Der langen Betrachtung konnte ich nicht standhalten, ich senkte nach Kurzem die Augen. Gleich, wo ich hinsah, um mich herum lag alles in Scherben: Meine liebsten Menschen waren allesamt traurig, die neue Familie kannte ich nicht einmal, bisher hatte mich keiner begrüßt oder schon einmal Kontakt aufgenommen, ich selbst fühlte mich entwurzelt, hatte nicht einmal die Gewissheit, dass mein Schritt den angestrebten Erfolg brachte, momentan fühlte ich mich nur noch schlecht. Bevor mein Bruder kam, hatte ich mechanisch funktioniert und über nichts nachgedacht. Nun zwang mich sein Verhalten, die Lage zu begutachten und das Ergebnis fiel nicht besonders positiv aus.
Auf seine Frage nach den Claudiern nickte ich. Es lag ja auch auf der Hand, denn in Mantua lebten nicht viele patrizische Familien. „Was willst du denn tun, wenn jemand unfreundlich wäre?“, gab ich zweifelnd zur Antwort. Meine Stimme klang müde. Natürlich hatte ich mir bereits Gedanken gemacht, wie es sich anfühlen würde, wenn irgendjemand auf meine Abstammung zu sprechen kam. Die Aurelier waren der Geldadel, manche sahen das als niederwertiger an. Die Claudia hingegen war ein altes Adelsgeschlecht.
„Wie würdest du reagieren, wenn dich jemand aus einer der Maiorgentes schief anschaut?“, fragte ich in dem Moment, als er mich bereits in die Arme zog. Ich legte den Kopf an seine Schulter und war mir sicher, er würde schon einen guten Rat wissen.
Mein Blick lag auf irgendeinem Gegenstand im Zimmer, scheinbar dachte ich an nichts, aber weit gefehlt: Plötzlich waren die Gedanken an Sophus da. Es war mehr als 1,5 Jahre her, als ich das Letzte mal in seinen Armen lag. Sicher, ich hatte ihn seither wiederholt gesehen, aber behütet, wie in diesem Moment, fühlte ich mich bei ihm seit langem nicht mehr. Dabei wäre es mein Wunsch gewesen. Ungewollt schimmerten erneut Tränen in meinen Augen. Waren Männer nur so zu ihren Schwestern?
„Gab es unter deinen ganzen Bekanntschaften einmal eine, die dein Herz berührt hatte?“, fragte ich aus diesen Gedanken heraus. Es musste zusammenhanglos wirken, aber das war mir egal. Es herrschte ohnehin eine Ausnahmesituation. „Und hast du sie so wie mich behandelt?“ Die letzte Frage war noch viel wichtiger. Wenn mir Corvi jetzt sagte, dass es niemals so war, dann war belegt, dass nur ein Bruder wirklich besorgt und beschützend auftreten würde, nie aber ein Verlobter oder ein Gemahl.