Zitat
Original von Matinia Marcella
Mit bebenden Lippen nickte Marcella und hielt sich, dankbar für den Beistand, eine Weile an Graecinas Hand fest. Fast versagte ihr die Stimme. Natürlich kannte sie den Mann nur vom Sehen, und von Hörensagen. Aber auch wenn sie zu der Zeit nur ein unverständiges junges Ding gewesen war, so erinnerte sich noch gut daran, wie Großvater Agrippa und Großonkel Quarto schon früh und eindrücklich vor dem Aufstieg des Tyrannen Salinator und vor seinen willfährigen Handlangern gewarnt hatten. Beide waren sie schließlich aus der Stadt geflohen, um einer Verhaftung zu entgehen, und Marcellas Mutter, eine geborene Aelia, hatte in den darauffolgenden Wochen tausend Ängste ausgestanden, war bei jedem Klopfen an der Türe zusammengefahren, immer befürchtend, dass die grausamen Prätorianer als nächstes ihre Familie verschleppen würden.
Hinter vorgehaltener Hand flüsterte Marcella aufgewühlt Graecina zu:
"Damals unter dem Ungeheuer Salinator, in der Zeit der Proskripion, war dieser Mann einer der schlimmsten Schergen der Tyrannei!"
Außerdem hatte sein Name eine Zeitlang auf den Listen der begehrtesten Junggesellen, die Marcellas Freundinnen führten, gestanden. Natürlich nur wenn man Fieslinge mochte!
So sehr sich Graecina auch Mühe gab, ihre Furcht zu verbergen oder diese gar beiseite zu schieben, gelang ihr dies nur ungenügend. Einen Löwenanteil hatte da sicher auch ihre Nachbarin, die sich erneut hinter vorgehaltener Hand an sie wandte und sie noch mehr einschüchterte. „Während des Bügerkrieges?“ flüsterte Graecina. Den schlimmsten Schergen der Tyrannei hatte sie ihn genannt. Den Bürgerkrieg, der vor einigen Jahren in Roma gewütet hatte, kannte die junge Iulia nur aus Erzählungen. Es mussten schlimme Zeiten geherrscht haben, damals. Sie selbst war da noch ein Kind gewesen und lebte damals fernab von der urbs aeterna.
War dieser Mann, den ihre Sitznachbarin als schlimmsten Schergen beschrieb, tatsächlich auch heute noch ein solcher Unmensch? Oder konnten sich Menschen ändern? Ihre neuen Freunde, die sie auf der Versammlung kennengelernt hatte, waren der Meinung, dass es möglich war. Aber was glaubte sie selbst? Eines wusste sie genau, sie musste vor diesem Mann auf der Hut sein! Und nicht nur vor ihm. Im Grunde vor allen, die die Christianer als gefährliche Sekte hielten.
Wieder sah sie zu Phoebe hinüber. Bei ihrer Familie in Rom fühlte sie sich geborgen. Doch wie lange noch? Was sollte sie nur tun? Sie stand gerade die schlimmsten Ängste aus und konnte sich niemandem anvertrauen, außer vielleicht Sula. Aber Sula war zu Hause geblieben. Nein, sie musste versuchen, ihren Kopf frei zu bekommen! Am besten sie ‚genoss‘ nun noch die letzten Szenen des Stückes und versuchte einfach nicht mehr an diesen Mann, der hinter ihr saß und ihre panische Angst vor der Enthüllung ihres wahren Glaubens, zu denken.
Unten auf der Bühne hatte gerade Glauke das giftgetränkte Kleid entgegengenommen, um kurze Zeit später gemeinsam mit ihrem Vater einen qualvollen Tod zu sterben. Ganz nach römischer Manier wurde dem Publikum dabei kein einziges Detail vorenthalten, was in Graecina ein beklemmendes Gefühl in der Magengegend bescherte. Doch sie zwang sich, den Blick nicht abzuwenden. Standhaft ließ sie auch das blutrünstige Morden der Kinder auf der Bühne über sich ergehen. Die Schreie trieben ihr die Tränen in die Augen. Der Anblick des Blutes tat sein Übriges. Schweiß trat ihr auf die Stirn, doch gleichzeitig fröstelte sie es. Ihr war flau im Magen. Sie konnte doch kein Blut sehen! Regelmäßig war ihr bisher immer schlecht geworden, wenn sie an blutigen Opfern teilgenommen hatte.
Endlich war dieses Drama zu Ende. Verstört wollte sie sich erheben. Ihr Antlitz sprach Bände! Nur noch weg von hier, dachte sie sich, bevor sie sich noch in aller Öffentlichkeit übergeben musste. Dann plötzlich drang eine fremde Stimme an ihr Ohr. Sie wandte sich um und erblickte ihn in voller Größe, direkt vor ihr stehend. Der ruchlose Decimer, der schlimmste Scherge! Graecina erschrak, ihr wurde schwarz vor Augen und sie merkte noch, wie ihr alles entgleiten wollte. Sie verlor das Gleichgewicht, strauchelte und knickte einfach in sich zusammen, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte.