Ich nickte zustimmend.
"Die Prozessfähigkeit ist zweifellos ein wichtiger Zweck dieser Rechtsnorm. Bedenkt man, dass Rom damals nur eine Polis war und kaum Peregrini in der Stadt lebten, so wird klar, dass man eigentlich nur Römer als Bürgen belangen konnte. Es handelt sich demnach um einen Schutzzweck für die Gläubiger."
Nach einer kurzen rhetorischen Pause fuhr ich fort.
"Allerdings erklärt es nicht, warum für einen Proletarius jeder Bürge sein kann, der es will. Hier muss noch ein weiterer Zweck vorliegen. Betrachten wir dazu die damalige Verfassung der Res Publica, die ich ab sofort als Res Publica Antiqua bezeichnen möchte. Die bedeutendste Macht bei Wahlen hatten die Comitia Centuriata. Sie wählten die Konsuln und die Prätoren. Sie gewährten also Macht, die mit Imperium verbunden war. Außerdem wählten sie alle fünf Jahre die Censoren. In den Comitia Centuriata waren alle römischen Bürger einer Centuria zugewiesen. Patrizier und Ritter stellten 18 Centuriae, schwere Fußsoldaten, also vermögende Bürger, die keine Ritter waren, stellten 80 Centuriae der Prima Classis, und insgesamt gab es 193 Centuriae. Jede Centuria hatte eine Stimme. Die Besitzlosen, also die Proletarier, stellten genau eine Centuria. Bedenkt man dieses, so wird schnell klar, dass es auch um den Schutz der Res Publica Antiqua ging. Ein Bürge hat, wie du bereits festgestellt hattest, auf denjenigen, für den er sich verbürgt, einen Einfluss, der dem eines Patrons auf seinen Klienten entspricht. Wenn man zugelassen hätte, dass Peregrini für vermögende Bürger bürgen dürfen, hätte das ihnen einen ernsthaften Einfluss auf die Stimmen in den Comitia Centuriata gegeben. Bei den Proletariern war das unkritisch. Was konnte eine Centuria schon ausrichten? Außerdem erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass man für einen Vermögenslosen bürgt."
Nach einem Schluck Wasser sprach ich weiter.
"Wie wir an diesem Beispiel gesehen haben, kann die Auslegung nach dem Wortlaut bereits Schwierigkeiten bereiten. Im Beispiel haben wir das am Wort 'Ansässiger' gesehen. Wir haben aber auch gesehen, dass die Auslegung nach dem Zweck noch schwieriger sein kann. Den Hauptzweck, nämlich den Schutz der Gläubiger, konnten wir noch gut erkennen. Den Nebenzweck aber, nämlich ausländischen Einfluss auf die Res Publica Antiqua zu verhindern, konnten wir nur nach einer Erörterung der Verfassung der Res Publica Antiqua erkennen. Deshalb sollten wir grundsätzlich nicht nach dem Zweck, sondern nach dem Wortlaut auslegen. Nur in den Fällen, wenn die Auslegung nach dem Wort zu einem widersinnigen Ergebnis führt, sollten wir nach dem Zweck auslegen. Hast du hierzu Fragen?"