»Manchmal heißt der Alptraum ich.«
- unbekannt -
Terpanders Alptraum
Kapitel 1 - Terpanders Verbrechen
Es begab sich zu der Zeit, da Terpander noch einen anderen Namen trug und ein anderer war. Man schrieb das Jahr DCCCLXIII A.U.C (110 n. Chr.) und er war gerade vierzig geworden. Seine nackten Füße traten bei jedem Schritt in braunen Sand. Zähe Dornbüsche trotzten an den Berghängen der Sommerhitze, doch das Gras des Frühlings war längst versengt. Damals hieß er Lysander und diente als Soldat in der Cohors I Flavia Bessorum als Hoplit, eine teilberittene Auxiliareinheit, zu der er gerade aus dem Heimaturlaub mit einem Freund unterwegs war. Hintereinander marschierten sie über eine die staubige, kaum zu erkennende Straße. Im Sommer glich die Landschaft bisweilen einer Halbwüste. Am Himmel jedoch braute sich seit einigen Stunden ein Sommergewitter zusammen und der Wind frischte angenehm auf und fuhr in die Kammbüsche ihrer Helme. Kyriakos war zwanzig und vertraute der Führung des Älteren. Beide Männer trugen die Ausrüstung eines Hopliten: rote Tunika, damit ihre Feinde sie niemals bluten sehen würden, Bronzekürass, Beinschienen und die Sarissa, wie man die lange Stoßlanze nannte. Für den Fall, dass die Lanze brach, hing zusätzlich ein Schwert am Waffengürtel. Dort hing ausnahmsweise auch eine Weinflasche. Auf dem Rundschild prangte das Zeichen ihrer Polis, der griechische Buchstabe Lambda, welches für Lakonien stand, wie sie ihre Heimat nannten und deren Hauptort das berühmte Sparta war.
»Dort ist das Lager.« Lysander blieb an einer Felskante stehen und blickte in die Ferne.
Kyriakos gesellte sich zu ihm. Seine ganze Ausrüstung war neu. Man sah ihr an, dass sie noch keine Schlacht gesehen hatte. »Fast geschafft«, freute Kyriakos sich.
Lysander schmunzelte. »Und du hast es jetzt fast zwei Wochen ohne einen Tropfen Wein ausgehalten. Ich wusste, dass du das kannst.«
»Ich hatte einen guten Grund, darum hat es geklappt. Zu Hause war mir langweilig, jetzt wird alles gut. Lass uns gehen.«
Kyriakos vertraute Lysanders Führung, denn dieser hatte ihm niemals Anlass gegeben, ihm zu misstrauen.
»Hast du nicht Lust auf einen abschließenden Übungskampf?«, fragte Lysander. »Den Letzten, bevor es ernst wird?«
Sie waren schon vor Jahrhunderten Teil des Imperium Romanum geworden, doch ihre Kultur lebte fort. Selbst ihre Götter hatten sie behalten dürfen. Nur eines verlangten die einstigen Eroberer: dass der Augustus über ihren Göttern stand. Lysander war das recht, denn im Gegensatz zu den Göttern konnte der Kaiser seine Augen nicht überall haben. Ohne Kleider standen sie sich kampfbereit gegenüber. Regeln gab es nur wenige.
»Greif an«, ermunterte Lysander seinen Gegner. Dabei schloss und öffnete er mehrmals die Finger, um sie zu lockern, wobei die Muskeln an den Armen sich spannten. Er war ganz ruhig. Kyriakos ebenso. Die Filzlocken an seinem schwarzen Schopf waren noch kurz, die von Lysander reichten mittlerweile bis unter die Schulterblätter. Nur Krieger durften ihr Haar lang tragen und Kyriakos stand noch ganz am Anfang. Sein noch kurzes Haar durfte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er bereits gefährlicher war als so manch alter Hase. Alle Freundschaft wich aus dem Blick von Kyriakos, als er nach vorn schnellte wie der Pfeil von einer Bogensehne.
Ihre Körper prallten wie zwei Urgewalten aufeinander, ihm Kampf verkeilt, dann wieder voneinander lassend, um mit harten Schlägen und Tritten zu antworten und sich erneut in einer Umklammerung zu begegnen. Lysander ließ keinerlei Schonung walten, seine Angriffe waren rücksichtslos bis hin zu brutaler Rohheit. Kyriakos merkte, dass etwas nicht stimmte, als ein Fausthieb seine Nase zu Trümmern schlug, dass die Angriffe seines Mentors so ungehemmt stattfanden, als wären sie Feinde. Er fragte nicht, er antwortete in der Sprache der Gewalt. Für sein junges Alter war er extrem gut, stark und geschmeidig wie ein Panther, er kämpfte hart und mit vollem Einsatz, ohne dass ein einziger Laut seine Lippen verließ. Lysander kam an seine Grenzen. Kyriakos hätte dereinst Großes bewirken können, doch heute endeten seine Träume von einer ruhmreichen Zukunft. Sie mussten enden, weil Lysander es wollte.
Hätte Lysander ihn nicht selbst ausgebildet, wäre es ihm nicht gelungen, den Angriffen standzuhalten. Kyriakos hätte ihn umgebracht, auch wenn er keine Waffe in der Hand hielt. Jeder von ihnen konnte das mit bloßen Händen und Kyriakos hatte verstanden, dass heute in der Tat die letzte gemeinsame Lektion stattfand. Sein Zorn über den für ihn vollkommen unerklärlichen Verrat nützte ihm nichts. Lysanders Fäuste waren wie Schmiedehämmer, deren Treffer nun endlich langsam Wirkung zeigten. Abwechselnd schlug er ihm in den Magen, gegen den Kehlkopf und gegen die Schläfen, ungeachtet dessen, was er selbst einstecken musste. Er war zäh wie die Dornbüsche am Wegesrand, während Kyriakos kämpfte wie das Sommergewitter, dessen Donner nun erstmalig über das Land rollte. Der Wind riss am trockenen Sand, der sich mit dem Schweiß ihrer Haut verklebte. Vereinzelte Tropfen klatschten auf sie nieder, als der erste Blitz den Himmel spaltete. Zeus sah ihrem Kampf zu, das wusste Lysander nun. Kurz war er abgelenkt. Ein Tritt gegen das Knie hätte den Kampf fast beendet, wenn er besser getroffen hätte, doch so blieb Lysander auf den Füßen. Noch immer schlug und trat Kyriakos zurück, obgleich er kaum noch etwas sah. Es war schade um sein Gesicht.
Einundzwanzig schnell aufeinanderfolgende Fausthiebe auf die selbe Stelle benötigte Lysander, um Kyriakos fast bewusstlos zu prügeln. Endlich stürzte er in den Dreck, wo er, ohne sich abzufangen, liegen blieb. Er regte sich nur noch schwach. Seine eigene Mutter hätte den jungen Krieger nicht mehr erkannt. Sein Schicksal war besiegelt. Zornig schleuderte Zeus weitere Blitze. Lysander tat, als hätte er sie nicht gesehen.
Keuchend ließ er von der Kopfseite des Besiegten ab und widmete sich nun den Füßen, die Kyriakos nun versuchte, gegen die Steine zu stemmen, um wieder auf die Beine zu kommen. So schob er sich mit dem Gesicht nach unten durch den Dreck. Lysanders Fäuste waren von den Schlägen so sehr geschwollen, dass er die Finger kaum noch bewegen konnte, doch das würde ihn so wenig aufhalten wie alles andere. Er brauchte ihre Geschicklichkeit nicht, sondern pure Kraft. Entschlossen umfasste er den ersten Fuß. Ein Geräusch wie ein Peitschenknall zerriss die Stille, als er ihn gewaltsam überdehnte. Kyriakos schrie nicht, wie ein anderer es getan hätte, er knurrte wütend auf. Erneut bäumte er sich auf, doch es nützte nichts. Der zweite Peitschenknall folgte und Lysander ließ von ihm ab. Schwerverletztem Raubwild gleich zeigte Kyriakos die dunkelroten Zähne und versuchte vergebens, wieder auf die Beine zu kommen.
»Ich bring dich um«, heulte Kyriakos voller Wut. »Du hast mich zum Krüppel gemacht wie einen verdammten Heloten! Unsere Männer werden dich jagen, dafür sorge ich, du wirst einen vielfachen Tod sterben, noch bevor deine Augen sich zum letzten Mal schließen und selbst deine Seele wird vernichtet werden, bevor sie den Hades erreicht! Es gibt Flüche, die machtvoll genug sind und Zeus ist Zeuge deiner Tat!«
Die Achillesfersen zu durchtrennen war eine effektive Möglichkeit, Sklaven, Gefangene und Gesetzesbrüchige dauerhaft in der Bewegungsfreiheit einzuschränken. Weder Rennen noch Springen war nach einer derartigen Behandlung noch möglich, geschweige denn, rasche Richtungswechsel. Mit kleinen, plumpen Schritten würde Kyriakos fortan über den Erdkreis tippeln, seiner Identität als Krieger beraubt. Das, wofür er vom siebten Lebensjahr an aufgezogen worden war, war nicht mehr.
»Wer wird dir glauben, wenn du berichtest, ich hätte dir das angetan?«, fragte Lysander, während er gegen sein Keuchen ankämpfte. »Ich bin ein ehrbarer Soldat, deine Sehnen sind beim trunkenen Herumtorkeln gerissen. Du siehst ja, wie viel Geröll hier herumliegt. Ich war nur zufällig in der Nähe. Jeder weiß, dass du gern über den Durst trinkst, sobald du an Wein gerätst. Natürlich ist das unangenehm und da versucht man, die Schuld woanders zu suchen.« Er hob den Weinschlauch auf. Langsam beugte er sich in Richtung des Kopfes von Kyriakos, noch immer auf der Hut, denn selbst jetzt konnte der andere noch gefährlich werden. »Trink aus, sonst verlierst du noch einiges mehr als nur deine Fähigkeit, zu laufen. Wenn du keine Widerworte hören lässt, werde ich dafür sorgen, dass man dich bald findet.«
Eine Hand schlug mit der Geschwindigkeit einer zustoßenden Giftschlange nach Lysanders Gesicht. Er spürte den Wind auf seinen Augäpfeln, die Fingernägel verfehlten sie nur um Zentimeter. Aus der Wut von Kyriakos wurde Verzweiflung, weil er Lysander verfehlt hatte. Er schleuderte mit der anderen Hand einen großen Stein nach ihm. Der Ältere neigte rasch den Kopf zur Seite und der Stein zischte knapp an seinem Ohr vorbei. Genug war genug, seine Geduld war erschöpft. Kyriakos würde gehorchen, im Guten oder im Bösen. Wortlos griff Lysander nach dem Arm, der den Stein geworfen hatte und verdrehte ihn auf den Rücken, so dass der Oberkörper des Besiegten flach in den Dreck gepresst wurde. Das Knie presste er ihm schmerzhaft ins Kreuz. Nun war Kyriakos endgültig fixiert. Lysander begann, ihm die Hand zu überdehnen, bis auch diese Sehnen reißen würden.
Kyriakos schrie und tobte, doch es nützte nichts. »Bring mich um«, kreischte er jetzt.
»Du kennst deine Aufgabe«, befahl Lysander, während er den Zug immer weiter erhöhte. »Wenn nötig vernichte ich dir auch beide Hände und selbst dabei muss ich es nicht bewenden lassen. Du hast noch viele andere Körperteile.«
»Vergiss es«, rief Kyriakos. »Ich kann mir später auch selbst ein Ende bereiten, dafür brauche ich deine Hilfe nicht.«
»Das kannst du nicht. Wir fliehen nicht, auch nicht in den Freitod, sondern sterben durch die Hand des Feindes. Andernfalls wirst du es sein, dessen Seele vergeht und auf Erden wie auf der anderen Seite wird man deinen Namen vergessen.« Ob die Auflösung der Seele in dem Fall stimmte, wusste er nicht, aber das weltliche Vergessen war gewiss. Die Sehnen waren am Anschlag, das spürte er. Er wollte den Schaden so gering wie möglich halten, aber er würde ihn so groß wie nötig werden lassen.
Endlich griff Kyriakos nach dem Weinschlauch. Lysander wartete lange genug, bis der Wein seine volle Wirkung entfaltet hatte. Der einstige Krieger verlor den Rest seiner Würde. Sturzbetrunken rollte Kyriakos langsam den Kopf hin und her.
Auch Lysander war von dem Kampf schwer gezeichnet. Er erhob sich, wankte, wobei Blut vor ihm in den Sand tropfte, ehe er sich schwer atmend zu voller Größe aufrichtete. Inzwischen goss es in Strömen, die Spuren des Kampfes und das Blut würden bald davongespült sein. Er griff den roten Umhang von Kyriakos und deckte ihn fast liebevoll zu. All die Zeit über hatte Kyriakos nicht um Gnade gefleht und kein einziges Mal nach dem Grund gefragt. Kein Warum, er hatte es einfach hingenommen. Er war in jeder Hinsicht ein perfekter Krieger gewesen. Nun war er ein Krüppel und ein Nichts.
»Lebe, Kyriakos«, befahl er. »Lebe in Schande, aber lebe.«
Lysander wandte sich ab, um seine Ausrüstung zu nehmen und zu verschwinden - und hielt inne. Er musste mit Erschrecken feststellen, dass sie keineswegs so allein waren, wie er angenommen hatte. Es gab Zeugen seiner ungeheuerlichen Tat.