'Nicht weit entfernt' war wohl eher eine relative Aussage. Das Haus des Eunuchen war fast eine Meile entfernt, aber man konnte von dort aus die Dächer des Palastes sehen, die deutlich höher als die Dächer der umgebenden Häuser waren. Auf dem Weg hierher hatte ich mich mit dem Eunuchen über Belangloses unterhalten. Den Gelben Fluss, die fruchtbaren Böden, Blumen und Vogelgezwitscher. Als wir das Haus erreichten, war ich überrascht. Es hatte einen mit einer Mauer von der Straße getrennten Vorhof und war zwei Stockwerke hoch. Mehr noch überraschte mich die wunderschöne junge Frau, die uns empfing. Ihr Gesicht hatte helle Haut und war eher schmal und nicht rund. Die mandelförmigen Augen waren perfekt symmetrisch angeordnet und die glänzenden schwarzen Haare waren kunstvoll hochgesteckt. Sie war in bunte Seide gekleidet und bewegt sich mit großer Anmut auf uns zu, blieb dann drei Schritte vor uns stehen und verneigte sich.
"Das ist meine Nichte, Tán Yù. Sie ist eine Schönheit, meint Ihr nicht?" Der Eunuch schien sehr stolz auf seine Nichte zu sein, doch irgendwie beschlich mich ein Gefühl, dass da noch mehr war, das ich wissen sollte.
"Ja, durchaus. Schön wie Jade." Das war in diesem Moment mehr als nur Höflichkeit. Sie war wirklich sehr schön. Tán Lì lächelte mich an, ohne dass ich sein Lächeln deuten konnte.
Die junge Frau verharrte in der Verneigung, während wir an ihr vorbei ins Haus gingen und folgte uns dann. "Meine Nichte wird Euch Euer Zimmer zeigen, Yúnzǐ."
Das war etwas ungewöhnlich, denn normalerweise sollten fremde Männer und Frauen weder in meiner, und schon gar nicht in der hiesigen Kultur, ohne Aufsicht zusammen sein. Andererseits hatte ich auch nichts dagegen, diesen schönen Anblick noch etwas länger zu genießen. Sie führte mich in das Obergeschoss in ein Zimmer, das anscheinend für Gäste gedacht war. Zumindest fehlte hier jede persönliche Note. "Ehrenwerter Herr, dies ist Euer Zimmer," sagte sie mit einer sanften und sehr schönen Stimme. Sie war also nicht nur schön anzusehen, sondern hatte auch noch einen schönen Klang. Sie war sicher heiß begehrt. Doch warum war sie dann nicht verheiratet?
"Wünscht Ihr einen Moment der Ruhe? Ich kann in meinem Zimmer warten, es ist gleich links nebenan." Dabei lächelte sie bezaubernd.
"Das wäre nach der Reise sicher angebracht, doch möchte ich Euren Onkel nicht warten lassen." Dabei lächelte ich höflich zurück. Am liebsten hätte ich sie einfach nur stundenlang angesehen, doch wäre das sicher alles andere als angemessen gewesen.
Sie schien das zu bemerken. "Gefalle ich Euch?"
Am liebsten hätte ich geantwortet, dass diese Frage dämlich war. Ihr war ziemlich sicher bewusst, wie schön sie war. "Euch ist sicher bewusst, dass Ihr wunderschön seit, Tán Yù. Das wird jeder bestätigen, der sehen kann. Da ich mich guter Augen rühme, ist mir Eure Schönheit auch nicht entgangen." Das war doch eine viel bessere Antwort als jene, die mir zuerst durch den Kopf ging.
Sie errötete leicht, während sie ihren Kopf senkte, mich dabei aber weiterhin ansah. "Ihr seht auch nicht schlecht aus, Yúnzǐ. Euer Aussehen ist zwar fremd, aber interessant."
Eine solche Direktheit hatte ich von den hiesigen Frauen noch nicht erlebt. Es war offensichtlich, dass Tán Yù eine besondere Frau war. Nun musste ich mich zusammenreißen, um nicht verlegen den Kopf zu senken. "Danke." Ich fragte mich 'Venus, warum ausgerechnet hier und jetzt?'
"Wollen wir essen?" fragte sie, während sie mich weiterhin interessiert ansah.
"Ja, das wird gegen meinen Hunger helfen," erwiderte ich.
Sie führte mich wieder ins Untergeschoss in einen Raum mit Blick auf einen kleinen Garten hinter dem Haus. Ein älterer Diener stellte gerade Speisen auf einen Tisch, an dem Tán Lì bereits saß. Er deutete uns, dass wir uns ebenfalls setzen sollten. Ich ließ mich zu seiner Rechten nieder, seine Nichte zu seiner Linken. Auch das war ungewöhnlich, denn normalerweise saßen Frauen hier getrennt von den Männern.
"Ihr könnt den Blick kaum von meiner Nichte lassen, gefällt sie Euch?" fragte Tán Lì unverhohlen.
Leider stimmte diese Beobachtung nur zu gut. Die Tatsache, dass sie mir gegenüber saß, machte das nicht besser. "Wie ich Euch bereits sagte, sie ist schön wie Jade."
"Da werdet Ihr sicher recht haben," sagte er höflich lächelnd, "doch solltet Ihr dabei das Essen nicht vergessen."
Damit hatte er natürlich recht, so dass ich mich mehr auf mein Essen konzentrierte. Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, half Tán Yù dem Diener, den Tisch abzuräumen und zog sich dann zurück, so dass schließlich nur noch der Eunuch und ich am Tisch saßen. Mein Gastgeber sah mich interessiert an, wobei ich ihn nicht durchschauen konnte. "Ihr fragt Euch sicher, warum sie nicht verheiratet ist," meinte er schließlich, um dann zugleich die Antwort zu liefern. "Als sie fünfzehn Jahre alt war, hatte sie sich in einen Bauernjungen verliebt. Leider hat er ihren Lotus geöffnet. Nun findet sich niemand von Stand mehr, der sie heiraten würde. Doch unter ihrem Stand will ich sie nicht verheiraten."
"Das wäre dann schon einmal eine Frage gewesen. Ich hätte dann gleich noch eine zweite Frage hinterher. Warum wohnt sie hier und nicht bei ihren Eltern?"
"Eine berechtigte Frage, mit einer einfachen Antwort," erwiderte Tán Lì. "Ihre Mutter starb bei der Geburt ihres Bruders, so wie auch ihr Bruder. Ihr Vater war während dieser Zeit als Offizier im Einsatz gegen die Xiōngnú. Er war siegreich, bezahlte aber mit seinem Leben für den Sieg. Als Bruder war es deshalb meine Pflicht, dass ich mich um sie kümmere. Dafür kümmert sie sich auch gut um mich."
Ich nickte nachdenklich. Das war ein wirklich schlimmes Schicksal. Doch gab es für mich immer noch Fragen, vor allem eine. "Warum erzählt Ihr mir das? Und warum nehmt Ihr mich als Gast auf?"
"Weil Ihr einen Freund braucht."
Das war zwar eine Antwort, aber keine, die mir half. An den Altruismus der Menschen glaubte ich nur selten. "Und warum wollt Ihr mein Freund sein?"
Tán Lì schüttelte leicht den Kopf. "So viel Misstrauen, wirklich? Vielleicht helfe ich gerne Menschen."
Das kaufte ich ihm nicht ab. "Vielleicht, vielleicht auch nicht. Für den Moment werde ich Euch das glauben."
"Nein, das tut Ihr nicht." Er klang nicht gekränkt, sondern vielmehr so, dass er ein einfaches Faktum aussprach. "Ihr habt Prinz Jiénzǐ sehr beeindruckt. Der Prinz und ich kennen uns und verstehen uns gut. Er bat mich um einen Gefallen, nun schuldet er mir einen."
Ich nickte. "Dann kann ich mich glücklich schätzen, dass er hier Freunde hat, die mir helfen. Doch habe ich einen Auftrag und kann hier nicht ewig verweilen. Was mich zu meiner nächsten Frage bringt. Wo bekomme ich Hofkleidung her? Und wie schnell bekomme ich die?"
Tán Lì grinste. "Das waren nun aber zwei Fragen." Sein Grinsen verschwand, als er weitersprach. "Doch beantworte ich beide. Ich werde Euch morgen zu dem Schneider schicken, bei dem ich meine Kleider kaufe. Er hat immer Teile vorbereitet, deshalb ist er schnell. In höchstens einer Woche werdet Ihr die passende Kleidung haben. Deshalb will ich versuchen, in einer Woche Eure Audienz zu ermöglichen, damit Ihr weiterziehen könnt. Gestattet mir nur, Euch in dieser Zeit ein Freund zu sein."
"Das werde ich sehr gerne. Einen Freund kann ich hier gut gebrauchen." Dabei verneigte ich mich leicht.
"Sage ich doch," meinte Tán Lì und erhob sich. "Bitte entschuldigt mich, ich werde früh aufstehen müssen. Ihr könnt meinen Garten und mein Haus nach Belieben nutzen."
Ich erhob mich ebenfalls. "Danke sehr." Ob ich ihm trauen konnte, wusste ich nicht. Eine andere Möglichkeit hatte ich aber nicht und die Tatsache, dass er einen Gefallen von Prinz Jiénzǐ einfordern wollte, half mir dabei, halbwegs beruhigt zu sein. Welche Macht Palasteunuchen hatten, konnte ich nicht einschätzen. Aber er schien zumindest genug Einfluss zu haben, um zu wissen, wann ich hier eintraf, und um die Wache entsprechend zu instruieren.