Lucilla war ganz sie selbst, nie verlegen und immer zu einem Gespräch bereit. Schon in jungen Jahren hatte sie in Tarraco das Talent gehabt, die gesamte Familie zu unterhalten. Nicht dass es nicht viel zu reden gegeben hätte, oder die anderen eher wortkarg gewesen wären. Lucilla war jedoch speziell. Und Mutter hatte sie immer ermutigt, einfach so zu sein und zu bleiben, wie sie war. Decimafrauen hatten sich - so lange sie lebte - nie zu verbiegen.
Meridius hatte kaum Platz genommen, als Lucilla auch schon aufsah, ihre Arbeit unterbrach und das Gespräch an sich riß. Faustus hatte also einen Brief geschrieben. Und auch einen Schal geschickt. Für Meridius Geschmack war dieser viel zu bunt, und in modischen Angelegenheiten hielt er sich ganz an die traditionelle und funktionale Mode, nicht umsonst war er Soldat gewesen. Er konnte zwar schönen Stoffe und guten Kleidungsstücken etwas abgewinnen, doch seine Begeisteurng hielt sich in Grenzen. Sein Interesse war gut zwischen Legionen, allem Militärischen, Wagenrennen, Pferdezucht und griechischer Keramik, Plastik und Architektur aufgeteilt. Für letzteres hatte er jedoch zu wenig Zeit.
"Was schreibt er denn vom Feldzug?"
fragte er seine Schwester und ging auf den Schal erst gar nicht ein. Zum Glück wechselte sie auch gleich das Thema, jedoch nicht unmittelbar sofort zum Inhalt des Schreibens. Sie schien sich ernsthafte Sorgen über ihre wirtschaftliche Zukunft zu machen und Meridius war sich nicht ganz sicher, woher dieses Interesse bei ihr so plötzlich kam. Bisher hatte sich Lucilla nie wirklich groß für Politik oder den Senat interessiert, und der Verdacht stieg in ihm hoch, dass vielleicht Senator Germanicus die entsprechenden Impulse bei ihr ausgelöst hatte. Um jedoch nicht sofort das Gespräch in eine ungute Richtung zu lenken - dafür war der Nachmittag zu angenehm und die Freude auf die Reise am morgigen Tage zu groß - beschloss er auch hier nicht allzuviel zu sagen.
"Du wirst sicher nie am Hungertuch nagen, Lucilla. Dein zukünftiger Gatte wird Dir schon den Lebensstandard bieten können, den Du brauchst. Und wenn nicht, kannst Du jederzeit zu uns zurück kommen. Wir werden immer Deine Familie bleiben..."
Nachdenklich blickte er vor sich hin. Es gab einiges zu regeln, was die Hochzeit betraf, ob sie jetzt überhaupt stattfand und wann sie stattfand, wer geladen sein würde und wer nicht, wie lange die Feiern sein würden und im Grunde war es vielmehr eine Angelegenheit der Decima, denn der Germanica, denn Lucilla kam aus dieser Familie. Auch wenn es keinen Brautvater mehr gab ...
"Faustus, ja..."
beantwortete er ihre Frage, als er aus seinen Gedanken wieder zu dem Gespräch zurückkehrte und feststellte, dass Lucilla über den Inhalt des Briefes sprach. Wie es schien, hatten die Legionen bisher noch keinen nennenswerten Feindkontakt gehabt. Die positive und optimistische Einschätzung seiner Schwester konnte er jedoch in keinem Fall teilen. Nicht umsonst hatte er es seinem Sohn untersagt, noch in die Truppen einzutreten, um an dem Feldzug teilzunehmen.
"Rom scheint sich den Luxus zu gönnen, auf mich zu verzichten..."
schmunzelte er. Im Grunde war er jedoch auch froh, nicht in den Osten aufgebrochen zu sein, denn im Osten konnte man nur verlieren. Zeit, Männer, noch mehr Zeit und noch mehr Männer. Und wenn man Pech hatte, kam man gar nicht mehr zurück. Doch in welchem Krieg war dies generell anders? Abgesehen davon, dass der Parther der vermutlich stärkste Feind an den Grenzen des Imperiums war. Er vermochte zwar nicht soviel babarischen Mutes aufbringen wie die Germanen am Limes, machte dies jedoch durch die höhere Zivilisation, Kultur, Organisationsfähigkeit und Strategieverständnis wieder wett. Halfen den Germanen die tiefen und unübersichtlichen Wälder, spielten den Parthern die endlosen Wüsten, kargen Ebenen und steinigen Bergregionen in die Hände. Mit der richtigen Strategie und Taktik konnte es durchaus passieren, dass Crassus Legionen nicht die letzten waren, welche verloren gingen.
"Mach Dir keine Sorgen. Livianus ist ein fähiger Kommandeur. Und der Kaiser gehört auch nicht zu den Draufgängern. Er ist ein besonnener Mann. Er wird sicher in keine Falle laufen."
In der Tat ging der Vormarsch wahrscheinlich eher schleppend vorran. Und aus den wenigen Schilderungen, welche Lucilla in ihren Worten aus dem Brief übermittelte, folgerte Meridius, dass sich die Parther auf die Strategie der verbrannten Erde eingelassen hatten. Das war gut, wenn sie zeitgleich vergaßen, strategische Positionen zu halten um den Vormarsch der Legionen zumindest so lange zu verzögern, bis sie ihre endlose Zahl an Truppen aus den weiten Regionen des Orients mobilisierten, denn die Stärke der römischen Truppen bestand in ihrer logistischen und organisatorischen Fähigkeiten. Die springende Frage für jeden Kommandeur bestand folglich darin, zu entscheiden, wie schnell man nachrückte. War man zu langsam, nutze man seine Chancen nicht und ließ den Parthern die actio, war man zu schnell, verlor man unter Umständen die Bindung zum eigenen Nachschub und tappte in die Falle. In Meridius Kopf liefen einige Szenarien. Dann jedoch schüttelte er die dunklen Gedanken ab, lächelte seine Schwester an und kam zu seinem eigenen Anliegen.
"Wir werden morgen abreisen."