Maximian konnte die vielen Fragen, die aus Julia herausquollen, nicht, wie er gerne gewollt hätte, beantworten. Noch weniger durfte sie aber von sich erwarten, dass sie sich diese Fragen alle allein beantworten musste. Das konnte kein Mensch, denn um zu wissen, wer man war, brauchte man Menschen um sich herum. Man musste mit ihnen lachen und mit ihnen weinen, um über sich zu erfahren, und dass das ein eher langwieriger Prozess war, stand außer Frage.
Aber... konnte es denn wirklich sein, dass ein Mensch sich selber nicht kannte? Vielleicht war man unsicher und unzufrieden mit sich und konnte häufig nicht nachvollziehen, warum man etwas oder wie man es tat. Aber war es wirklich möglich, dass man nichts über sich wusste? Nein, das glaubte Maximian nicht. Er hielt es eher für wahrscheinlich, dass man einfach nicht gelernt hatte, in sich hineinzuhören und sich als Menschen zu betrachten. Vielleicht hatte man jahrelang unter psychischem Druck gelebt und gelitten, was einem das auch nahezu unmöglich gemacht hatte. Wurde einem Jahre gestohlen, egal auf welche Weise, dann musste es hinterher unweigerlich so sein, als würde man aus einem Koma erwachen. Aber dass man sich nicht kannte, konnte man so dann nicht sagen. Man hatte es vielleicht vergessen, was einen ausmachte. Verdrängt, verborgen gehalten, um sich zu schützen. Aber es war alles da.
Er wandte den Kopf zu Julia und sah sie einen Moment lang schweigend und eindringlich an. Auch verlangsamte er seinen Schritt, bis er schließlich stehenblieb.
Er überlegte gar nicht erst, was er im Begriff war ihr zu sagen. Er musste es sagen, vielleicht half es. Vielleicht würde Julia eines Tages daran denken und wieder zu sich finden können. Allein das war Grund genug.
"Ja, das Leben kann seltsam sein. Es kann aber auch grauenhaft sein, wiederum erfreulich und belebend. All das kann dazu führen, dass man sich verschließt. Vor anderen, vor sich - um sich zu schützen oder die anderen. Man schläft nur noch, isst und wandert umher, ziellos und allein, und sucht nach jeder Menge Antworten. Aber du kannst nicht von dir erwarten, dass du sie alle findest. Vielleicht ein paar von ihnen, aber gewiss nicht alle."
Max machte an dieser Stelle eine kleine Pause und sah Julia mit zusammengekniffenen Augen an. So wie sie dastanden, schien ihm die Sonne direkt in die Augen, sodass er beinahe nur ihren Umriss wahrnehmen konnte. Was sie wohl dachte? Vielleicht glaubte sie, dass sie es mit einem Spinner zu tun hatte und lachte insgeheim über ihn. Oder aber sie wollte nicht hören, was er sagte, und er erkannte es nicht. Nun hatte er aber schon angefangen, also würde er weitermachen. Er machte einen Schritt auf sie zu - doch besser sehen konnte er sie dadurch nicht. Aber er ging trotzdem nicht weiter.
"Wie viel Zeit haben wir jetzt miteinander verbracht. Eine Stunde, vielleicht zwei? Und ich sage dir, allein die ersten Augenblicke haben mir sehr viel über dich erzählt, ohne dass du es bemerkt hast. Und jetzt, nach 2 Stunden, habe ich ein Bild von dir, das diese ersten Eindrücke bestätigte. Du bist nicht nur eine Person, der ich zufällig unterwegs begegnet bin. Du bist ein freundlicher Mensch, einer, der gerne lacht und mit der Natur verbunden ist, die keine Fragen stellt, auf die du Antworten suchen musst. Du liebst deine Brüder, auch wenn du dich manchmal versuchst von ihnen loszusagen, um deinen Wünschen nachzugehen. Du bist feinfühlig, nicht nur den Menschen gegenüber, und besitzt einen klareren Verstand, als mancher Senator. Auch weißt du mit schwierigen Situationen umzuegehen, bist hilfsbereit und... Ich könnte noch mehr aufzählen. Was ich damit aber sagen will, ist, dass manche Antworten vielleicht direkt vor deiner Nase stehen und du sie nur annehmen brauchst."
Immer noch konnte Maximian das Gesicht der jungen Frau nicht erkennen, sie wahrscheinlich aber seines. Er sah sie aufrichtig an, keinesfalls feindselig oder berechnend.
Nun hatte er also seine Karten ziemlich offen dargelegt. Wie sehr er hoffte, dass er sich damit nicht zu weit vorgewagt hatte. Und als er noch aufrichtig und vorsichtig zugleich in Iulias Gesicht sah, das er nicht erkennen konnte, wurde ihm mit einem Mal klar, dass er sie bereits in sein Herz geschlossen hatte. Mehr noch als das...