Die Prozession kam zu einem plötzlichen Halt. Die Gruppe fand sich am Eingang des entweihten Tempels vor.
Clemens wusste nicht, was er erwarten sollte. Der Tempel hatte dieselbe Pracht, die er auch vor dem Ritus
in die Welt trug. Bei der flammenden Rede des pontifex schossenBilder eines neuer Zugang in den tartarus oder zumindest die Reste eines abartigen Rituals in seinen Kopf. Die trügerische Normalität, der sich die Prozession mit ihrer bloßen Anwesenheit entgegenstemmte, gab der Szene etwas Unbegreifliches, etwas inhärent Widersprüchliches. Die grelle Sonne tat ihr Übriges.
Ein Begleiter hob unauffällig die rechte Hand – das Zeichen, sich den Tieren anzunehmen. Clemens
schaute den so edel hergrichteten Tieren in die Augen. Eber, Widder, Stier – allesamt gekleidet in ein andersweltlich anmutendes Weiß, das den ein oder anderen Lichtstrahl in die Augen der Zuschauer
reflektierte.
Allesamt so ruhig. Auch das hat Clemens immer gewundert. Nur beim Widder meinte er, eine sanfte Trauer im
Blick zu erkennen. Allerdings wirkten die Tiere für Clemens immer schon etwas schwermütig.
Dieser Eindruck bewog ihn schließlich, sich des Widders anzunehmen. Die vergoldeten Hörner waren ein
angenehmes Mehr, das zusammen mit dem Weiß von Kalk und Eisenspänen
dem Tier eine anderweltlich anmutende Erhabenheit verlief.
...Und der Stier, dessen Hörner ihrer Schärfe nach nichts an ihrer Blutlust verloren haben, war dem wenig
kampferprobten Clemens dann doch zu viel. Der Widder hingegen ging ihm kaum bis zu seiner Hüfte, was hoffentlich im Ernstfall irgendwas heißen würde.
Ein paar Helfer, die wohl hinter dem Quintilier marschiert waren, hatten sich zu den restlichen Tieren
gesellt. Einer von ihnen drückte Clemens eine leere Schale in die Hand und nahm mit einer natürlichen Eleganz die Wasserschale mit, bis er sie nahe des Stieres ablegte. Erst jetzt fiel Clemens das Beil
auf, das ihn im Sonnenlicht verheißungsvoll entgegenblitzte. Ein Schauder wanderte über seinen Rücken; ein Manöver, das ihm einen ungläubigen Blick „seines“ Widders einbrachte. Der Quintilier
wandte sich ab. Der Schatten dessen, was kommen musste, ließ die Schale in seiner Hand wie einen Amboss wirken.
Das Gefühl kalten Wassers auf der eigenen Haut brachte einen wenig angenehmen Einstieg ins Verfahren.
„Favete linguis!“
Die Worte des Herolds zerschnitten die Stille und ließen am Ende nichts als Stille zurück.
Dankenswerterweise leitete pontifex Gracchus mit einer weiteren flammenden Rede die Prozession ein und
gab Clemens rastlosem Blick zumindest einen temporären Unterschlupf.
Wer auch immer die so verhassten Repräsentanten der „Christianer“ im konkreten Fall waren:
Die Tiere würden für sie zahlen.
Als wäre der Bann des Herolds gebrochen, beherrschte erneut der mystische Klang der Flöten die
Atmosphäre. Ein weiterer Helfer nahm sich der verwaisten Wasserschale an; doch nicht, bevor sich dieser seine Hände in die Schale tauchte und mit dem mallium latum trocknete. Andächtig ließ
er jeden einmal seine Hände säubern, um sie kurz darauf mit seinem Tuch zu trocknen.
Ein anderer nickte mit dem Kopf, als die Schale an ihm vorüberzog. Seine Verantwortung ruhte in anderswo
- eine Schale, die die mola salsa enthielt. Mit einem geheimnisvollen Lächeln, das Freude, Ergriffenheit und einen Anflug von Mitleid zugleich in sich trug, bestrich er jedes der Tiere mit dem Gemisch.
Vermutlich lag es daran, dass die Behandlung mit der Kalkmischung sie schon gestählt hatte... doch alle Tiere blieben ruhig. Sogar der Stier bewahrte – entgegen dem Temperament, das diese Kreaturen in
Clemens Augen stets mit sich trugen – seine gelassene Haltung. Es waren Momente wie dieser, die den Quintilier an die Schönheit seiner Aufgabe und dessen, was sie in Menschen auslösen konnte, wirklich
bewusst war.
Es gab ihm die Kraft, alles danach durchzustehen.
Die Opferhelfer mit Beil holten jeweils Dolche hervor, mit denen sie Eber, Widder und Stier über den Kopf
bis zum Hinterleib fuhren. Die Spitze berührte die Haut nur wenig, jedoch konnte die Musik nicht die bohrenden Schmerzensschreie des scheuen Ebers verdecken. Der Widder trug sein Schicksal mit Fassung,
auch wenn sein Kopf beim ersten Kontakt der Klinge leicht hochfuhr. Clemens beugte sich zum Tier herunter, hielt es an den Hörnern und schaute ihm tief in die Augen. Er wusste nicht, wieso, aber der Widder beruhigte sich.
Auf den Stier achtete der Quintilier nicht. Dass er von ihm jedoch ebenfalls nichts vernahm, hätte ihm
sein Vorurteil über das unbeherrschbare Wesen dieser Tiere widerlegen können.
Erneut trug Gracchus sein eindringliches Gebet vor. Nur diesmal würde seinen Worten auch Taten
folgen.
Drei wuchtige Männer traten am Ende seiner Worte auf den Plan, allesamt mit einer Axt bewaffnet. Clemens
schnürte es die Kehle zu. Zum Glück müsste er es diesmal nicht durchziehen.
Der kräftigste unter ihnen stellte sich direkt vor den Stier, als wolle er noch ein bisschen Spaß mit
seinem Opfer haben. Mit einer Stimme, die einem das Mark gefriert, warf der stillschweigend ernannte Stillvertreter seiner Kollegen ein „Agone?“ ins stumme Publikum. Die Tiefe seiner Stimme konnte einem das Mark gefrieren.
In derselben Inbrunst, die schon die Rede des pontifex beherrschte, erwiderte er: „Agite!“
Die Äxte hoben sich in fast schon synchronem Rhythmus – eine kalte Effizienz, die in jedem anderen
Kontext für verstörte Blicke gesorgt hätte. Doch hier war sie genau das, was die Götter wünschten.
Mit den Äxten wandte sich Clemens hilfesuchend dem Himmel zu.
Die so grelle Sonne wirkte fast schon zynisch im Angesicht der tierischen Schreie und der unheimliche
Stille, die ihnen folgten.
Ein warme Flüssigkeit auf seinen Sohlen ließ den Quintilier geschockt aus der Haut fahren.
Doch nur die leblosen Augen des Widders, der ihm für eine Sekunde sein Herz geöffnet hatte, grüßten ihn.
Als letzte Geste des Respektes hielt er den Blick, während er mechanisch die Schale unter den Kopf des
toten Tieres hielt.