Das Gespräch entwickelte sich doch in eine Richtung, die Stella durchaus gefiel. Düstere Philosophien zu vertreten, ja, genau das, war ihr Ding. Mit einem zynischen Funkeln in den Augen überlegte sie einen Moment, um der Valeria eine gerechte Antwort zu geben. In Stellas Gedankenwelt bewegten sich viele Bilder und Ideen. Sie entschied sich mit der sokratischen Methode zu arbeiten und einfach Fragen zu stellen, damit Valeria ihr auf dem Weg der dunklen Erkenntnis folgen konnte. "Ist es überhaupt wichtig, dass du etwas tust? Sind wir nicht einfach in dieses Leben geworfen worden? Ist es möglich, dass es garkeine Bedeutung gibt? Erhalten Dinge nicht erst Bedeutung durch uns und unsere Betrachtung?" Stella reihte Fragen aneinander, die ihre Gedanken grob spiegelten. Es fiel ihr schwer, die Fragen exakt zu formulieren, da zu viele Ideen ausgesprochen werden wollten. "Ich glaube, dass wir uns selbst Bedeutung verschaffen, durch unser Denken und Handeln. Jeden Tag entscheiden wir etwas und formen damit unser Schicksal jeden Tag auf's Neue. Nichts ist wichtig und nichts ist unwichtig, denn allein, was du glaubst, ist entscheidend." Stella warf ein paar Gedanken durcheinander, und auch pflegte ein wenig die düstere Denkschule ihres Vaters ein. Dabei gestikulierte Stella mit ihrer linken Hand, so dass sich ein paar Wellen im Wasser bildeten. "Warum verurteilst du dich dafür?" Eine Frage, die Stella so stellte, dass eine gewisse Herzenswärme mitschwank.
Die zynischen Augen der jungen Tiberia wandelten sich in einen fürsorgenden Ausdruck. "Er ist tot. Nichts wird ihn zurückbringen und du kannst nur weiterleben, in der Gewissheit, dass du in Zukunft besser handeln kannst," meinte Stella und beendete die Gestik ihrer Hand abrupt. "Wir alle sind unserer Vergänglichkeit nicht bewusst, handeln stets so, ob es immer ein Morgen gibt, immer und jeden Tag, leben wir so, als ob uns die Ewigkeit gehört. Dabei gehört uns nicht mal diese Zeit, da wir sie mit der Welt teilen. Alles, was du tust, jeden Tag, spiegelt sich in der Ewigkeit wieder. Alles, was du denkst, wird irgendwann zu Handlungen führen. Handlungen, die dich und andere verändern können oder auch nicht. Wenn es keine Bedeutung, keinen Sinn gibt, gibt es Trost darin, dass du jene Bedeutung jeden Tag selbst erschaffst." Stella machte eine Pause, blickte an das wunderschöne Mosaik an der Decke und sprach dann mit fast schon träumender Stimme: "Wenn Pluto eines wirklich lehrt, ist es, dass wir uns selbst vertrauen, handeln, solange wir können, und durch dieses Leben gehen, so leidvoll und leer es ist, denn am Ende haben wir uns ein Stückchen Zeit erbaut." Stella ließ ihren Blick wieder zu Valeria herabsinken.
"Wir sind keine Götter, keine mächtigen Wesen, die bis in alle Ewigkeit existieren. Die Götter geben vor, sich zu kümmern, doch bauen sie nur neue Bühnen für uns Sterbliche, doch die Bühne verlassen wir mit Pluto. Er geht mit uns den letzten Gang, hinter dem Styx, dorthin wohin wir gehen müssen und hinter uns liegt dann ein Leben, ein Leben, welches wertvoll durch seinen Verlust ist," teilte sie nun offen ihren Glauben mit, der ihr in Angst und Einsamkeit stets Zuflucht war. "Du bist klug, Valeria. Du hast die Gelegenheit, dich zu entwickeln. Du hast die Gelegenheit, etwas daraus zu lernen und du kannst das Leben anderer damit bereichern, wie du jetzt mein Leben bereichert hast, indem du deine Gedanken mit mir teilst. Dieses Gespräch hätte ich mit Sicherheit nicht erwartet, Valeria," sagte Stella und lachte salzig. Ihr Augen weitete sich dabei, als Valeria etwas sehr Persönliches fragte. Stella beendete ihre Lachen und ihr Gesicht erfror zu eisigem Frost. Die Erinnerung bemächtigte sich ihres Herzens. Ihre Mutter war tot. Ihr Vater höchstwahrscheinlich ebenfalls. Von ihrer Mutter konnte sich Stella verabschieden aber von ihrem Vater nicht. In beiden Fällen machte sich Stella unentwegt Vorwürfe. "Meiner Mutter las ich eine Geschichte vor, bis sie entschlafen ist. Eine Geschichte über eine Eule. Eine germanische Geschichte, die sie sehr liebte und einst für mich aufgeschrieben hatte," antwortete Stella langsam, jedes Wort auswählend und mit glasig-traurigen Augen. "Meinem Vater konnte ich nichts mehr sagen, da er einfach ging, verschwand und das Letzte woran ich mich erinnere ist, dass er durch die Tür ging und sich noch einmal umdrehte und mich Soldaten zurückhielten, weil ich zu ihm wollte. Er ging und die Soldaten brachten mich fort, weit weg," brach es aus ihr heraus. "Ich sollte gehen," wollte Stella flüchten, denn jetzt hatte sie zu viel verraten und sich selbst in Gefahr gebracht. Stella war unvorbereitet, nicht stark genug, ihre Trauer stets zu verbergen und Valeria hatte sie genau mit dieser Frage aus der Reserve gelockt. Es tat weh. Die Trauer kroch durch ihr Herz und umwickelte ihre Atmung, so dass sie kaum Luft bekam. "Ich... muss... gehen...," hauchte sie und versuchte dem Gespräch zu entkommen aber da sie keine Luft mehr bekam oder glaubte keine Luft mehr zu bekommen, hielt sie sich keuchend am Beckenrand fest.