Beiträge von Herius Claudius Menecrates

    Er traf zeitiger als Stella ein und legte sich zurecht. Eine Ahnung beschlich ihn, dass keine leichten Gespräche auf ihn warteten. Sie hatte viele Fragen und Punkte vorgelegt, auf die er einzugehen beabsichtigte. Basis einer tragfähigen Freundschaft oder Beziehung stellte nach seiner Ansicht Vertrauen dar und Vertrauen wuchs einzig auf ehrlichem Boden. Er erinnerte sich an Lepidus, mit dem er dieses Thema anriss. Eine Vielzahl an Römern hielt weniger von Ehrlichkeit, aber Menecrates stand dazu selbst dann, wenn ihm Ehrlichkeit schadete. Heute konnte sein Hang zur Offenheit Schaden anrichten. Er spürte es.

    Offensichtlich gab es nicht nur viel zu besprechen, sondern auch aufzuarbeiten. Menecrates spürte die Bitterkeit, verstand sie auch, würde sie aber nur ungern im Stehen thematisieren. Sie würden alles Stück für Stück durchgehen, nachdem sich Stella hoffentlich in ihrer Haut wieder wohler fühlte.

    "Wir machen es so, wie ich es sagte: Du badest und lässt dich neu einkleiden. Im Tricliniumsprechen wir über alles, was wir tun wollen und was wir getan haben." Er nickte ihr aufmunternd zu und freute sich über ihr zaghaftes Winken, bevor sie mit den Sklaven verschwand. Nachdem er nichts mehr hörte, wurde er ernst. Er fragte sich, wie Stella auf die Idee kam, dass er sich verstecken würde. Weder bereute er sein damaliges Urteil noch die Vollstreckung. Das Schreien der Opfer hatte ihn weniger berührt als der Todeskampf eines unschuldigen Tieres. Christen sah er als Feinde des Reiches an und verabscheute sie persönlich, Tiere hingegen verloren zumeist unverschuldet ihr Leben.

    Nachdem er Anweisungen zur Vorbereitung eines reichhaltigen Essens gegeben hatte, schlenderte er Richtung Garten, um den Kopf frei zu bekommen. Möglicherweise musste er Stella einige Illusionen über seine Person zerstören.

    Die Jahre hatten Linos mehr verändert als das Aussehen verriet. Menecrates kannte seinen Leibsklaven vor allem vorlaut und eigensinnig. Es dauerte Jahre, bis Linos zuverlässig wirkte und er ihm - auch weil er keine Alternative gab - eine wichtige Mission anvertraute. Da Linos nicht zurückkehrte, ging Menecrates davon aus, dass er die Chance zur Flucht genutzt hatte. Die Zeit ließ die Erinnerung an Linos verblassen, aber auf dem Weg von seinem Zimmer zum Peristyl flammte sie wieder auf. Sein Leibsklave schätzte stets die Freiheit und Eigenständigkeit. Vor ihm saß ein vor Rührung aufgelöstes Häufchen Linos, der darum bat, bleiben zu dürfen. Dieser Wunsch stellte eine Neuerung dar.

    Perplex wegen der Wandlung und hilflos wegen des Gefühlsausbruches suchte Menecrates krampfhaft nach Worten, während er Linos unverwandt anstarrte. Sein Kopf ragte vor, wie der eines Geiers - der Neugier und des Unverständnisses wegen. "Natürlich darfst du bleiben!", krächzte er, bevor er sich räusperte. Zu allem Überfluss klappte Linos in diesem Moment zusammen. Im Feld würde dies kein Problem für Menecrates darstellen, weil er zu kaum einem der Soldaten je eine persönliche Beziehung pflegte, aber hier verhielt es sich anders.

    "Äh, kommt mal jemand? Wasser!"

    Zwei Sklaven eilten herbei. Ein Becher mit Wasser wurde gereicht, aber es stand nicht fest, ob Linos trinken konnte. "Macht doch was!", feuerte Menecrates an. Daraufhin stob einer der Sklaven fort und eilte mit Styrax zurück. Schnell war ein Feuer entfacht und eine Schale bereit, in die Harzkugeln kullerten. Der aufsteigende Geruch würde vielleicht helfen. Ein zweiter Sklave tränkte einen Leinenlappen in Wasser und legte ihn über Linos' Stirn.

    Menecrates nickte, denn er war mehr als so weit, er brannte förmlich. "Ich tu einfach so, als stünde ich unter deinem Kommando", erwiderte er Lurco und schmunzelte, weil die Aufmachung seiner Offizierskleidung auf einen hohen Rang hinwies. Er besaß keine Ausrüstung mehr aus der Anfangszeit im Militär und selbst wenn, würde er in diese gewiss nicht mehr reinpassen.

    Wo es lang ging, wusste er nicht, daher hielt sich auf gleicher Höhe wie Purgitius. Zwischen der Mannschaft wäre er aufgefallen. "Auf geht es, Cornicularius Octavius."

    Menecrates konnte es nicht verhindern, er musste ein Lachen unterdrücken, was ihm kaum gelang.

    "Das ist doch verrückt, Petronius. Wieso missverstehen wir uns eigentlich in letzter Zeit so oft?" Wieder deutete Menecrates die Frage falsch. Genauso falsch fielen zuletzt Petronius' Antworten aus. Was stimmte denn nicht? Zum Glück gab es keine Beinbrüche im übertragenen Sinne, weil sie nachfragten und klärten, aber verstehen konnte es der Claudier nicht.

    "Hast du eine Erklärung? Ich kann mich nicht erinnern, dass das früher schon so war." Er lehnte sich vor, und prompt kippelte der Stuhl. "Bei den Göttern!" Er stand auf und drehte den Stuhl um, weil er zuvor nichts auf dem Boden erkennen konnte. Eine weitgehend vertrocknete Weintraube klebte unter einem der Beine. Er setzte den Stuhl verkehrt herum auf der Tischplatte ab und blieb stehen. Sollte sich andere um die Rosine kümmern.

    Menecrates liebte die zügigen Abwicklungen. Unnütze Worte kosteten Zeit, außerdem besaß er keinerlei Kompetenz für seichte Gespräche. Sie strengten ihn an.


    "Optio Purgitius ist eingeweiht in den Fall, er hat ermittelt. Er ist nicht darin eingeweiht, dass du die erste Anhörung leitest." Selbstständiges Agieren gehörte nicht zu den Schwachstellen des Tribuns. Menecrates hegte keinerlei Zweifel daran, dass Petronius eigenständig auf einen unvorbereiteten Optio zugehen könne und würde. Dass Purgitius kooperierte, setzte Menecrates voraus, er zweifelte es auch in keinster Weise an. Da er sich aber zuweilen mit Petronius missverstand, suchte er auf dessen Gesicht zu lesen, inwieweit die Antworten den Punkt der Frage trafen.

    "Iulia", wiederholte Menecrates und nickte lächelnd. "Das ist ein schöner Name." Er richtete sich auf, weil die gebeugte Haltung auf Dauer unangenehm wurde. "Nein, dein Großvater bin ich nicht, aber ich kenne deinen Opa und ich kenne auch das Spiel Quid pro quo. Wollen wir es spielen?" Er blickte zu Faustina, machte den Versuch eines Zwinkerns und wandte sich erneut an das Mädchen.

    "Du führst mich zu deiner Mutter und ich führe dich nachher durch meinen Garten." Er wartete gespannt auf die Reaktion und bevor sie ablehnend ausfiel, fügte er an: "Ich habe einen Wolf. Vielleicht zeigt er sich nachher im Garten. Bist du mutig wie dein Großvater, oder hast du Angst?"

    Ihm kam nicht der Gedanken, dass er damit womöglich die Mutter ängstigen könnte. Die Kindheit seiner Sprösslinge hatte er durch sein Karrierestreben weitgehend verpasst und über ein angeborenes Feingefühl verfügte er nicht. Seine Stärke lag in der Bereitstellung eines sicheren Rahmens, der äußeren Fürsorge und bedingungsloser Hilfestellung. Er fungierte als Fels, der nach außen alles Bedrohliches abschmetterte und jedem ihm Anvertrauten Halt bot.

    Menecrates glaubte, sich verhört zu haben, als ihm die Ankunft seines einstigen Sklaven gemeldet wurde. Er fragte skeptisch und bohrte nach Einzelheiten, aber der Überbringer der Nachricht kannte weder den alten Linos noch schien er Worte mit dem Eingetroffenen gewechselt zu haben. Mit der Erwartung, eine Verwechslung vorzufinden, machte sich der Hausherr auf den Weg zum Peristyl. Vielleicht wartete auch ein Hochstapler auf ihn, denn das letzte Mal hatte er den echten Linos in Germanien gesehen.

    Den Kopf vorgereckt lugte er um den Türpfosten und riskierte zunächst einen Blick, bevor er eintrat. Er erkannte eindeutige Anzeichen für eine glaubhafte Identität, Ähnlichkeiten im Aussehen, wobei natürlich die Jahre auch an Linos nicht spurlos vorübergegangen waren.

    "Bei den Göttern, bist du das wirklich? Ich habe vor Monaten an dich gedacht, an die Mission mit Macro zu meinem Enkel Felix." Er stockte, weil sein Hirn erst verarbeiten musste. "Was ist denn damals bloß passiert?" Er dachte es, sprach es aber noch nicht aus, wie sehr ihn die Treue seines Sklaven berührte. Stattdessen trat er näher, zog einen der Stühle heran und setzte sich zu Linos. Aufmerksam musterte er ihn.

    Die angekündigte Einladung zu einer Cena kam schneller als gedacht, wobei es auch sein konnte, dass Menecrates - der vielfältigen Aufgaben wegen - das Zeitgefühl verloren ging. Wahrscheinlich lagen Wochen zwischen heute und seinem einst gegebenen Versprechen. An seine zuletzt besuchte Cena konnte er sich nicht erinnern, und derart aus der Übung kannte er nicht einmal die aktuellen Gepflogenheiten. Sicherheitshalber brachte er eine Aufmerksamkeit für Gracchus' Frau mit, die er allerdings nicht als Teilnehmerin an der Cena erwartete. Im Grunde wusste er aber nicht, was ihn erwartete. In der Gesellschaft des jungen Flavius fühlte er sich immer wohl, den angekündigten Jungmagistraten - sofern er gewählt werden würde - wusste er nicht einzuschätzen. Er wurde ihm nicht namentlich benannt. Menecrates verließ sich darauf, dass Flavius wusste, was er tat, denn er kannte Menecrates' Abneigung gegen allzu ausgedehnte Runden.

    Als Menecrates auf die Porta zuschritt, stand diese offen, sodass er eintreten konnte. Das Mitbringsel übergab er einem Sklaven mit dem Verweis auf den gewünschten Empfänger, dann sah er sich um.

    Sein Blick erfasste Gracchus Minor, was ein Lächeln erzeugte. "Salve Gracchus Minor und vielen Dank für die Einladung!"

    Gracchus Maior stand unweit und nicht zu übersehen, so wandte sich Menecrates auch diesem zu. Allerdings kam er in Not, weil er nicht mehr wusste, wie sie sich privat ansprachen. Es herrschte immer eine Distanz zwischen ihnen, obwohl Gracchus seine Cousine ehelichte. Menecrates erfuhr in den entscheidenden Momente keine Unterstützung im Senat durch Gracchus Maior. Sie pflegten einen höflichen Umgang, aber mehr auch nicht.

    "Salve Gracchus Maior!" Der Redefluss versiegte. Menecrates hoffte, dass Minor zu Hilfe kam.

    Um etwaigen Unruhen keinen Boden zu geben, bevor das Projekt Kombistation vom Kaiser abgesegnet wurde, hatte sich Menecrates entschlossen, die Toga abzulegen und seine alte Offizierskleidung zu tragen. Er kostete den Sklaven einige Mühe, die Riemen zu schließen, aber sie schafften es. Der alte Claudier fühlte sich eingeengt, begab sich aber zur verabredeten Stunde in froher Stimmung zum Tor. Sein Cornicularius begleitete ihn. Die angeforderte Streife erblickte er von Weitem, nun fehlte nur noch Optio Purgitius, der womöglich zwischen den Soldaten stand.

    Ein längerer Fußmarsch lag vor ihnen, denn die Subura begann zwar unweit der Castra, aber der Platz für die Kombistation sollte deutlich näher Richtung Forum liegen als die erste Station. Wo genau der Bauplatz lag, blieb abzuwarten.

    Menecrates nickte beiden zu: Frugi, der ihm einen freien Termin nannte und Lurco, der seine Neugier anstachelte. Wie gut, dass Frugi einen zeitnahen Termin fand und Menecrates nicht länger als eine Nacht warten musste. Damit wurde allerdings der kommende Tag eine Herausforderung, weil außer dem Besichtigungstermin noch eine Cena auf ihn wartete.

    "Uns gelingt einiges in letzter Zeit", stimmte er Lurco zu. "Die heiligen Hühner zeigten sich gewogen, jetzt berichtest du von einem viel versprechenden Platz. Wir sollten diese Welle nutzen und bei geeignetem Grundstück unmittelbar um eine Audienz beim Kaiser bitten. Die Hoffnung wäre, er nickt alle unsere Ideen ab." Es gab über die Kombistation hinaus weitere Vorhaben, die Lurco nicht kannte, dafür aber Tribuns Petronius. Das schwierigste Unterfangen bildete jedoch die Kombistation, weil sie Soldaten innerhalb des Pomerium beherbergen sollte. Menecrates hoffte auf eine flammende Lurco-Rede, sofern die heiligen Hühner nicht ausreichten, um den Kaiser zu überzeugen.


    "Wir treffen uns zur Hora quarta am Castrator. Cornicularius Octavius, du begleitest uns. Optio Purgitius, du stellst erneut eine Streife zusammen. Wir können dort unmöglich alleine reinspazieren und zu viel Aufsehen möchte ich auch nicht machen. Eine Streife passt immer." Menecrates konnte sich bis dahin überlegen, ob er Militärkleidung anlegte, um nicht aufzufallen. Vermutlich würde er aber nicht mehr in seine alte passen. Er war zwar nicht dick geworden, aber ein wenig untersetzter als früher.

    Stella öffnete ein Kapitel vergangener Zeit, das Menecrates geprägt und gleichsam bewegt hatte. Erst vor Monaten hielten ihn wehmütige Erinnerungen daran gefangen. Sie entzogen ihm Kraft, bremsen ihn und schmerzten. Zum Glück hatte ihn damals Faustus gefunden, abgelenkt und aus dem Tal geführt. Seither richtete er den Blick auf anderes. Er lenkte sich mit Arbeit ab, sprang aber sofort an, wenn er eine Chance witterte, das damals verübte Unrecht an seinem Freund und Klienten zu quittieren. Er wünschte, der Praefectus Praetorio tappte in die Falle.

    Die Hoffnung auf Verus' Rückkehr wollte er nicht aufgeben, auch wenn er in manchen Stunden resignieren wollte, doch wo befand sich der Tiberier und von welchen Getreuen sprach Stella.

    "Dein Vater führt Befehle aus", erklärte Menecrates, um die erwähnten schlechten Dinge zu begründen. "Vieles ist notwendig, auch wenn es auf den Betrachter verstörend wirkt und dem Unkundigen eine Gänsehaut über den Rücken jagt. Ich war anfangs auch entrüstet." Daraus machte er grundsätzlich keinen Hehl.

    "Losgelöst von seinen Aufgaben", seine Stimme wurde brüchig, "als Privatmann, vertritt er noble Ansichten und weist eine ehrbare Haltung auf." Ehrbarer als der Durchschnittsrömer und sogar eine Vielzahl Senatoren - zumindest damalige. Menecrates schüttelte die Rührung ab und atmete einmal durch, bevor er fortfuhr. "Deswegen besitzt er neben Feinden auch Freunde. Es ist gut, dass du hier bist." Er lächelte sanft.

    Gleichzeitig dachte er über den Holperer in Stellas Aussage nach. "Wir?" Er versuchte, sich an den Wortlaut des gesamten Satzes zu erinnern, aber es misslang. Zudem lenkten ihn ihre Tränen ab, die einen Kloß in seiner Kehle produzierten.

    Zum Glück musste er nicht sprechen, nur zuhören. Seine Selbstbeschreibung schreckte sie nicht ab, denn nichts wäre in diesem Augenblick schlimmer gewesen, als wenn sie wieder ging. Wenn es nicht Verus war, der zurückkehrte, dann wenigstens sein Vermächtnis. Menecrates spürte, er könnte Stella lieben wie eine Tochter - vielleicht sogar ein wenig mehr, denn bei den eigenen Kindern hatte er versagt. Erst bei den Enkeln agierte er väterlicher.

    Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als sie freudig zustimmt, es mit dem ungelenken Greis aushalten zu wollen, und sein Herz ging endgültig auf, als sie ihre Arme ausstreckte. Ohne zu überlegen, trat er den letzten Schritt auf sie zu und schloss sie in die Arme. "Alles wird gut!", versprach er flüsternd. Vielleicht nicht restlos alles, aber alles, was er möglich machen konnte.

    Momente verstrichen, in denen er sich um Fassung bemühte, dann löste er sich.

    "Wir sehen uns gleich beim Essen. Wenn du es nicht findest, lass dir das Triclinium zeigen." Er selbst würde die Wartezeit für einen Gang durch den Garten nutzen. Es gab viel zu verarbeiten und viel zu planen.

    Mittlerweile nahm er auch wieder die Umgebung war und sein Hirn sprang an, damit er organisieren konnte. Er ordnete in Richtung der abseits stehenden Sklaven an: "Mein Gast bekommt das Zimmer direkt neben meinem - jenes, das Faustus bis zu seiner Abreise gehörte." In einem leerstehenden Bereich der Villa wollte er Stella nicht unterbringen. Vielleicht später, wenn sie sich heimisch fühlte.

    Bevor Menecrates ins Atrium trat, zuppelte ein Sklave an der Tunika des Claudiers herum, deren Saum an einer Stelle zu sehen war. Menecrates gehörte nicht zu den modisch bewussten Menschen, aber auf ein korrektes Aussehen legte er selbst in der eigenen Villa wert, zumal wenn er Besuch begrüßte.

    Als erstes hüpfte ihm ein Mädchen entgegen. Kinder stellte für den Greis immer eine Herausforderung dar und das nicht erst seit wenigen Jahren. Er wirkte im Umgang mit ihnen oft ungeschickt.

    "Na, wie heißt du denn?", fragte er, indem er sich vorbeugte und obwohl er es wusste. Trotz unbequemer Haltung linste er nach dem angekündigten Gast, entdeckte Faustina in einem der Korbstühle und nickte ihr zu. Später würde er sie ausführlicher begrüßen. Zuerst musste er auf das Kind reagieren, denn er konnte unmöglich so tun, als sähe er es nicht.

    In einem lautlosen Stoßgebet bat er die Götter, ihm entweder seine kleine Nichte Sisenna, oder Verus' Tochter Stella vorbeizuschicken, die seit kurzem bei ihm wohnte. Beide würden das Kind ablenken, damit er sich Faustina widmen konnte. Je älter Kinder wurden und je besser man sich mit ihnen sachlich austauschen konnte, umso lieber wurden sie Menecrates. Irgendwann und unbemerkt schummelten sie sich in sein Herz. So ähnlich lief es auch bei Faustina.

    "Ich komme gleich", versprach er ihr.

    Octavius trat ein und lieferte das Stichwort Patrouille. Die Ankündigung fesselte Menecrates' umgehend, er erhob sich sogar von seinem Platz. Die Befriedung der Subura sollte Form annehmen und dafür benötigten sie ein Grundstück.

    "Optio Purgitius", grüßte er mit einem begleitenden Kopfnicken zurück, bevor er interessiert zuhörte.

    "Das sind gute Nachrichten!" Er trat hinter seinem Schreibtisch vor und die Zufriedenheit lang auf seinen Gesichtszügen. "Nicht beschreiben", antwortete er, schüttelte gleichzeitig den Kopf und reckte ihn anschließend. "Cornicularius Octavius, wann lässt mein Terminplan eine Besichtigung zu?" Er fragte in erhöhter Lautstärke, damit ihn Octavius auch hörte, wenn er einer Beschäftigung nachging.


    "Wir besichtigen und planen gleich vor Ort. Zur ersten Aufnahme von Daten reichen meine architektonischen Kenntnisse aus. Für die eigentliche Bauplanung müssen wir externe Experten hinzuziehen." Er lauschte kurz, ob Octavius antwortete, dann blickte er wieder zu Lurco und fügte an: "Unser Termin beim Kaiser folgt zeitnah, zumindest dann, wenn das Grundstück hält, was es im Augenblick verspricht."

    Immer, wenn es die Zeit erlaubte, weilte er in Gedanken bei den Nachforschungen, die er zum verschollenen Trecenarius Tiberius anstellte. Er überlegte, was er bisher übersehen hatte, welche Fäden er noch ziehen und wen er mit weiteren Recherchen beauftragen konnte.

    Als sich die Tür öffnete, ruckte sein Kopf herum und prompt befand er sich gedanklich zurück in der Wirklichkeit. Petronius stand im Raum, salutierte - was Menecrates schätzte, weil der Dienstalltag das Zackige oft genug rund geschliffen hatte - und er grüßte ihn zurück: "Salve, Tribunus!"


    Menecrates besaß einen Lieblingsplatz im Sitzungszimmer, den suchte er auf und nahm Platz. "Ich möchte vorbereitet sein, wenn uns Optio Furius überstellt wird." Damit setzte er Petronius über das Thema der heutigen Sitzung in Kenntnis, während er seinen Stuhl passend zurechtrückte. Etwas schien heute anders zu sein - eine Unebenheit des Bodens, ein Steinchen, was auch immer. Der Preafectus kippelte - zwar nur leicht, dennoch störend - wollte mit der Klärung der Ursache allerdings keine Zeit vertrödeln.

    "Die erste Anhörung lege ich in deine Verantwortung. Bis dahin ist noch genug Zeit für das Aktenstudium, aber je eher du Bescheid weißt, um so freier bist du bei der Umsetzung." Eine Gewichtsverlagerung sorgte ungewollt dafür, dass er nach hinten kippelte. Er blickte instinktiv zu Boden, ärgerte sich über die Ablenkung und fuhr mit seinen Mitteilungen fort.


    "Die Akten bekommst du von Optio Purgitius Lurco. Er kann dir auch Fragen beantworten.

    Noch was." Er drückte sich gegen die Lehne, um kein weiteres Kippeln zu provozieren.

    "Ich hätte auch eine Bekanntmachung öffentlich aushängen können, in der ich dir die Verantwortung übertrage, aber es liegt nicht in meinem Interesse, dass die Angelegenheit Furius Wochen vor dem Termin Hauptthema in der Castra ist. Wir brauchen den einen oder anderen Zeugen und wir brauchen dessen Aussagen möglichst frisch erinnert und nicht in unzähligen Gesprächen mit Kameraden durchgekaut. Ich bitte also um Diskretion." Er hätte sie auch anordnen können. Wahrscheinlich wäre das korrekter gewesen.

    "Hast du Fragen?"

    Zurück von der Patrouille

    Es klopfte an der Tür und wie immer spekulierte Menecrates, ob es sich um gute oder schlechte Neuigkeiten handelte. In letzter Zeit zog er die Signale seines Bauches in die Bewertung mit ein, denn mit dem Verstand allein lag er des öfteren falsch. Wieso ein Bauch teilweise besser beurteilen konnte als der Geist, erschloss sich ihm zwar nicht, aber er nahm die Tatsache als gegeben hin. Heute vermeldete der Bauch tendenziell gute Nachrichten und so rief er freundlich: "Herein!"


    In Kürze würde er Optio Purgitius empfangen, der mit seiner Streife aus der Subura zurückgekehrt war und dessen Weg ihn in die Principia zum Vorzimmer des Präfekten führte. Cornicularius Octavius stand in diesem Augenblick vor Menecrates' Tür.

    Stellas Blick irritierte ihn, weil er ihn nicht deuten konnte. Etwas Hilfloses und gleichzeitig Selbstzerstörerisches meinte er zu erkennen, weswegen er den eigenen Blick kaum losreißen konnte - nicht einmal, als er den gereichten Brief entgegennahm. Die Situation nahm ihn gefangen und der Raum um ihn verlor an Bedeutung. Beinahe hätte er dessen Existenz geleugnet. Er fühlte den Brief zwischen den Fingern und sah die junge Frau vor sich. Für weitere Wahrnehmungen reichte seine Aufmerksamkeit nicht aus. Alleine das Auftreten seines Gastes überzeugte ihn davon, dass sie Verus' Tochter sein musste. Ihre Ausstrahlung ließ ihn jedoch nichts Gutes in dem gereichten Schreiben erwarten. Er schluckte, bevor er sich auf den Brief konzentrierte.


    Bereits der erste Satz traf ihn, seine Hand begann zu zittern. Gab es Restzweifel über Stellas Identität, mit dem Brief waren sie beseitigt. Menecrates erkannte in nahezu jeder Formulierung den einstigen Trecenarius wieder. Kein anderer teilte sich derart mit. Es gab im Imperium keinen zweiten Verus und imitiert werden konnte er ebenfalls nicht. Der Claudier atmete hörbar aus. Die Situation belastete ihn. Wenn er es nicht vorher schon gewusst hätte, jetzt wäre es klargeworden: Aus dem einst verachteten, fast verhassten Gardeoffizier war zwischenzeitlich ein Verbündeter und letztendlich ein Freund geworden, für den der alte Claudier väterliche Gefühle hegte. Einzig die Tatsache, dass derjenige, der schrieb, nicht gleichzeitig tot sein konnte, hielt eine Hoffnung aufrecht, an die er sich klammerte.


    Er senkte den Brief und suchte wieder Blickkontakt. Die Anspannung hinderte ihn, auf ihre Frage zu antworten. Natürlich sah er sich als Freund ihres Vaters, aber nicht einmal nicken konnte er. Er fror zur Spätsommerzeit im eigenen Haus. Sein Blick fiel auf den Ring. Er brauchte ihn nicht, um sicher zu sein.

    Als Stella von einer Bestattung sprach, hielt ihn nur die Höflichkeit davon ab, ihr nicht ins Wort zu fallen. Was sie äußerte, holte ihn aus der Starre.


    "Ich gehe mit dir zum Kaiser, aber erst dann, wenn wir Beweise für seinen Tod gefunden haben. Bis dahin lebt er, hörst du!" Seine Stimme klang beschwörend. Gleichzeitig äußerte er die Instruktion mit Nachdruck. "Ich möchte nichts Anderes hören!" Er überlegte, wie er Stella einen Funken an Überzeugung vermitteln konnte, denn Hoffnung allein reichte oftmals nicht, um verbliebene Kräfte zu bündeln.

    In seiner typisch ungelenken Art, fiel ihm nichts Besseres ein: "Er schreibt, er hat für seinen Tod Vorkehrungen getroffen und dir wird es an nichts mangeln. Er kann gar nicht verstorben sein!" Menecrates wies auf die Aufmachung seines Gastes und dachte nicht darüber nach, dass er Stella damit womöglich beschämte. "Und wenn ich jetzt für dich sorge, kann das niemand als Auswirkung seiner Vorkehrungen betrachten." Er vergewisserte sich, dass sie seiner seltsamen Logik folgen konnte, war sich aber nicht sicher.


    "Baden, einkleiden, essen", entschied er, und meinte damit nicht sich, sondern Stella. "In dieser Reihenfolge gehen wir vor. Beim Essen erzählst du mir mehr. Ich muss wissen, wo ich mit der Suche anfangen kann." Mit dem eigenen Vorgehen zufrieden, atmete er einmal durch. Er war kein Narr, er wusste, dass Stella mehr als schöne Kleider, einen gefüllten Magen und ein sicheres Heim brauchte.

    Er wiegte den Kopf, bevor er anfügte: "Wenn du mit einem alten Mann als Gastgeber zufrieden sein willst, der es nie recht verstand, seine Kinder zu trösten, der oft nicht weiß, wie er den Stock aus dem Rücken zieht, und manchmal sogar aus gefühlvollen Situationen flüchtet", er blickte fragend, "dann heiße ich dich herzlich Willkommen!" Seine Augen strahlten für den Moment Wärme aus, weil das Angebot von Herzen kam.

    Der Ianitor kannte Faustina, aber er reagierte genauso korrekt wie sie und erwiderte: "Willkommen in der Villa Claudia, Aemilia Faustina. Bitte einzutreten." Er schmunzelte und trat zur Seite, um den Eingang freizumachen. Das Kind lächelte er ebenfalls an, beim Leibwächter allerdings wurde seine Gesichtszüge wieder ernst. Es wäre auch zu albern gewesen, den Schrank anzulächeln.

    Der Höflichkeit halber wurde Faustina begleitet, obwohl sie sicherlich allein den Weg ins Atrium gefunden hätte. Versonnen blickte der Ianitor ihr nach. An ihr merkte er, wie lange er bereits lebte und wie alt er inzwischen geworden war.

    Ein Sklave führte Faustina mit ihren Begleitern in das Atrium der Villa und versicherte, sogleich den Hausherrn über den Besuch zu informieren. Prompt drehte er sich um und huschte aus dem Atrium. Er ahnte, die junge Frau würde ein wenig warten müssen, weil Menecrates gerade umgekleidet wurde. Zu Hause entledigte er sich umgehend der unbequemen Toga und atmete auf, wenn er sich in einer leichten Tunika freier bewegen konnte.

    Eine Sklavin brachte in der Zwischenzeit Quellwasser und zwei verschiedene Säfte zur Auswahl für das Kind. Eine weitere stand mit Tablett und Bechern bereit, um vorzutreten, wenn Erfrischungen gewünscht wurden.

    "Das Schlafen hilft nicht", antwortete Menecrates umgehend. Immerhin rang ihm der Vorschlag ein Lächeln ab, was beim anliegenden Thema inzwischen Seltenheitswert besaß. "Selbst nach mehreren Tagen Schlaf wurde die Abneigung nicht kleiner. Im Gegenteil: Mir scheint, es kostet mich immer mehr an Überwindung je öfter ich schlafe. Abgewogen habe ich leider auch schon längst und mir steht vor Augen, was blüht, wenn ich noch länger warte. Am liebsten würde ich delegieren, aber das würde vermutlich dem Vorhaben schaden." Er seufzte. "Ich weiß einfach nicht, wie ich mich motivieren soll." Er wirkte resigniert und seufzte erneut. "Nicht einmal schöntrinken kann ich mir die Situation, weil ich Wein widerlich finde." Was gab es noch für Möglichkeiten? Wahrscheinlich musste er die Augen schließen und einfach durch, aber selbst für den ersten Schritt fehlte der Elan. Am Ende stand auch nichts, was er für sich als Belohnung ansetzen konnte. Vielleicht müsste er sich selbst belohnen, doch mit was?

    "Mir ist noch nie etwas so schwer gefallen." Sein Kopf schien leer, sodass er Octavius nicht einmal mehr eine Frage zwecks Hilfe stellen konnte.