Beiträge von Iulia Graecina

    Nur eine kleine Öllampe brannte noch in Graecinas Cubiculum. Zwar hatte sie sich bereits auf ihr Bett gelegt, doch an schlafen konnte und wollte sie noch nicht denken, solange Sula noch nicht zurück war. Stunde um Stunde wurde es später und langsam machte sich ein Gefühl der Angst in der jungen Iulia breit. Sie hatte sich bereits Vorwürfe gemacht, sie an diesem Abend nicht begleitet zu haben. Doch Sula hatte darauf bestanden, alleine zu gehen. Der Hebräerin war doch hoffentlich nichts zugestoßen! Sie wusste, dass sie ihrer Freundin voll und ganz vertrauen konnte, doch manchmal konnten unvorhergesehene Umstände eintreffen, derer man nicht so einfach gewachsen war.


    Dann endlich klopfte es an der Tür. „Sula!“, rief Graecina und sprang vom Bett. Mit drei Sätzen war sie an der Tür öffnete und rief erleichtert: „Da bist du ja endlich! Wo warst du nur…“ Als sie endlich realisierte, dass dort nicht Sulamith stand, sondern diese eine neue Sklavin mit einem fremden Kind, machte sie erschrocken einen Schritt zurück. „Wo... wo ist Sula und was ist passiert? Und überhaupt..., was machst du hier mir diesem Kind? Wer ist sie?“, sprudelte es aus ihr heraus. Doch all ihre Fragen wollte sie nicht hier zwischen Tür und Angel klären. Graecina trat mit einer einladenden Geste einen Schritt zur Seite. „Bitte kommt doch herein!“, lud sie die beiden ein und schloss hinter ihnen wieder die Tür. Graecina bot der Sklavin und dem Kind einen Platz auf ihrem Bett an. Sie selbst blieb stehen. „Du bist diese neue Sklavin – Eireann, nicht wahr?“, begann sie nach einer Weile. „Warum bist du zu mir gekommen?“, wollte sie schließlich wissen.

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    Original von Gaius Iulius Caesoninus
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    Er klatschte in die Hände und der erste Gang wurde aufgetragen.
    Caesoninus ließ sich wieder auf seiner Kline nieder, während er sich an Graecina für eine kleine Plauderei wandte. Wegen seiner Erwähnung ihres Anwesenheitsgrunds von zuvor war er im Moment selbst darauf neugierig geworden, ob es in dieser Sache eigentlich schon einen Fortschritt gab. "Wie sieht es aus, gab es seit deiner Ankunft eigentlich schon Männer, die um dich gefreit haben? Mir zumindest wäre noch nichts bekannt." Interessiert nippte er an seinem Wein.


    Vieles schwirrte der jungen Iulia in ihrem Kopf herum. Erschwerend kam hinzu, dass sie sich einredete, die Cena allein meistern zu müssen, da Sula sich nicht in ihrer direkten Nähe befand. Wenigstens fing sie den Blick der Hebräerin ein, so dass auf diese Weise ein Kontakt entstehen konnte. Dieser leichte Anflug eines Lächelns auf ihren Lippen, bedeutete ihr so viel mehr, als es sich einer der Anwesenden hätte vorstellen können. Es war eine Bestätigung für sie. Sie war für sie da, ganz gleich, was da noch kommen sollte. Das gab Graecina wieder den nötigen Antrieb zurück, um sich ihrer Aufgabe zu widmen, nämlich ihre Rolle zu spielen. Noch schöpfte niemand Verdacht gegen sie und ihre Verbindungen zu den Christianern. Noch war sie die ehrbare Iulia, die vor etlichen Monaten aus Kreta nach Rom gekommen war, um dort eine Verbindung einzugehen. Um letzteres noch unterstreichen zu wollen, kam ihr Verwandter auch direkt auf den Punkt, als er scheinbar ein wenig mit ihr plaudern wollte. Letztendlich war der Abend noch lang und die Cena hatte gerade erst begonnen.


    Caesonius‘ Frage kam ziemlich direkt, was Graecina auch sofort erröten ließ. Natürlich hatte sie selbst recht wenig getan, um sich bei in Frage kommenden Männern vorzustellen. Mal abgesehen von jenem unorthodoxen Theaterbesuch, bei dem eine recht blutige Variante der Medea gegeben worden war.
    „Nein, nicht direkt, Cousin. Aber ich muss gestehen, ich habe auch noch nicht viele mögliche Kandidaten kennengelernt.“ Und um ehrlich zu sein hatte sie derzeit auch nicht das Bedürfnis danach. Doch sicher würde ihr Cousin früher oder später in dieser Sache etwas unternehmen wollen. Vielleicht wäre es dann doch besser, wenn man ihn dann in die „richtige Richtung“ lenken konnte.
    Wie gerufen kam in diesem Moment Sula und bot ihr ein Mulsum an. „Oh ja gerne! Bitte einen für mich! Möchtest du auch Mulsum, Cousin?“

    Seit ihrem Besuch in der Casa Didia, bei dem sie nun den ersten richtigen Kontakt zur christlichen Gemeinschaft in Rom geknüpft hatten, waren Graecina und Sula noch enger miteinander verbunden, als es schon vorher der Fall gewesen war. Sie waren nun wahrhaft Schwestern im Geiste Christi, auch wenn die eine die Herrin und die andere die Sklavin war. Doch dies war alles nur Fassade. Ein Schutz sollte es sein für die Hebräerin, die ihr Graecina mit Freuden gewährte. Doch auch sie musste sich in Acht nehmen, denn ihre Familie nahm es ihr zweifellos übel, wenn sie erfahren sollte, dass sie sich vom alten Glauben abgewandt hatte und den römischen Göttern den Rückengekehrt hatte. Vielleicht würde irgendwann der Tag kommen, an dem sie sich freimütig zu ihrem Glauben bekennen konnte, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Doch dieser Tag, sollte er jemals anbrechen, lag noch in weiter Ferne. So galt es bis auf weiteres eine unsichtbare Maske zu tragen. So tun als ob. Nur nicht den leisesten Zweifel aufkommen lassen! Das Gleiche galt natürlich auch für Sula, auf deren unmittelbare Gegenwart Graecina heute verzichten musste, da man sie für die Küche und den Tischservice eingeteilt hatte.


    So machte sich Graecina alleine auf den Weg zum Triclinium, gekleidet in eine hellblaue Tunika, die ihr dunkelblondes Haar vollends zu Geltung brachte. Natürlich hatte Sula ihr Bestes gegeben und sie vollendet geschminkt. Graecina hatte ein goldenes Collier mit den Lapislazuli - Steinchen und die passenden Ohrringe angelegt, welche ihr Vater ihr zu ihrem vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte. In der Hoffnung dass er auch bald einen passenden Gemahl für sie finden würde. Das Schicksal jedoch hatte alles zunichte gemacht. Ihr Vater war tot und sie immer noch unvermählt, was sie nicht wirklich störte. Zumindest im Augenblick noch nicht.


    "Salve familia!" begrüßte Graecina insbesondere den Ehrengast und die anderen Familienmitglieder, die sich im Triclinium bereits eingefunden hatten.

    Im Gegensatz zu Sulamith, die sich sofort in dieser Gemeinschaft wohlzufühlen schien, konnte die junge Iulia ihre Beklommenheit nicht sofort ablegen. Was es genau war, was die junge Römerin zögern ließ, konnte sie so genau gar nicht sagen. Vielleicht war es die Furcht, hier bei dieser Versammlung entdeckt zu werden. Sie entstammte einer der angesehensten Familien Roms. Was würden ihre Verwandten sagen, wenn man sie fier fände? Andererseits konnte sie ihre Sympathie für die Lehren der Christen nicht verleugnen. Die Idee, dass jeder angenommen war, ganz gleich wer oder was er war, imponierte ihr. Ja, die Lehre des Nazareners war wirklich revolutionär!


    Graecinas Anspannung schwand allmählich, woran der junge Mann, der sich ihr gegenüber gesetzt hatte, nicht ganz unschuldig war. Er sorgte dafür, dass sie sich nicht länger als Fremdkörper empfand. Er nahm ihr alle Zweifel. Wobei sie es eigentlich nicht mochte, wenn jemand so auf sie einredete. Doch Volusus‘ Art war sie erfrischend anders. Er sagte, was er dachte. Auch wenn manches doch recht skurril war. Dennoch war sein Wesen weit davon entfernt, so gekünstelt, wie das geckenhafte und aufgeblasene Getue der sogenannten feinen Gesellschaft Roms zu sein.


    „Ich bin auch froh, dass wir beide heute Abend hier hergekommen sind“, antwortete sie und blickte dabei lächelnd zu Sulamith. „Meine Freundin hat mir davon erzählt. Du musst wissen, sie ist Hebräerin und als wir noch Kinder waren hat sie mir oft Geschichten aus der Tanach erzählt. Das Wort Gottes hat mich schon damals fasziniert. Wenn sie nicht wäre, dann wäre ich heute nicht hier.“ Sie richtete wieder ihren Blick auf Volusus und lächelte.


    Philotima, die junge Frau, deren Worten sie vorhin so eindringlich gelauscht hatte, erschien an ihrem Tisch. Graecina sah auf und nickte ihr anerkennend zu. Auch sie war so ganz anders, wie sie es von einer jungen Römerin gewohnt war. Eine Frau, die so offen das Wort ergriff und zu den Menschen sprach hatte sie noch nie erlebt. „Vielen Dank, Philotima! Für eure Gastfreundschaft. Ich muss gestehen, deine Predigt hat mich sehr beeindruckt! Ich bin dankbar dafür, dich kennenlernen zu dürfen.“ Eine Freu wie sie konnte ihr den Weg weisen, um die letzten Hürden zu nehmen, die sie noch davon trennte eine wahre Christin zu werden.

    Dank des Riechsalzes kam Graecina recht bald wieder zu sich. Nur langsam öffneten sich ihre Augen. Es dauerte einen Moment, bis sie sich an die Helligkeit wieder gewöhnt hatten, um dann als erstes das Gesicht eines nicht mehr ganz so jungen Mannes einzufangen, der sich offenbar über sie beugte und in dessen Armen sie gerade lag. Wie war sie nur dort hingekommen? Was war mit ihr passiert? Und wer war dieser Mann? Auf all diese Fragen fand sie nur schwerlich eine Antwort. Sie konnte sich nur noch an Blut, an sehr viel Blut erinnern. „Wo bin ich?“, hauchte sie leise. „Was ist passiert?“


    Ganz langsam kehrte ein Teil ihrer Erinnerung wieder zurück, zumindest was den Mann betraf, der sie hielt. Sie erkannte das Gesicht wieder und auch, zu wem es gehörte. Es war das Gesicht des ruchlosen Decimers, der offenbar doch nicht so sehr ruchlos war. Sonst hätte er sie kaum gerettet. Seltsamerweise hatte sie in diesem Augenblick keinerlei Furcht vor ihm.


    Nun fing ihr Blick auch all die Gesichter derer auf, die besorgt um sie herumstanden. Da waren ihre Verwandten Caesoninus und Phoebe, Matinia, die neben ihr gesessen hatte, deren Sklavin und sonstige Schaulustige, die teils interessiert teils gelangweilt auf sie hinunterblickten.


    Der Iulia war es peinlich, so im Mittelpunkt zu stehen und in all die besorgten Gesichter sehen zu müssen.
    „Es geht mir gut,“ meinte sie schließlich. „Es war nur das viele Blut. Ihr wisst doch, ich kann kein Blut sehen,“ meinte sie, um die Umherstehenden zu beruhigen. Blut- das war im Moment die einzig plausible Erklärung.

    Es war ein einfaches aber schmackhaftes Essen. Graecina und Sula hatten nebeneinander Platz genommen. Die junge Iulia zierte sich anfangs etwas, da sie ja niemanden hier kannte. Für Sulamith aber war es selbstverständlich, sich nach dem Gottesdienst mit den Brüdern und Schwestern der Gemeinschaft zu einem Mahl zu treffen. Es erinnerte sie ein wenig an das Shabbath-Mahl, das ihre Mutter früher für gewöhnlich zu jedem Beginn des Shabbats am Freitagabend immer aufgetischt hatte.
    Sula ermunterte ihre Freundin und Herrin dazu, sich auch etwas vom Essen zu nehmen und somit Teil der Gemeinschaft zu werden. Schließlich nahm sich auch Graecina ein wenig von dem Eintopf und ein Stück vom Fladenbrot. Gerade als sie den letzten Bissen hinunter geschluckt hatte, sprach sie ein Mann an, der sich ihnen gegenüber gesetzt hatte.


    „Äh, ja. Heute zum ersten Mal,“ entgegnete die Iulia. Da ihr Gegenüber sich ihnen vorgestellt hatte, wollte sie dies erwidern. „Oh, es ist schön, dich kennenzulernen, Volusus. Ich bin Graecina und dies ist meine Freundin Sula… Sulamith.“ Dabei wies sie auf die Hebräerin, die ihm freundlich zunickte. „Ja, also für meinen Teil kann ich sagen, dass es sehr schön war und inspirierend,“ meinte Graecina.


    „Ich habe schon einigen Treffen beigewohnt. Einigen hier in Rom und zu Hause in Gortys. Unsere Heimat ist Kreta, musst du wissen,“ fügte Sulamith hinzu, die ihr Stück Fladenbrot beiseitegelegt hatte und Volusus antwortete.

    Anlässlich des Rhetoren-Wettstreits hatten natürlich auch die abkömmlichen Familienmitglieder der Gens Iulia das Haus verlassen, um sich zum Forum zu begeben. Etliche Sklaven hatte ebenso das Glück ereilt, ihre Herrschaften begleiten zu dürfen.


    Mitten in der Menge von Zuschauern befanden sich auch Iulia Graecina und deren Sklavin Sulamith, die sie heute begleitete. Eigentlich hatte es ihr widerstrebt, hierherzukommen. Doch es galt den Anschein zu wahren, denn schließlich war einer der Redner heute ihr Verwandter, Gaius Iulius Caesoninus. Daher konnte sie sich heute nicht fernhalten.
    In sich gekehrt wartete sie nun, bis der Wettstreit begann. Je ehe er wieder zu Ende war, umso besser. Natürlich bemerkte Sula sofort, wie es um ihre Herrin stand. Nach den Ereignissen im Theater wollte sie sie keinesfalls mehr allein lassen. Wann immer sie ihres Beistandes bedurfte, wollte sie an der Seite ihrer Freundin sein. „Sei stark!“, wisperte sie Graecina mit einem Lächeln auf den Lippen zu. „Das ist leichter gesagt, als getan,“ antwortete sie ihr leise. „Du wirst es schaffen! Ganz sicher!“, versicherte ihr Sulamith leise. Dann schweifte ihr Blick ab, zur Bühne hin. „Oh sieh nur Domina! Dominus Caesoninus steht dort oben!“ rief sie mit lauter Stimme. Graecina nahm sich zusammen, drehte sich um und schlüpfte hinein in ihre Rolle.

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    Original von Matinia Marcella


    Mit bebenden Lippen nickte Marcella und hielt sich, dankbar für den Beistand, eine Weile an Graecinas Hand fest. Fast versagte ihr die Stimme. Natürlich kannte sie den Mann nur vom Sehen, und von Hörensagen. Aber auch wenn sie zu der Zeit nur ein unverständiges junges Ding gewesen war, so erinnerte sich noch gut daran, wie Großvater Agrippa und Großonkel Quarto schon früh und eindrücklich vor dem Aufstieg des Tyrannen Salinator und vor seinen willfährigen Handlangern gewarnt hatten. Beide waren sie schließlich aus der Stadt geflohen, um einer Verhaftung zu entgehen, und Marcellas Mutter, eine geborene Aelia, hatte in den darauffolgenden Wochen tausend Ängste ausgestanden, war bei jedem Klopfen an der Türe zusammengefahren, immer befürchtend, dass die grausamen Prätorianer als nächstes ihre Familie verschleppen würden.
    Hinter vorgehaltener Hand flüsterte Marcella aufgewühlt Graecina zu:
    "Damals unter dem Ungeheuer Salinator, in der Zeit der Proskripion, war dieser Mann einer der schlimmsten Schergen der Tyrannei!"
    Außerdem hatte sein Name eine Zeitlang auf den Listen der begehrtesten Junggesellen, die Marcellas Freundinnen führten, gestanden. Natürlich nur wenn man Fieslinge mochte!


    So sehr sich Graecina auch Mühe gab, ihre Furcht zu verbergen oder diese gar beiseite zu schieben, gelang ihr dies nur ungenügend. Einen Löwenanteil hatte da sicher auch ihre Nachbarin, die sich erneut hinter vorgehaltener Hand an sie wandte und sie noch mehr einschüchterte. „Während des Bügerkrieges?“ flüsterte Graecina. Den schlimmsten Schergen der Tyrannei hatte sie ihn genannt. Den Bürgerkrieg, der vor einigen Jahren in Roma gewütet hatte, kannte die junge Iulia nur aus Erzählungen. Es mussten schlimme Zeiten geherrscht haben, damals. Sie selbst war da noch ein Kind gewesen und lebte damals fernab von der urbs aeterna.


    War dieser Mann, den ihre Sitznachbarin als schlimmsten Schergen beschrieb, tatsächlich auch heute noch ein solcher Unmensch? Oder konnten sich Menschen ändern? Ihre neuen Freunde, die sie auf der Versammlung kennengelernt hatte, waren der Meinung, dass es möglich war. Aber was glaubte sie selbst? Eines wusste sie genau, sie musste vor diesem Mann auf der Hut sein! Und nicht nur vor ihm. Im Grunde vor allen, die die Christianer als gefährliche Sekte hielten.


    Wieder sah sie zu Phoebe hinüber. Bei ihrer Familie in Rom fühlte sie sich geborgen. Doch wie lange noch? Was sollte sie nur tun? Sie stand gerade die schlimmsten Ängste aus und konnte sich niemandem anvertrauen, außer vielleicht Sula. Aber Sula war zu Hause geblieben. Nein, sie musste versuchen, ihren Kopf frei zu bekommen! Am besten sie ‚genoss‘ nun noch die letzten Szenen des Stückes und versuchte einfach nicht mehr an diesen Mann, der hinter ihr saß und ihre panische Angst vor der Enthüllung ihres wahren Glaubens, zu denken.


    Unten auf der Bühne hatte gerade Glauke das giftgetränkte Kleid entgegengenommen, um kurze Zeit später gemeinsam mit ihrem Vater einen qualvollen Tod zu sterben. Ganz nach römischer Manier wurde dem Publikum dabei kein einziges Detail vorenthalten, was in Graecina ein beklemmendes Gefühl in der Magengegend bescherte. Doch sie zwang sich, den Blick nicht abzuwenden. Standhaft ließ sie auch das blutrünstige Morden der Kinder auf der Bühne über sich ergehen. Die Schreie trieben ihr die Tränen in die Augen. Der Anblick des Blutes tat sein Übriges. Schweiß trat ihr auf die Stirn, doch gleichzeitig fröstelte sie es. Ihr war flau im Magen. Sie konnte doch kein Blut sehen! Regelmäßig war ihr bisher immer schlecht geworden, wenn sie an blutigen Opfern teilgenommen hatte.


    Endlich war dieses Drama zu Ende. Verstört wollte sie sich erheben. Ihr Antlitz sprach Bände! Nur noch weg von hier, dachte sie sich, bevor sie sich noch in aller Öffentlichkeit übergeben musste. Dann plötzlich drang eine fremde Stimme an ihr Ohr. Sie wandte sich um und erblickte ihn in voller Größe, direkt vor ihr stehend. Der ruchlose Decimer, der schlimmste Scherge! Graecina erschrak, ihr wurde schwarz vor Augen und sie merkte noch, wie ihr alles entgleiten wollte. Sie verlor das Gleichgewicht, strauchelte und knickte einfach in sich zusammen, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte.

    Die junge Iulia hatte kaum Zeit, sich umzusehen. Neugierig versuchte sie, ein Stück weiter nach vorne zu gelangen. Obwohl sie eine Fremde war, schien sie niemand als solches wahrzunehmen. Sie blickte auf milde und freundliche Gesichter, die aus dem gleichen Grund hier waren, wie sie.
    Nach einer Weile gelang es ihr schließlich, einen Blick auf die junge Frau zu werfen, die sprach. Sie hörte ihr aufmerksam zu. Doch dann sah sie sich nach Sula um, die eigentlich hinter ihr sein sollte. Doch statt ihrer erblickte sie einen jungen beleibten Mann. ‚Der Gerechte wird aus Glauben leben‘, hatte er soeben mehr zu sich als zu ihr gesagt. Graecina sann über diese Worte nach. Dann lächelte er sie freundlich an. Ja, so war es. Sie entgegnete sein Lächeln und fühlte sich mit einem Mal darin bestärkt, wie gut es doch gewesen war, hierhergekommen zu sein.


    Die junge Frau las einen Text über die Schlechtigkeit der Menschen, diejenigen, die nicht glaubten. Vieles von dem gehörte praktisch zur Tagesordnung, jedoch manches, von dem was sie hörte, erschien ihr fremdartig, ja gar ungeheuerlich. Graecina war sehr behütet aufgewachsen. Sie hatte zwar um die Pflicht der Frau in der Ehe gehört, jedoch nichts über die Begierde oder Leidenschaft, geschweige denn von gleichgeschlechtlicher Liebe. Gab es so etwas wirklich?
    Während sie sich darüber den Kopf zerbrach, spürte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Erschrocken fuhr sie um. Doch es war nur Sula, die über das ganze Gesicht strahlte. „Da bin ich endlich…Und, wie findest du es?“ fragte sie Iulia leise.
    „Interessant… äh ja, gut… sehr gut“ antwortete sie leicht irritiert, da sie das Gehörte noch immer beschäftigte. Sula nickte überschwänglich und drückte Graecinas Hand.


    Die junge Frau hatte inzwischen die Schriftrolle sinken lassen, aus der sie vorgelesen hatte. Doch sie sprach weiter, mit ihren eigenen Worten. Was sie sagte, klang versöhnlich und hoffnungsvoll. Der Sohn Gottes war gesandt worden, um für die Sünden der Menschen zu sterben – auch für ihre Sünden. Sie sprach vom Licht des Herrn, das in ihr leuchtete. Sie, Graecina, war auserwählt! Neben sich hörte sie Sula und auch viele andere der Anwesenden, die ihrerseits mit „Amen“ antworteten.


    Der Abend schritt voran und sie hörte noch andere Mitglieder der Gemeinschaft. Letztendlich trafen sich alle zu einem Mahl, bei dem die beiden jungen Frauen auch teilnahmen.

    Eingehüllt in einen dunklen Mantel mit einer Kapuze, die ihr Gesicht verhüllte, war Graecina ihrer Sklavin gefolgt. Ihr Herz schlug wie wild in ihrer Brust. Wie sollte sie sich erklären, wenn man sie bei einer Christianer-Versammlung entdeckte? Doch sie konnte nicht anders, sie musste dort hin! Sie wollte einfach mehr erfahren über diese neue Lehre, die so vielen Menschen wieder neue Hoffnung und Kraft gab und die Verkommenheit des Molochs Rom so verurteilte. Die junge Iulia war sich sicher, dass sich etwas ändern musste. Nicht nur bei ihr selbst, auch bei allem um sie herum.


    Sie konnte sich glücklich schätzen, in Sula eine treue Freundin zu haben, der sie sich anvertrauen konnte und die zu dem stand, woran sie glaubte. Zwar war sie ihre Sklavin, doch als das sah sie sie nicht. Sie war ein Mit-Mensch und eine Freundin für sie.
    Manchmal beneidete sie die Hebräerin, wie standhaft sie in ihrem Glauben war, trotz aller Widrigkeiten. Ob sie auch so stark sein konnte, wenn man sie eines Tages vor die Wahl stellen sollte?


    Unterwegs zur Casa Didia waren ihnen zwei andere Frauen begegnet, die sich nicht weniger angsterfüllt durch die Straßen der Stadt bewegt hatten. Auch sie hatten sich ständig umgesehen, um sicher zu sein, dass sie niemand verfolgte. Zwar war es in den letzten Monaten kaum noch zu Verhaftungen oder gar Razzien gekommen, doch konnte niemand wissen, wann es wieder so weit war bis die Gemeinde erneut ins Visier der Staatsgewalt rückte.


    Die Porta stand für sie offen, so dass sie sich alsbald im Atrium mit etlichen anderen ‚Geschwistern‘ wiederfanden. Trotz der vielen Menschen war es still, lediglich die klare Stimme einer jungen Frau war zu hören. Graecina zog die Kapuze zurück, sah sich zuerst noch etwas verunsichert um. Diese Leute hier, waren aus demselben Grund hier, der auch Sulamith und sie hierher geführt hatte. Sie waren nicht allein! Eine Tatsache, die sie allmählich entspannen ließ.

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    Original von Iulia Phoebe
    Amüsiert beobachtete sie das angeregte Gespräch der beiden anderen, bis sie Graecina anstieß und ihr mit dem Kopf in Richtung Caesoninus nickend zuraunte: „Der Löwe jagd wieder.


    Das Stück dort unten auf der Bühne nahm seinen Lauf, doch Graecina hatte längst den Faden verloren. Die Worte ihrer Nachbarin machten ihr noch immer zu schaffen. Der ruchlose Decimer! Diese Bemerkung der Matinia wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Sie beschoss, in den nächsten Tagen mehr über ihn herauszufinden. Vielleicht kannte Caesoninus ihn ja.


    Apropos Ceasoninus, was hatte da ihre Cousine ihr soeben zugeraunt, nachdem sie sie leicht angestoßen hatte? Sofort wandte sie sich zu ihr und ihre Augen glitten weiter zu ihrem Cousin, der ganz offensichtlich eine Bekanntschaft mit einer jungen Dame gemacht hatte. Jetzt verstand die junge Iulia, was Phoebe gemeint hatte. Auch wenn ihr das Grinsen nicht so einfach gelingen wollte, versuchte sie so natürlich zu bleiben, wie es nur ging. Es war sicher besser für sie, wenn sie sich vorerst weder zu dem Decimer hinter ihr noch zur Matinia neben ihr umsah. So ruhte ihr Blick für eine Weile auf Caesonius und sie versuchte, seine Worte zu erhaschen. Langsam begann sie sich wieder zu entspannen.


    „Du sagst es, Phoebe! Aber für meinen Geschmack trägt er ein bissen zu dick auf. Findest du nicht? Na ja, zumindest muss er sich jetzt nicht mehr auf das Stück konzentrieren,“ raunte sie schließlich ihrer Cousine grinsend zu und ließ es sich nicht nehmen, die beiden weiter zu beobachten.
    Als die Dame sich scheinbar seiner Avancen durch ihre Einsilbigkeit erwehren wollte und urplötzlich das Thema ihrer Konversation auf den Muskelmann lenkte, der sie augenscheinlich bewachen sollte, konnte sie nicht mehr an sich halten und prustete so geräuschlos wie nur möglich los, was ihr natürlich nicht vollends gelang. „Hast du das gesehen?“ ,wisperte sie ihrer Verwandten zu. Es war nur zu hoffen, dass nur Phoebe davon Notiz genommen hatte.

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    Original von Matinia Marcella
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    "Verzeihung", murmelte Marcella.
    Vor lauter Schreck hatte sie sich am Arm ihrer neuen Freundin festgeklammert.
    "Oh jemineh", hauchte sie schwach, "es ist der ruchlose Decimer. Hätte ich doch nur gleich auf dich gehört, liebe Graecina."


    Da musste Graecina nun wirklich grinsen. An Matinias Behauptung musste schon etwas dran sein, denn ihr Vater hatte auch nie einen Sinn für solcherlei Kulturergüsse aufbringen können. Ganz zu schweigen von ihren beiden Brüdern! Ein wenig melancholisch wurde ihr schon, als sie an ihre Familie denken musste. Doch glücklicherweise konnte das Stück schnell wieder für Abwechslung sorgen. Jedenfalls kurzfristig, denn kurze Zeit später zogen sich dicke Gewitterwolken über ihre Sitznachbarin zusammen – in Form einer blonden Schönheit, die plötzlich neben Matinia stand.
    Wie war sie bloß dahingekommen? Hätte sie sich weniger für die Aufführung interessiert, wäre ihr nicht entgangen, wie sich jene Dame von den oberen Rängen über die Köpfe der Sitzenden hinweg ihren Weg hinuntergebahnt hatte.
    Anfangs noch belustigt hörte die Iulia mit an, was sie zu sagen hatte. Schnell wurde ihr klar, dass es sich bei der Person um alles andere nur nicht um eine Dame handelte - eher wohl um ein Fischweib vom Markt!
    Bei der Erwähnung des Praefectus Praetorio schnellte ihr angstvoller Blick nach hinten und ihre Augen trafen auf jenen Mann, auf den die „Dame“ zeigte. Vor ihm mussten sie also auf der Hut sein, wenn sie und Sulamith sich mit ihren Glaubensgeschwistern trafen. Endlich wurde der Iulia bewusst, dass sie ihn die ganze Zeit über anstarrte. Hoffentlich hatte er ihren Blick auf sich nicht gespürt.


    Matinia erging es nicht viel anders. Die blanke Angst stand in ihrem Gesicht, als sie diesen Mann gesehen hatte. Schnell war ihr Schirm verschwunden, gefolgt von einer Entschuldigung.
    Der ruchlose Decimer, genauso hatte sie ihn genannt! „Was ist mit dem Decimer? Kennst du ihn etwa?“, fragte sie leise hinter vorgehaltener Hand und ergriff dabei instinktiv mit der anderen ihre Hand, da sie ganz deutlich ihre Furcht in der Stimme spüren konnte.

    Graecina ließ sich nichts anmerken. Sie lächelte sogar der Dame zu, wenn auch etwas verschämt. "Du musst meinen Verwandten entschuldigen. Er sitzt hier nicht aus freien Stücken. Er wurde sozusagen zu seinem Glück gezwungen," fügte sie entschuldigend hinzu. Fand sie doch Caesoninus Verhalten etwas seltsam, da er sich doch recht angebunden gab, als sie ihn ihrer Sitznachbarin vorgestellt hatte. Vielleicht war die Dame aber einfach nicht sein Typ. Manchmal bewirte eine aufgetakelte Aufmachung doch glatt das Gegenteil bei manchen Betrachtern. Graecina hingegen bewunderte sie ein wenig dafür. Dies war eindeutig ihrer Unerfahrenheit und ihrer Jugend geschuldet.


    Glücklicherweise hatte dann auch das Stück endlich begonnen. Ein Umstand der auf sie beinahe wie eine Befreiung wirkte. Dennoch, so musste sie bald feststellen, schien dies nicht bei allen Zuschauern gleichermaßen zu sein. Selbst das Erscheinen des großen Polycharis hatte bei ihrem Verwandten nicht dazu geführt, sich seiner schlechten Laune zu entledigen. Auch ihre Sitznachbarin begann plötzlich mit ihrer Sklavin zu schimpfen, die hinter ihr saß und einen Sonnenschirm über das Haupt ihrer Herrin halten sollte. Offenbar hatte die Sklavin dem teils lautstarken Drängen der Zuschauer hinter ihr nachgegeben, den Schirm tiefer zu halten. So aber kollidierte er mit der Frisur ihrer Herrin. Als sich dann auch noch Caesoninus einmischte, konnte sich Graecina einem Grinsen nicht mehr erwehren. „Vielleicht solltest du hier im Theater auf deinen Schirm verzichten. Um des lieben Friedens willen,“ gab sie schließlich ihrer Sitznachbarin zu bedenken.


    Aber auch ein paar Plätze weiter zu ihrer Rechten schienen die Sitznachbarn ihrer Cousine auch einige Aggressionen ausfechten zu müssen. Der jungen Julia war eine junge Dame, die in Begleitung einer älteren Sklavin und eines hünenhaften Begleiters in Theater gekommen war. Der Riese schien einer herkömmlichen Sprache nicht mächtig zu sein, da er sich nur mit bedrohlichen Lauten bemerkbar machte. Langsam begann sie sich zu fragen, ob sich tatsächlich irgendjemand für das Stück interessierte. Ja doch! Ihr Verwandter - Caesoninus!

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    Original von Matinia Marcella


    Die junge Iulia lächelte. Der Fächer der Dame neben ihr passte perfekt zu dem Rest ihres prachtvollen Äußeren. Offenbar achtete sie sehr darauf, wie sie in der Öffentlichkeit in Erscheinung trat. Sicher verkehrte sie in den besten und teuersten Läden der Stadt. Nach ihrer Antwort zu urteilen tat sie das auch.
    „Das ist ja interessant!“, entgegnete Graecina. „Diese Boutique befindet sich am Augustusforum? Ich schätze, meine Cousinen und ich werden dieser Boutique demnächst einen Besuch abstatten müssen.“ Die Iulia neidete dieser Dame ganz und gar nicht ihr außergewöhnliches Accessoires. Neid vergiftete den Geist der Menschen. Das hatte ihr Sula erzählt. Die Hebräerin hatte ihr noch mehr erzählt. Auch von diesem geheimen Treffen, dem sie vor einigen Tagen beigewohnt hatte. Noch hatte sich Graecina nicht dazu durchringen können, ihre Sympathien, die sie für diese neuen Lehren aus dem Osten empfand, nach außen zu tragen. Sie trug eine Maske, ähnlich wie Polychares, der soeben auf der Bühne erschienen war.


    "Ich sehe Polychares heute zum ersten Mal. Doch was man so hört, muss er ja ein Schauspieler von Weltklasse sein. Man sagt auch, er sei sehr attraktiv. Ein wahrer Schönling!" Wie schade, dass man sein Gesicht nicht sehen konnte.


    Die Dame stellte sich als Matinia Marcella vor. Ein Name, den sie sich merken wollte. Zwar weilte sie schon mehrere Monate in Rom, doch kannte sie außer ihrer Familie niemand in dieser Stadt.
    „Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Ich bin Iulia Graecina und dies sind meine beiden lieben Verwandten, Iulius Caesoninus und Iulia Phoebe, die mich heute begleitet haben.“ Sie hatte sich zu ihrem Vetter umgewandt und ihn leicht an seiner Schulter angetippt.