachdem ich gestern einfach nur losgerannt war, hatte ich voll die Orientierung verloren. Aber hier sitzen zu bleiben war auch keine Lösung!
Ich stand auf und lief vorsichtig durch das hohe Gras und das Gebüsch. Als sich vor mir plötzlich zwei Vögel aus dem Gras erhoben, weil ich sie durch mein Kommen aufgeschreckt hatte, blieb ich erschrocken stehen und brauchte erst wieder einen Moment, bis ich weiter gehen konnte. Um mich war wieder Stille eingekehrt. Nein, ich hörte etwas. Etwas was unmerklich lauter zu werden schien, weil es anscheinend langsam auf mich zu kam. Wie verwurzelt blieb ich stehen, um zu horchen. Es waren menschliche Laute, vielleicht Rufe. Irgendwie kam es mir bekannt vor. Diese Rufe… Roma invicta…? Das mussten Legionäre sein! Und ihr Ziel war mit Sicherheit das Lager der Germanen. Ich lief los in die Richtung, aus der die Laute kamen. Aber dann blieb ich abrupt stehen. War denn klug, einfach auf die Soldaten zuzurennen? So wie ich im Augenblick aussah, würden die mich doch glatt für eine von den Germanen halten und mit mir kurzen Prozess machen. War es nicht besser, sich im Wald versteckt zu halten, bis alles vorbei war?
Währenddessen im Lager
Philiscus, einer der Sklaven, die sich am Tag zuvor ihren Befreiern angeschlossen hatten, trat aus der Menge hervor zu den Männern, die sich um Arwid geschart hatten und erhob laut seine Stimme: „Halt! Es gibt einen Ausweg!“ Es war ihm gelungen, die Aufmerksamkeit der Männer zu erlangen. Schließlich hing sein Leben und das aller anderer Sklaven davon ab! „Es gibt vielleicht einen Ausweg, wenn wir uns beeilen und sofort losziehen! Als ihr den Rhenus überquert habt, ist euch sicher diese markante Erhebung in der Landschaft aufgefallen. Ein scheinbar einzelnstehender Berg. Die Römer nennen ihn Mons Iovis. Er ist nicht ganz einen Tagesritt entfernt von hier. Auf ihm befindet sich eine alte keltische Höhensiedlung mit einer hohen Befestigungsmauer. Das Oppidum wurde vor ewigen Zeiten von seinen Bewohnern verlassen. Aber vielleicht kann es uns Schutz bieten.“ Philiscus war in der Gegend aufgewachsen und kannte sie in und auswendig. Als Junge war er mehrmals auf dem Berg gewesen und hatte ihn zusammen, mit dem Sohn seines damaligen Herrn erkundet. Die hohen Mauern des Oppidums, die nur an einigen Stellen eingestürzt waren, waren ihm im Gedächtnis geblieben. Die Leute, die um den Berg lebten, hatten ihm damals berichtet, die Höhensiedlung sei noch vor dem Eintreffen Caesars verlassen worden, da deren Bewohner von den Germanenstämmen jenseits des Rhenus immer stärker in Bedrängnis geraten waren. Welch Ironie des Schicksals wäre es, wenn nun dieses Oppidum diesen Germanen Schutz bieten würde!