Die Folgen eines Leerschusses
Der Ausbildungsoffizier stand neben der defekten Balliste, die Hände in die Hüften gestützt. Neben ihm stand Ravilla, der sich das Problem mit ruhiger Miene schildern ließ.
«Wie ein Bogen auch, darf eine Balliste nicht ohne Ladung geschossen werden», sprach der Ausbilder. «Bei einem Leerschuss wird die Energie nicht von den Wurfarmen über die Munition abgeleitet, sondern direkt auf das Geschütz selbst übertragen. Das führt dann zu dem, was wir vor uns sehen!» In einer ärgerlichen Geste wies er auf die Katastrophe. Manche Dinge durften nicht geschehen und doch geschahen sie.
«Durch wen wurde der Ausbildungsbetrieb beaufsichtigt?», fragte Ravilla.
«Ich möchte niemanden verpfeifen», sagte der Mann etwas kleinlaut, wohl hoffend, dass der Tribun seine Frage nicht in einen Befehl umformulierte, ihm den Namen preiszugeben.
«Es geht nicht darum, jemanden zu verurteilen», sagte Ravilla ruhig, «sondern um einen immensen Sachschaden auf dem Papier und um ein fehlendes Geschütz im Gefecht. Ich möchte mit dem verantwortlichen Ausbilder sprechen, um zu schauen, woran es lag. Wurde der Schlüssel vielleicht nicht erfüllt, hatte er allein zu viele Soldaten zu betreuen? Oder hätte er womöglich einer Krankschreibung bedurft, die er trotz Meldung im Lazarett nicht erhielt? Hat er das Geschütz womöglich bereits defekt vorgefunden? Über solche Dinge muss man reden, um die Ursachen zu ermitteln und abzustellen.»
Ravilla vermutete indes, dass jenem Offizier, der gerade vor ihm stand, der Fehler selbst unterlaufen war, und er sich vor Konsequenzen fürchtete. Jedoch würde der Fehler im ungünstigen Falle am Ende einen unschuldigen Kameraden zur Last fallen, sofern er weiterhin schwieg. Dafür fehlte Ravilla jedwedes Verständnis. Zumal ihm das Ausmaß der Sorge überzogen schien. Natürlich würde der Schuldige ein ernstes Gespräch zu befürchten haben, bei grober Fahrlässigkeit auch ein Disziplinarverfahren, doch niemand verlor wegen eines Fehlers seinen Posten.
Als der Mann, der deutlich älter war als der Tribunus Laticlavius, nur mürrisch mit den Schultern zuckte, nahm Ravillas Gesicht einen ernsten Ausdruck an. «Den finanziellen Schaden habe ich in meinem letzten Haushaltsplan zu rechtfertigen, wo er sich in einer fünfstelligen roten Zahl niederschlägt. Sofern ich nicht erfahre, wer hierfür verantwortlich ist, werde ich ein Ermittlungsfahren in die Wege leiten. Sollte ich im Zuge dessen herausfinden, dass der Name des Verantwortlichen mit deinem übereinstimmt, würde ich es bevorzugen, nicht in deiner Haut zu stecken. Darum stelle ich ein letztes Mal die Frage: Bist du sicher, dass du nicht weißt, unter wessen Aufsicht der Leerschuss stattfand?»
Die zuvor gezuckten Schultern sanken herab, gleichsam die Mundwinkel des Unglückswurms. Und nun folgte tatsächlich die Beichte, die sich Ravilla unverändert ruhig anhörte. Demnach war der Mann überarbeitet und somit unkonzentiert gewesen, so dass er versäumt hatte, die Soldaten darüber aufzuklären, die Balliste auch bei Übungen stets aufzumunitionieren und hatte die fehlende Munition vor dem Schuss nicht gesehen.
«Nun gut», sprach Ravilla nicht unfreundlicher als zuvor. «Ich freue mich, dass wir einen Schritt vorangekommen sind. Wahrscheinlich wird es bei einem Disziplinarverfahren bleiben. Ich werde außerdem mit deinem zuständigen Tribunus Angusticlavius reden, wie menschlichem Versagen im Umgang mit den Geschützen künftig vorgebeugt werden kann.»
Jedoch würden auch die Dienstzeiten des Ausbildungsoffiziers Berücksichtigung finden und aufs Genauste geprüft werden. Falls der Ausbilder über jedes Maß hinaus geschliffen worden war, konnte ihm ein müdigkeitsdingter Fehler kaum angeleastet werden. In solch einem Fall würde sich das Auge des Legatus Legionis eher auf die Reihe der ritterlichen Tribuni richten und dort nach dem Schuldigen suchen.
Nachdenklich kehrte Ravilla in sein Officium zurück, eine Sorgenfalte auf der sonst glatten Stirn, da er sich für die letzten Tage seines Dienstes etwas mehr Ruhe erhofft hatte.