iter postremum - von der Villa Flavia zur Gräberstraße

  • Obgleich seine Trauer nicht dazu gereichte, Gracchus zu überwältigen – zu wenig hatte er Vera dazu gekannt –, so hatte die Essenz der Bestattung doch sich über sein Gemüt ausgebreitet wie eine schwere, samtige Decke, dass er glaubte, darunter ersticken zu müssen. Beständig hielt er Zeigefinger und Daumen zu einem Kreise geschlossen, die Untergründigen abzuwehren, suchte geflissentlich das fortwährende Wispern in seinem Kopfe zu ignorieren, die bleichen Schatten in seinen Augenwinkeln, die gallertartigen Ausdünstungen der boshaften Larven, welche die Phase zwischen Leben und Tod nutzen, die Welt heimzusuchen. Seit seiner Kindheit hegte er eine gewisse Furcht vor Bestattungen, nicht etwa des für gewöhnlich damit einhergehenden Verlustes wegen, sondern einzig ob ihrer düsteren, bedrohlichen Atmosphäre. Nicht zum ersten Male sehnte er bei solcher Gelegenheit sich danach, das Amt des Flamen Dialis inne zu haben, und im Gedanken daran wurde im gewahr, dass auch dies seit früher Kindheit ihn hatte begleitet, dieser Traum nach dem höchsten priesterlichen Amt des Iuppiters, und offenkundig war es nicht der Erhabenheit der Flamines wegen, nicht der tugendhaften Untadeligkeit – zumindest früher hatte er an diese geglaubt –, nicht des impliziten Ansehens oder der Macht wegen, sondern einzig aus diesem Grunde, der Bestattungen, war es doch dem Dialis von Gesetzes wegen untersagt mit jeglicher Ausprägung des Sterbens oder des Todes in Berührung zu kommen, ja nicht einmal dessen angesichtig zu werden. Mochten es auch seine Geschwister sein, welche zu Grabe wurde getragen, oder gar seine Nachkommen, niemals durfte der Flamen Dialis einer Aufbahrung oder Bestattung beiwohnen. Beiläufig warf Gracchus seinen Blick auf seine Gemahlin, und ein sublimes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Zweifelsohne wäre Antonia eine perfekte Flaminica Dialis, im Grunde gab es wohl keine Frau in Rom, welche mehr für eine solche Aufgabe wäre prädestiniert. Gracchus indes hatte längst aufgehört, diesen Traum zu träumen, waren ihm doch längstens seine Ideale abhanden gekommen, sah er sich weit von der Makellosigkeit eines obersten Priesters entfernt, allein schon aus dem Grunde, da er die Welt der rastlosen Toten zu tief in sich trug. Das Trommeln der Musik verstummte als sie den Bestattungsplatz erreichten, an welchem Gracchus zu viele Male schon hatte gestanden, zu dessen Seite hin das Mausoleum der flavischen Familie aufragte wie ein Mahnmal des Lebens selbst - und wohl war es dies. In Pisos Worten über seine Schwester erkannte Gracchus den Funken der flavischen Frauen, den Esprit, welcher ihnen allen zu eigen war, der augenscheinlich auch in Vera hatte gelodert, doch nun blieb von ihrem Leben einzig nurmehr das profane Feuer. Gierig züngelten die Flammen empor, legten sich über den hölzernen Scheiterhaufen und umfassten alsbald auch das helle Tuch, zerfraßen den bleichen Leib darunter. In dunklem Grau erhob sich der Rauch, Rußpartikel geschwängert, umschmeichelte die trauernde Familie mit beißendem Odeur nach verbranntem Fleisch, der in Gracchus' Nase zog, darin kitzelte, ihn zu einem Zucken der Nasenflügel zu verleiten, welches indes einzig äußeres Anzeichen seiner Anspannung blieb. Vom sanften Hauch des Landes getrieben formten die staubgraufarbenen Schlieren vor seinen Augen sich zu einem inkriminierenden Fingerzeig, verdichteten sich zum klagenden Weibe, dessen stumm schreiendes Maul über seinen Kopf hinwegfuhr, ihn in sich verschlang. Mochte ihr Vater über sie verfügt haben, mochte ihr Bruder um ihre Sorge angehalten gewesen sein, er allein hat die Verantwortung über den Haushalt der Villa Flavia zu tragen, er allein trug die Schuld an ihrem leisen, ungehörten Sterben. Mochte er ein zwiespältiges Verhältnis zu Aetius haben, er hätte ihm schreiben müssen, mochte er Ärzten nur Misstrauen entgegen bringen, er hätte ihrer zahllos in die Villa beordert müssen, mochte er an der Gunst der Götter zweifeln, er hätte ihnen opfern müssen um Veras Wohl. Nichts dessen hatte er getan, und nun war sie tot, eine weitere Larve in seinem Genick, ein weiteres bösartiges Zischen in seinen Ohren, eine weitere kalte Klaue um sein Gemüt. Die inferiores aus seinen Sinnen zu vertreiben suchte er tief durchzuatmen, zu spät den Gegebenheiten gewahr, zog einen tiefen Atemzug voll des beißenden Rauches in seine Lungen, was sogleich gänzlich jede grave Starre zerstörte, ihn in ein heiseres Husten ließ verfallen, bis dass feuchte Tränen in seinen Augen schimmerten, beinahe der Stoff der dunklen Toga von seinem Kopfe rutschte. Mit einem Zipfel derselben wischte er sich über die Augen, Wangen und Stirne, wünschte nurmehr alledem zu entkommen, dem Leichenschmaus fernbleiben zu können, sich einzuschließen in sich selbst, alle Fenster seines Gedankengebäudes zu verriegeln. Doch die Welt scherte sich selten um unausgesprochene Gedanken, dass munter das Feuer weiter loderte, die Bestattung der Flavia Vera weiter in jenen wohlgeordneten Bahnen verlief, welchen flavische Bestattungen seit langem unabänderlich folgten.

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  • Und so warf Piso also seine Fackel in den Scheiterhaufen hinein. Es zischte, als sie, mit dem Kopf nach unten, geradewegs in das trockene Laub, das zerstreut über dem eigentlichen hölzernen Konstrukt lag, hineindonnerte. Blätter wirbelten auf, wurden vom sich rasch verbreitenden Feuer erfasst, verglühten noch in der Luft, trugen zum sich verbreitenden Feuer bei. Als der Flavier, der die Fackel so gekonnt – oder wahrscheinlicher nur glücklich – in den Scheiterhaufen geworfen hatte, eilends zurücktrat, um nicht ebenfalls vom Feuer erfasst zu werden und folgerichtig als kleine Zugabe zum Scheiterhaufen zu fungieren, hatten die Flammen schon den halben Scheiterhaufen umschlossen. Schon leckten die ersten Flammen an Veras Rockzipfeln, an ihren Haaren, ihren Fingern. Piso schloss die Augen, um nicht dabei zusehen zu müssen. Zumindest ein paar Sekunden. Dann öffnete er sie wieder, blickte aber demonstrativ woanders hin als zum Scheiterhaufen. Sein Blick traf den seiner Schwester. Piso blickte sich verhalten um und trat zu ihr hin.
    Natürlich wusste Piso, dass Nigrina körperliche Berührungen nicht sonderlich mochte. Und das bei einem solch knuddelbedürftigen großen Bruder, der ihr nun am Liebsten um den Hals gefallen wäre und sich an ihr ausgeheult hätte. Oh, wie anders wäre Vera da gewesen. Wie liebevoll hätte sie sich um ihn gekümmert.
    Im Schein der Fackeln glitzerte die Feuchtigkeit, die sich in Pisos Augen angesammelt hatte. Manche würden sagen, verräterisch. Piso aber machte keinen Hehl aus seiner Trauer. Kurz blickte er zu den anderen – zu Gracchus, eine solemne und würdige Gestalt wie immer, dessen tiefgründige Gedanken man ihm nicht an der Nasenspitze absehen konnte, zu Lucullus, der es doch noch zum Begräbnis geschafft hatte, wenn er auch etwas abgehetzt aussah, und wieder zu Nigrina.
    “Nigrina“, machte er leise und stellte sich neben sie hin, sodass er wieder zum Scheiterhaufen hinsah. Der glimmernde Schein blendete seine Augen, sorgte aber dafür, dass er vom verbrennenden Fleisch nichts mitbekam – der Gedanke wäre ästhetisch nicht sehr ansprechend!
    “Ich...“ Er blickte zu Boden und wieder herauf. “Es tut mir Leid. Was ich dir gesagt habe nach diesem Abend im Theater. Es war nicht recht.“ Er seufzte leise, ein Seufzen, dass seine Gewissensbisse einwandfrei wiedergab. “Nigrina... ich habe doch nur Sorgen um dich. Du bist mir halt einfach nicht egal. Ich...“ Er unterbrach sich, strich den Gedanken, ihr zu sagen, dass er sie liebte, auch wenn solch eine kitschige Aussage zu seinem momentanen Gemüt gepasst hätte, aus seinem Kopf, holte tief Luft und fuhr fort. “Du bist doch meine Schwester.“ Ach Herrje, sicher kam der Schmalz nun von den nicht vorhandenen Wänden geronnen, aber Piso war nun, an dieser Gelegenheit, diesem Begräbnis einfach ganz besonders rührselig. “Ich weiß nicht, was ich machen würde, müsste ich dich auch noch begraben. Sei es wegen einer Krankheit... sei es wegen eines Unfalles... sei es wegen eines Verbrechens...“ Besonders der letzte Gedanke behagte ihm gar nicht. “Ich...“ Kurz dachte er nach. Was könnte er tun, um Nigrinas Todesrisiko zu senken? Genau! “Nimm bitte ein Geschenk von mir an. Ein Custos Corporis. Hat mir gute Dienste geleistet. Ein Parther. Er wird dich mit seinem Leben beschützen.“ Er machte eine kurze Pause. “Würdest du ihn wollen?“ Bitte sag ja, dachte sich Piso, der wohl Archias vor Augen hatte, wie er sich beklagte, dass Axilla auf sein Bewachungspersonal für sie mehr als nur allergisch reagierte.

  • Wie stets in den letzten Tagen, war Nigrina auch nun an der Seite ihres Bruders. Ihr Vater war inzwischen angekommen und begleitete sie, aber Piso brauchte sie mehr, jedenfalls hatte sie das Gefühl, und so blieb sie bei ihm, während ihr Vater sich zurückhielt – und seinem Sohn es überließ, seine Schwester zu Grabe zu tragen, so wie Piso sich schon seit Veras Tod um alles gekümmert hatte. Auch die Rede überließ er ihm, was Nigrina sehr anständig fand. Auf den Gedanken, Aetius könne es fast lieber sein, kam sie nicht wirklich, auch wenn ihr durchaus bewusst war, dass er solchen... Veranstaltungen... genauso wenig etwas abgewinnen konnte wie sie. Sie blieb bei Piso, während sie dem Trauerzug folgten, und sie blieb bei ihm, als sie schließlich ihr Ziel erreichten. Ihr Gesicht war eine blasse Maske, ihre Kleidung schwarz – der einzige Farbpunkt, der herausstach, waren ihre blauen Augen, die umso leuchteten, als sie ihr sonst jegliche Farbe abzugehen schien. Keine Miene verzog sie, kein Muskel regte sich, während Piso seine Rede hielt – nicht einmal beim Schluss, als er Vera auf eine Art beschrieb, wie sie sie niemals gesehen hatte. Unirdische Schönheit? Pah. Allerdings, so waren Begräbnisse – und so war Piso.


    Nigrina in jedem Fall lauschte schweigend seiner Rede und rührte sich selbst dann nicht, als ihr Bruder dann Scheiterhaufen plötzlich aufflammen ließ. Erst als er zu ihr trat, sie ansah, auf diese Art, die sie kannte – die sie vor allem hier in Rom wieder kennen gelernt hatte, nachdem sie sich doch einige Zeit lang nicht gesehen gehabt hatten –, und sie machte sich schon auf das Unvermeidliche gefasst. Seit Veras Tod hatte sie noch öfter Umarmungen von Piso abbekommen als sowieso schon, jedenfalls kam es ihr so vor, aber das mochte auch daran liegen, weil es, seit Veras Tod, in dieser Phase der Trauer, die vor allem Piso so sichtbar schwer fiel, ihr wiederum wesentlich schwerer fiel, ihm etwas abzuschlagen, was ihm half. Er war ihr Bruder. Auch wenn er manchmal ein komischer Kerl war, mit dem sie unter anderen Umständen wohl nicht allzu viel tun gehabt hätte... Er war ihr Bruder. Der sie in genau diesem Moment überraschte. Er... entschuldigte sich? Für ihren Streit nach diesem Theaterabend? Ihre Augen weiteten sich ein wenig, während die unvermeidliche flavische Augenbraue sich ihren Weg nach oben suchte. Sie konnte es in diesem Moment einfach nicht verhindern, auch wenn sie sich vor dem Begräbniszug FEST vorgenommen hatte, keine Miene zu verziehen. Es ging nicht. Sie hätte einfach nicht damit gerechnet, dass Piso sich überhaupt entschuldigte dafür, es wäre auch nicht wirklich nötig gewesen – wie oft hatten sie sich denn früher gestritten, teils sogar noch heftiger? Und Nigrina selbst war noch nah genug an dieser Phase ihrer Kindheit und Jugend, dass sie da noch keinen allzu großen Unterschied sah. Veras Tod musste ihn wirklich getroffen haben. Nicht nur seine künstlerisch-empfindsam-empfindliche Ader, sondern WIRKLICH. „Aulus...“ Sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, aber das war auch nicht wichtig, weil Piso gleich weiter sprach. Und... bitte was? Einen Parther schenkte? „Das... Aulus... das ist...“ Sie sah zu dem flackernden Schein des Feuers, das nach und nach den Körper ihrer Schwester verzehrte. War das hierfür der richtige Zeitpunkt? Andererseits... warum nicht? Wann bekam man denn schon einen Parther geschenkt? Die waren selten geworden in letzter Zeit... Und ihrem Bruder schien es wirklich ein Anliegen zu sein. Wirklich. Kein Wunder wenn man bedachte, was er davor gesagt hatte, oder wie sehr ihn Veras Tod mitnahm. Spontan griff sie nach seiner Hand. „Danke. Bruder.“ Ihre Mundwinkel verzogen sich zu der Andeutung eines Lächelns. Sie drückte seine Finger leicht. „Ich werd dir schon erhalten bleiben.“

  • Elegant, nobel, wie man es von ihr gewohnt war, sah Nigrina aus. Selbst bei einer Trauerfeier ließ sie es sich nicht nehmen, piekfein herausgeputzt zu kommen. Eigentlich bewundernswert.
    Und doch lag es ihm heute ein wenig fern, die Schönheit seiner Schwester zu genießen. Nicht nur, weil das ingesamt ein wenig appetitlicher Gedanke war, selbst für den Schöngeist, der Piso war. Nein, sondern auch, weil Schwärze sein Gehirn umwölkte. Trauer, so sagte man, war vor allem Selbstmitleid – und somit passte dieses Gefühl sehr gut zu Piso. Und ja, der Tod seiner Schwester hatte ihn wirklich getroffen. Bei den Flaviern war familiäre Nähe nichts Alltägliches. Nichts Selbstverständliches. Seinem Vater gegenüber hatte er nie etwas besonderes an Gefühlen gehegt. Seine Mutter hatte er kaum gekannt, doch stilisierte er sie nun empor in seinem Gehirn zu jener Göttin, der besten Mutter der Welt. Dass auch sie ihre Schwächen gehabt hatte – er wusste, dass sie ihren Mann betrogen hatte, zumindest einmal – das verdrängte er geschickt. Denn im Verdrängen war er gut. Das dürfte er von seinem Vater haben. Dann gab es natürlich Leontia, die ältere. Mit ihr hatte er nie sonderlich was am Hut gehabt, im Gegenteil, sie war ihm vorgekommen wie eine Heuchlerin – auf der einen Seite machte sie einen auf Tugend, auf der anderen brachte sie sich in allerlei komische Sachen ein. Und Nigrina... nun, das war tief drinnen in seinem Hirn noch immer die, die die Sandburgen, die er und Archias so mühevoll aufgebaut hatten, zertrampelte aus reinem Jux. Sie war kalt, unnahbar, wenig kollegial. Und da war Vera. Nur 2 Jahre Unterschied lagen zwischen ihm und ihr. Neben Archias war sie das gewesen, was Pisos Kindheit halbwegs lebenswert gemacht hatte. Sie hatte ihn immer verstanden, hatte ihm immer Trost gespendet, wenn er ihn brauchte, hatte ihn in seinen Plänen, in seinen künstlerischen Umtrieben immer unterstützt. Sie hatte sogar seine Musik gemocht, oder aber nur ihm zuliebe vorgegeben, sie zu mögen. Auch sie hatte eine ein bisschen künstlerische Ader besessen, hatte gerne gemalt... auch wenn ihre Bilder nur marginal besser waren als Pisos Musik.
    Oh ja. Er vermisste sie. Er vermisste sie wirklich.
    Und jetzt war da Nigrina. Hier, bei ihm, in Rom. Und er musste sagen, sie hatte sich schon nett um ihn gekümmert, seitdem Vera tot war. Sie war ihm die Stütze gewesen, die er gebraucht hatte, so dringend.
    Und er wollte, dass sie weiterlebte. Er wollte nicht, dass ihm noch eine Schwester wegstarb. Er wollte das nicht.
    Sie sagte seinen Namen, er redete sie voll. Sie erschien erstaunt darüber. Es mochte mehr als nur merkwürdig sein, dass Piso gerade jetzt darauf zu sprechen kam. Aber wann, wenn nicht jetzt, sollte er sonst für die Sicherheit seiner Schwester sorgen?
    “Bitte. Er heißt Shayan. Und er gehört jetzt dir.“ Freilich bräuchte man da noch irgendeine Schenkungsurkunde, aber das könnte Piso dann ja zu Hause einfach machen. Er versuchte sich an einem Lächeln.
    “Das fände ich sehr gut.“ Er genoss, wie sie seine Finger ergriff und hielt. Es war ein schönes Gefühl. Ein warmes. Ein geschwisterliches. Er umdrückte ihre Hände auch ein wenig. Es machte das ganze erträglicher. Den Rummel, den Scheiterhaufen, alles miteinander.

  • Geführt von der Hand seines Vaters hatte auch der Knabe den Weg hinaus zur Via Appia gefunden. Getragen von jenem lugubriösen Marsch, dargeboten von überaus ernst erscheinenden Artisten, setzte er einen Fuß vor den anderen, den Blick stets auf seinen Vordermann Flavius Piso gerichtet. Die Stimmung erweckte auch die Empathie des jungen Flavius, weshalb ihm bei Erreichen des Bestattungsfeldes bereits kleine Tropfen salziger Tränen über die Wangen rannen. Kaum ein Wort hatte er mit jener Flavia Vera gewechselt, doch vermochte jene Atmosphäre wohl auch ein Kind von höchster Elation zu Tränen zu rühren.


    Als letztlich gar sein Onkel Piso in Tränen ausbrach, drückte der Knabe sich an das dunkle Gewand seiner Mutter, die treu an der Seite ihres Gemahls stand und schluchzte in den einer Trauerkleidung beinahe unangemessen weichen Stoff. Als sodann noch der Rauch in die Richtung Manius Minors zog, fühlte auch er sich inkapatibel ein Husten zu unterdrücken, wenngleich die Humidität seiner Cornea kaum durch jene Verschmutzung durch die darin enthaltenen Partikel zu erhöhen war.


    Niedergedrückt von all jenen Geschehnissen, dem widerwärtigen Gestank brennenden Fleisches, der auch durch den parfümierten Holzkohleduft drang, der Hitze des Feuers und der Disposition der Anwesenden blieb der Knabe nach jener Zeremonie betreten an seiner Stelle, um sich letztlich von seinen Eltern zurück in das vertraute und Sekurität vermittelnde Heim zurückzuwenden.

  • Noch immer war Nigrina ein wenig... nun ja, verblüfft über die Großzügigkeit ihres Bruders. Nicht dass sie fand, sie hätte das nicht verdient, aber es kam doch ein wenig überraschend, gerade angesichts der Umstände. Der Körper Veras verbrannte in ihrer Nähe, das Feuer loderte, der Geruch wollte Nigrina dazu treiben, die Nase zu rümpfen – was sie sich verkniff –, und die Flammen prasselten und ließen das Holz knacken. Und ihr gehörte nun ein waschechter Parther. Piso hatte gesagt, er hätte ihm bereits gute Dienste geleistet. Also gehörte er ihm schon einige Zeit lang. Nigrina überlegte kurz, ob sie sich eines Parthers entsann, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, und sie verschwendete auch nicht sonderlich viele Gedanken daran. Auch wenn dieser Sklave schon allein aufgrund seiner Volkszugehörigkeit ein besonderes Sammlerstück darstellte, war er letztlich doch nicht mehr als das: ein Sklave. Obwohl sie nun durchaus gespannt war auf ihr Geschenk.


    Nigrina lächelte ihren Bruder noch einmal andeutungsweise zu, bevor sie wieder auf die Flammen starrte, sagte aber nichts weiter dazu. Ihre Hand blieb locker in der seinen, löste sich nicht aktiv von ihm, hielt aber auch nicht so fest, dass klar geworden wäre, dass sie den Halt brauchte. Schweigend sah sie dem Feuer dabei zu, wie es das Holz und Veras sterbliche Überreste verzehrte, und selbst, als es nahezu herunter gebrannt war, selbst als die Glut mit Wein gelöscht wurde, regte sie sich noch nicht – obwohl ihr zu diesem Zeitpunkt längst die Unruhe in die Glieder gefahren war, obwohl sie längst schon wieder so weit war, dass sie hätte schreien können vor lauter Frust über die Untätigkeit, zu der sie hier verdammt war. Stunden um Stunden des Lebens für eine Tote vergeudet, der das vermutlich herzlich egal war – jedenfalls gemessen an dem, was sie zu Lebzeiten verbunden hatte. Pisos Anteilnahme war Vera sicher nicht egal, aber Nigrina hatte mit ihrer Schwester kein allzu enges Verhältnis gehabt. Es hatte nicht einmal wirklich Spaß gemacht, sie zu ärgern, weil sie so kränklich gewesen war. Nigrina unterdrückte ein Seufzen und sah der letzten Wartezeit entgegen, die noch ausstand, bis die Asche in die Urne gefüllt war.

  • Einer bleichen, graufarbenen Decke gleich hatte ein lückenloses Wolkenfeld sich über Rom gelegt, dass kein Anfang und kein Ende dessen war auszumachen, die fernen, diffusen Gebilde nahtlos verschmolzen mit dem endlosen Horizont, welcher dahinter nurmehr aus Gewohnheit zu vermuten war, gleitet von einem kühl wehenden, herbstlichen Wind aus Westen, welcher den Anflug trügerischer Hoffnung aus der Ferne her trug, gleichsam die trüben Reminiszenzen an hellere Tage mit sich nahm. Weit mehr noch als der Tag selbst indes trübte der langsame Zug aus in Farblosigkeit gehüllter Leiber die Szenerie, der sukzessive aus den lebhaften Grenzen der Stadt hinaus sich schob, hin zu den Grabmonumenten alter und noch älterer Familien, welche ein feiner Hauch von Bodennebel umwogte - Seelen gleich, die aus dem feuchten Grunde unter den Gräsern sich erhoben. Obgleich kaum noch Schaulustige an dieser Strecke postierten, spielten die Musiker unermüdlich, agierten die Schauspieler unverdrossen und porträtierten dies vergangene Leben und Wirken, dessen Reste auf einer geschmückten Bahre voraus wurden getragen - der Leichnam des Aulus Flavius Piso, umhüllt von einer strahlend weißfarbenen Tunika, wiewohl einer toga praetexta darüber, deren bauschige Falten die brachiale Wunde an seinem Korpus verbargen. Dennoch bedingte der Zustand des toten Leibes eine Unmenge von Styrax und Salvia, die um ihn her in durch junge Menschen getragenen und geschwenkten Gefäßen wurden beständig geräuchert, um den ungustiösen Odeur nach Verwesung und Zersetzung ein wenig zu überdecken. Folgend der Bahre mit dem toten Verwandten schritten die Mitglieder der Familie - Aurelia Prisca, die zurückbleibende Witwe des Piso, Nigrina, die Schwester des Verstorbenen, an der Seite ihres Gemahls Aurelius Lupus, Quintus Flaccus, sowie Manius Gracchus mit seiner Gemahlin Claudia Antonia und den gemeinsamen Nachkommen Manius Gracchus Minor, Flamma und Titus Gracchus - letztere bisweilen zeitweise getragen durch ihre Ammen. Zwar hatte Gracchus veranlasst, dass eine Nachricht nach Ravenna gesandt worden war zu Cnaeus Aetius, doch die Wunden am Leibe des Toten hatten bedingt, ihn nicht allzu lange aufzubahren, so dass Pisos Vater nurmehr das Grab würde erreichen, sofern er überhaupt sich dazu aufmachte, die weite Reise nach Rom anzutreten. Der Familie hernach folgten Klienten, Freunde und Collegae des Verstorbenen, voraus zogen die klagenden Weiber, die tiefe Trauer weit in die umringende Landschaft kündend. Von der Villa Flavia auf dem Quirinal war die pompa funebris aufgebrochen, die Alta Semita hinab bis zum Forum Romanum, wo erst Gracchus eine Rede auf Piso hatte gehalten, ihm folgend Flaccus, ehedem sie durch die Porta Appia hinaus auf die gleichnamige Straße die Stadtmauern hinter sich ließen, den Gräbern außerhalb der ewig blühenden Stadt zustrebten. Obgleich der Weg nicht sonderlich weit war, so schien er Gracchus doch weitaus beschwerlicher noch als die letzte Sühnungsmaßnahme zum Prodigium des Frevels im Hain der Diana Nemorensis, wiewohl er nicht nur mit seinem Leibe rang, einen Fuß vor den nächsten zu setzen ohne zu straucheln, sondern gleichsam mit seiner Seele, welche ohne den Anker der strukturierten Pflichterfüllung der Laudatio vor sich nun allmählich begann gegen seinen Geiste zu rebellieren und neuerlich in Aufruhr zu geraten, aus Trauer und Wehmut abzugleiten in tiefste Desperation. Er konnte spüren, wie in seinem Kopfe der Druck sich verdichtete, wie seine Schläfen zu pochen schienen, und mit einem wehmütige Blick empor zum Horizont sehnte er den Regen herbei, der alle Spuren würde verwischen, doch zeigte sich weiterhin nur das trübe, gedeckte Grau, welches kalte, trockene Abende zumeist kennzeichnete, ihn zu verhöhnen schien und alleine zurück ließ in dieser misslichen Lage. Irgendwann in seinem Leben, nicht allzu weit zurück, musste es einen Punkt gegeben haben, an welchem er seiner Contenance endgültig war verlustig gegangen, an welchem er die Kontrolle über die mentale Beherrschung seiner äußerlichen Fassade hatte verloren, doch allfällig war es auch nur so, dass das Bassin, welches Zeit seines Lebens all die tausenden, abertausenden Tränen hatte aufgefangen, welche er innerlich hatte vergossen, nun zur Gänze war angefüllt, dass jede weitere Träne keinen Platz mehr dort fand, sich zwangsläufig musste nach außen ergießen. Blinzelnd suchte Gracchus das verräterische Nass aus seinem Augenwinkel zu verscheuchen, hob schlussendlich kurz wie beiläufig die Rechte, um den feuchten Glanz von seinen Wangen zu nehmen. Er durfte nicht an Aulus denken, nicht an die Vergangenheit, nicht an vertane Gelegenheiten der Zukunft, nurmehr durchhalten bis zu dem aufgeschichteten Stapel aus Holz und Reisig, der die Hülle seines Vetters würde mit sich nehmen, welchem er allfällig auch seinen Schmerz würde anvertrauen können, dass er verbrannte in den lodernden Flammen, sich verflüchtigte im Rauch des Feuers. Zugleich jedoch wusste er, dass es nicht so war, dass es nie so war, dass der Schmerz blieb für alle Ewigkeit, dass die Wunde in seiner Seele sich irgendwann würde schließen, doch die Narbe zurckblieb, dass der tiefe Riss in den Grundfesten seines Gedankengebäudes würde ausgebessert, doch die Spuren dessen niemals verschwanden, die Gedanken irgendwann würden leichter werden, doch niemals ohne inhärente Traurigkeit - dass der Tod, dass das Sterben Teil des Lebens war, nicht widrig, nicht schrecklich für die aus dem Leben entschwundene Seele, dass indes die Leere, das Zurückbleiben zum schmerzlichsten Los gehörte, das den Lebenden blieb.

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  • Auch das Schöne muss sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
    Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
    Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
    Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
    Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
    Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
    Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
    Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.
    Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
    Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
    Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
    Dass das Schöne vergeht, dass das Vollkommene stirbt.
    Auch ein Klaglied zu seyn im Mund der Geliebten ist herrlich,
    Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
    (Friedrich von Schiller, Nänie, um 1800)


    Auch das Schöne muss sterben! Wie wahr. Nur, … sollte das Vollkommene nicht eigentlich auf besondere Weise vergehen - allein der Ästhetik Willen? Durchbohrt von Achill´s Pfeilen, gepfählt von des Minotaurus´Hörnern, eingeäschert von den Blitzen des Zeus höchst persönlich, … Oh ja! Zwischen welch heroischen Toden vermochte das Schöne bereit sein zu wählen? … Erschlagen von einem wurmstichigen Dachbalken einer maroden insula?! Welche Ironie des Schicksals bescherte der Ästhetik einen derart anti-ästhetischen Tod, dass selbst die Tränen der Götter diesen Frevel nicht mehr aufzuwiegen vermochten? Priscas Tränen allein reichten jedenfalls nicht dafür aus, um solch ein Verbrechen an dem Schönen zu sühnen. Wie könnte sie es ihrem geliebten Gatten auch jemals verzeihen, dass er ihre Liebe auf derart schmähliche Weise verraten hatte, indem er sich von einem Stück Holz hat erschlagen lassen. Du Schuft! Sei verdammt bis in alle Ewigkeit, dass du mir das an tust und unsere Liebe verrätst. Seid verflucht ihr Parzen dafür, dass ihr mir dieses Schicksal aufbürdet und mir alles nehmt woran ich geglaubt habe. Meine Sehnsucht nach Liebe! Was davon ist nun geblieben, außer einem Klumpen Stein, der tief ihn mir schlummern wird bis in alle Ewigkeit?!, haderte Prisca noch am Tag der Beerdigung mit sich und der Welt. Sie verfluchte die Liebe und alles um sich herum und dementsprechend versteinert und abwesend wirkte sie inmitten der trauerenden Gemeinde. Trauer? Nein, die Trauer um ihren Geliebten war längst versiegt so wie die Tränen, die längst nicht mehr flossen. Warum auch. Es gab nichts mehr, was es wert gewesen wäre betrauert zu werden, denn das Schöne war längst vergangen, hinweg gespült und hinab gegangen in den Orkus der Vergänglichkeit.


    requiesca in pace! ...

  • Nicht nur Klienten des Verstorbenen waren gekommen, um den Tod ihres Patrons zu beklagen, auch der Patron des Verstorbenen war gekommen, um den Tod seines Klienten zu betrtauern. Zwar hatte Macer nur über Umwege von dem Tod des Flavius Piso erfahren, aber das schmälerte die Erschütterung über sein Schicksal in keiner Weise. Macer hatte nicht zum ersten Mal von Unfällen mit zusammenbrechenden Häusern in der Subura oder anderen Stellen der Stadt gehört und nicht zum ersten Mal kannte er auch eines der Opfer. Und trotzdem traf ihn dieser Verlust schwer. Ein Verlust für Rom, für den Senat, für den Cultus Deorum, für die Künste, und auch für Macer persönlich. Zwar wäre es übertrieben gewesen, hätte er nun den Verlust eines engen Freundes beklagt, aber immerhin kannte er Piso schon lange, fast von Beginn von dessen politischer Laufbahn an. Und hier nahm ihr gemeinsamer Weg nun sein unrühmliches, trauriges und unumkehrbares Ende.

  • Die Novität der Ermordung von Onkel Flavius hatte die Hausgemeinschaft der Flavii auf Höchste disturbiert und auch dem jungen Flavius, der mit Behagen der Freundlichkeit und dem Humor seines Cognaten gedachte, der ihm zuletzt in die Untiefen der Jurisprudenz eingeführt hatte. Nun lag sein erblasster Leib regungslos auf dem Feretrum, sein Antlitz auf seltsame Weise entfremdet und seines stets freundlichen Lächelns beraubt, gehüllt das Staatskleid als Leichenhemd. Durchaus gereichte dem Knaben dieser Umstand zur Trauer und sein rundliches Gesicht spiegelte jene Betrübnis wider, die seinen kleinen Geschwistern noch gänzlich fern lag.


    Besondere Bestürzung evozierte schlussendlich aber der Gefühlsausbruch, dem sich Gracchus Maior hingab und dessen Singularität Gracchus Minor neuerlich die Gravität jenes Verlustes vergegenwärtigte, sodass er letztlich geradezu aus Kommiseration seinerseits eine Träne vergoss und sich Schutz heischend ebenfalls näher zu seiner Mutter gesellte.

  • Schritt um Schritt näherte der Trauerzug sich der pyra, welche neben dem Grabmal der Gens Flavia war aus mit Öl getränkten Hölzern und Zweigen um einen Kern aus Kohle errichtet - für eine Hülle aus Blättern war es bereits zu spät im Jahr -, und die Träger der Bahre legten diese oben auf, dass Pisos blasse Haut und die strahlend weißfarbene Toga hell sich abhoben von der allmählich im Osten an den Himmel empor kriechenden Dämmerung. Von seinem Vilicus nahm Gracchus ein Gezweig entgegen - es war jenes, welches er wenige Tage zuvor dem arbor felix im Hortus der Villa Flavia hatte entrissen, trat an den Scheiterhaufen heran und legte es auf seines Vetters Brust obenauf, vergeblich dabei suchend, nicht an die grauenvolle Wunde zu denken, welche sich unter den Stoffbahnen in Pisos Leibe abzeichnete.
    "Lebe wohl, Aulus"
    , flüsterte er tonlos, ehedem er einen Schritt nach hinten trat in die Reihe der zurückbleibenden Lebenden. Trotz der feuchtkalten Witterung sprang die Flamme der Fackel unmittelbar auf das Gehölz über, züngelte gierig an Astwerk, Stoffbahnen und menschlichen Überresten, dass alsbald das Feuer sich wiegte im Tanz des Vergehens, gleitet von der kakophonischen Melodie der greinenden Klagefrauen. Gracchus neidete ihnen in diesem Augenblicke, denn wie sehr wünschte er sich, seine Trauer aus sich hinaus zu weinen und zu klagen, lautstark seine Wut und seinen Zorn aus sich hinaus zu schreien. Doch kein Ton echappierte seiner Kehle während er starr dem Wirbeln der Flammen zusah, während der beißende Rauch ihm scharf in die Nase und über die Augen zog, dass neuerlich ein wenig Flüssigkeit darin sich sammelte, und während die materielle Existenz des Aulus Piso ihr Ende fand, fand auch in Gracchus ein Dasein sein Ende, starb eine kleines mentales Leben - Träume, Pläne, Gedanken und Vorhaben, die nun niemals mehr ihren Weg in die Realität würden finden, nicht einmal in die unbedeutende, fiktive Wirklichkeit gesammelter Buchstaben.

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  • Durch den kühlen Wind und die niedrigen Temperaturen dauerte es einige Zeit bis dass der Leib verbrannt, der Scheiterhaufen nurmehr ein Häufchen Asche war, und die flavische Familie die Überreste des Aulus Piso in einer Urne zusammen sammelte - Knochenstücke, Zähne, Schmuckstücke und kalte Asche. Es blieb nicht einmal so viel wie das Gefäß aufzunehmen bereit war, dann trugen sie die Urne zum prächtigen Grabmal der Gens Flavia hin, um sie dort hinein zu geben, zu all den anderen Verstorbenen der Familie, umringt von einigen Gegenständen, von welchen die Lebenden glaubten, dass dem Toten sie würden nützlich sein. Mit undeutlichem Gemurmel, Formeln aus einer längst vergangenen Zeit, und einigen Spritzern Wasser reinigte ein Priester schlussendlich die Bestattungsgesellschaft von dem an ihr haftenden Kontakt mit dem Tod, entließ somit die Lebenden zurück in den Teil der Welt, welcher ihnen gehörte. Erste, verhaltene Gespräche setzten ein auf dem Rückweg zur Stadt hin, Erinnerungen an Piso bisweilen, doch darüber hinaus auch ganz profane Dinge, welchen ihre Hoffnungen und Sorgen galten, denn das Leben ging weiter. Immer.

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  • Die bittere Pein durchzog seinen Körper und Flavius Furianus schnaubte auf, als der Leichnahm des so großartigen Talents in Flammen aufging. Einst hatte er diesen Jüngling aus einem ganz anderen Blickwinkel gesehen - er war ein Träumer, hatte das Herz auf der Zunge und die Konventionen mussten diesem vom Anfang an aufgezeigt werden. Es erschien ihm damals wie eine endlose Baustelle zu sein. Doch dieser junge Flavier beeindruckte. Er hatte es gemeistert, war im Cultus genau so erfolgreich wie in der Politik. Und auch wenn Furianus nur in fernen Landen von den Erfolgen der flavischen Sprösslinge las, so war er stets nahe genug, um seine wilden Spekulationen über den späteren Werdegang einiger Jungtalente zu spinnen. Und in Piso lag in letzter Zeit die Hoffnung - jene Hoffnung, die ein schnelles Ende hatte finden müssen.
    Es tat ihm leid. Dieser junge Mann hätte mehr Förderung verdient, hätte es noch weiter schaffen können als bisher und er, der alte Mann, er hatte sich in Piso getäuscht.
    Er war kein Mann der Tränen und so überließ er das Wehklagen den Frauen. An der Seite stehend, seinem Rang und Namen recht unpassend, verharrte er an seinem Gehstock gelehnt und blickte gen Boden. Ein grauenvoller Tag für die Familie, ein beklagenswerter für Rom.
    Ein letzter Blick, ein fernes Seufzen und Flavius Furianus stieg in die Sänfte, welchen ihn auf den Landsitz vor den Mauern Roms brachte.

  • Es war nur ein recht kleiner Zug, welcher den Leichnam der Claudia Antonia aus dem Hause der Flavier vom Quirinal hinab vor die Tore Roms geleitete - Verwandte, Freunde der Familie und ein Teil des Haushaltes -, und wie es Sitte war weinten und jammerten die Klageweiber und flavischen Sklavinnen laut, während der Rest der Gäste vorwiegend schweigend der Bahre folgte. Mit jedem Schritte glaubte Gracchus zu spüren, tiefer und tiefer in die Spalte zwischen den Pflastersteinen zu sinken, mit jedem Schritt den Untergründigen sich zu nähern, und als der Zug der Trauernden am Rande des flavischen Grabmales angelangte und der Leichnam auf die pyra wurde gebettet, fühlte Gracchus beinah sich selbst als ein Teil der Lemuren, respektive der Larven, welche nicht mehr unter den Lebenden weilten und doch nicht aus dieser Welt konnten entkommen. Die Zypressen zur Straße hin wankten leicht im Wind, welcher gleichsam die Flammen der Fackeln und mit ihnen die Schatten ließ tanzen. Mit einem Male wurde Gracchus gewahr, dass er Antonia noch so vieles hatte sagen wollen, so viele Erklärungen ihr schuldete, so viele Abbitten. Mit einem vergoldeten Zweig, welchen er tags zuvor aus der dürren Krone des arbor felix im Garten der Villa Flavia hatte gebrochen, trat er an den Scheiterhaufen heran. Er würde all diese Worte bewahren müssen, sie Antonia zueignen sobald sie sich würden wiedertreffen, an jenem Tage da sie über das Meer würden dahintreiben, auf einem Schiff aus Azurblau und Algengrün, und in diesem Augenblicke würden all diese Worte wahr sein, weit edler und wahrhaftiger als sie es je gewesen waren. Mit zitternder Hand legte er den Zweig auf der Toten Brust ab.
    "Bitte verzeih mir"
    , bat er ein letztes Mal um Exkulpation obgleich sie ihm niemals mehr würde zuteilwerden können, trat sodann zurück, seinen Söhnen ein letztes Mal die Gelegenheit zu einem Abschied einräumend, ehedem das Feuer Antonias Leib würde verzehren.

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  • Wie Manius Maior, so mochte auch Manius Minor kaum eine Similität der Archimima mit seiner Mutter zu entdecken, da er diese doch mit schwindendem Sehvermögen vornehmlich anhand ihrer Gestik, ja ihrer gänzlich individuellen Art der Bewegung identifiziert hatte, was indessen den kompliziertesten Aspekt der Schauspielkunst darstellen mochte, sodass es impossibel war, dass eine Actrice, mochte so noch so begnadet sein und zu den teuersten ihrer Profession zählen, dies ex post und ohne persönliche Kenntnis des durch sie zu repräsentierenden Individuums in konvenierlicher Weise darzubieten. Ohnehin vermochte der Knabe sie von seiner Position in der Pompa Funebris kaum zu beobachten, weshalb er sich rasch wieder den düsteren Gedanken seines Verlustes hingab, während er mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte, bis sie endlich am flavischen Mausoleum angelangt waren, wo sie der Scheiterhaufen erwartete.


    Nun galt es Abschied zu nehmen, sodass er sich seinem innerfamiliaren Rang gemäß hinter seinem Vater einreihte, was ihn in den Stand versetzte, dessen exkulpierende Äußerung zu vernehmen, die er selbstredend auf dessen Versagen in den Jahren des Krieges projizierte, was neuerlich seinen Schmerz intensivierte: In der Tat war er nach dem Tode Antonias zur Gänze auf sich allein gestellt, der Spross eines verdorbenen Stammes, einer Gestalt, welche phänotypisch durchaus jene Gravitas und Dignitas präsentierte, die einem Flavius zur Ehre gereichte, die aber in Wahrheit ein gemeiner Feigling war, der seiner eigenen Mahnungen, das Wohl der Familie und des Staates über das eigene zu stellen, bitterlich spottete.
    Jene Gedanken bewegten ihn so, als er das blasse Antlitz seiner Mutter erfasste und ihr, gemahnt an Gravitas und Dignitas, welche sein Vater konträr zu seinen Prinzipien überaus formvollendet repräsentierte, in recht formeller Weise einen Kuss auf die Wange hauchte, wobei ihm der süßliche Duft des Todes in die Nase stieg, welchen selbst die Mengen an Parfums und Essenzen bei jenem mehr als drei Tage alten Leichnam nicht zu überdecken vermochten, der indessen zugleich dem jungen Flavius das letzte Mal, als er diesen geatmet hatte, in den Geist rief und ihn mit Schauern seiner widrigen Träume gedenken ließ. Mit einem Frösteln ließ er somit ab, inständig hoffend, dass seine Mutter nicht wahrhaftig zu einem jener Lemuren mutierte, die die Nächte und Tage der Lebenden quälten, weshalb er im Geiste gelobte, ihr stets pietätsvoll Opfer darzubringen und zu nähren, wie es sich auch für einen Sohn mit lebenden Eltern gebührte.
    "Vale!"
    , hauchte er endlich und wandte sich ab, um auch seinem Bruder die Option zu bieten, seine Mutter zu verabschieden.

  • Gaffende Blicke folgten dem Knaben. Wenige Menschen, die am Rande der Via stehen blieben, über die sich der Zug von Trauernden wälzte. Patrizier, Gäste der trauernden Familie und all die Sklaven, die jeden Freien an der Zahl überstieg. Kleine Schritte vermochte der kleine Flavier nur zu machen, stumm und mit großen Augen, die alles um ihn herum verfolgten. Sei es das stets Schluchzen mancher Weiber, die sich besonders dienstbeflissenen zeigen wollten. Ab und an war ein echtes Seufzen oder Stöhnen zu Hören, das der jungen Claudia galt, die immer noch in der Mitte ihrer Blüte ins Jenseits und zu den Göttern gegangen war. Ab und an erheischte der Knabe einen mitleidvollen Blick, der sich auf ihn richtete. Stoisch erwiderte er diese Augenpaare und erntete damit stets eine Mischung aus Bewunderung und schlicht Verwunderung. Titus war sich jedoch sicher, seine Mutter würde ihn in der Villa Claudia fern von Rom erwarten.
    Minor. Er musste das auch noch erfahren. Denn Titus sah, dass sich seine Gestalt, trotz der großen Würde, die er zeigte, doch ab und an durch Gram zu verraten schien.
    Sein Vater. Titus hatte keinen Zweifel, dass er es wusste.
    Eine Maus raschelte im Unterholz der Zedern. Die Fackeln flackerten mit Stöhnen und kleine Funken tanzten wie Irrgeister hinfort, erstarben im Wogen des Windes. Die dunklen Haare des Flaviers zerzausten leicht und er sah unter den Fransen seiner Stirnhaare hinauf zu den Männern, die alle viel größer als er gewachsen waren. Voll kindlichem Ernst und dem Bemühen, nicht wie ein Kind wirken zu wollen. Doch machten seine Augen, groß und rund in seinem Gesicht, jegliches Bemühen zunichte. Auch als die Reihe an ihm war und seine kurzen, zu dünnen und schwachen Kinderbeine ihn bis zu dem Körper trugen, auf dem schon Zweige lagen, die wie ein Fächer unter dem starren und zu Wachs gefrorenem Gesicht der Claudia ruhte. Weich und formvollendet rankten sich die schwarzen Locken in kunstvoller römischer Manier um das immer noch schöne Gesicht, das selbst vom Tod wenig entstaltet werden konnte. Doch es fehlten die dunklen Augen, die mal sanft, dann wütend oder aber auch gleichgültig auf den Knaben gesehen hatten. Titus starrte auf das Gesicht. Er verharrte neben ihr und langsam wurden seine Augen größer. Der Zweig in seiner Hand fiel wie eine Feder hinunter und streifte sanft den kleinen Muttermal, den er schon im Hause bemerkt hatte. Langsam öffnete sich der Mund des Jungen. Der Zweig rutschte hinab, glitt bis zu dem Arm der Claudia, wo ihre Hand jenen aufzufangen schien, starr und kalt war alles an ihr und doch so echt. Eben wie die Finger, die den kleinen Flavier wenig berührt hatten in seinen Kinderjahren.
    Starr und stumm stand Titus dort. Unfähig sich zu rühren. Die Macht der Erkenntnis hielt ihn gebannt wie die Maus, die das grauenvolle Maul einer Schlange erblickt hatte. Es war sein Kindermädchen, eine kleine, runde Sklavin, die dem Jungen ins Gesicht sah und erkannte. Schnell griff sie nach seiner Hand und führte den Knaben von der Totenstelle seiner Mutter hinfort, um ihn wieder zu seinem Vater und seinen Bruder zu geleiten. Die Augen des Titus hoben sich und er sah in das zermarterte Gesicht seines göttlichen Vaters. Dann in das seines großen Vorbildes, seinen Bruder, der über alle Zweifel erhaben war. Vorwurf stand in Titus' Gesicht. Für beide Männer. Er fühlte sich belogen. Auch wenn beide doch im Grunde nichts dafür konnten. Die Augen senkten sich und er blieb stehen neben jenen, die seine einzige Familie waren.

  • Manius Minor hatte ohne weitere Regungen aufs Neue seinen Platz an der Seite Manius Maiors eingenommen, während Titus der Mutter Lebewohl sagte, bis dessen Amme intervenierte und ihn gewahr werden ließ, dass jener selbst sich nun ebenso nach seiner Amme sehnte, welche zu kalmieren ihn zweifelsohne imstande gewesen wäre, die indessen bereits vor vielen Jahren von ihm separiert worden war, um ihn der Obhut seines Paedagogus Artaxias zu überantworten, welcher ihn zur Mannhaftigkeit und Autonomie zu erziehen gehabt hatte.


    Endlich trafen sich die Blicke der Brüder, obschon der ältere von beiden selbstredend inkapabel war, den offendierenden Charakter des Antlitzes des jüngeren zu dechiffrieren, da beide doch Seite an Seite standen und somit die Kapazität der minorischen Augen gänzlich überfordert war. Dessenungeachtet fiel sein erwidernder Blick überaus melancholisch aus, während er, eingedenk seiner Rolle als letzter verbliebener, obschon widerwilliger Tapferer der Familie, endlich sich einige Worte abrang:
    "Mama wird..."
    Doch was würde sie? Noch immer fehlten ihm die Worte ob jener Tragik, noch immer vermochte er nichts Tröstliches zu finden am Tode der geliebten Mutter, die weder an einer chronischen Krankheit laboriert hatte (zumindest soweit ihm bekannt), noch mit hohem Alter gesegnet worden war, sodass ihr Ableben erlösende Wirkung entfalten hätte können. Vielmehr war sie in der Blüte ihrer Jahre hinweggerissen worden, viel zu früh abberufen in die Gefilde der Seligen, wo die beiden Knaben sie nie wieder addressieren mochten bis über sie selbst der Schlaf des Todes sank.
    "...immer über uns wachen!"
    , vollendete er endlich den Satz nach einigem Zögern mit einer hohl erscheinenden Phrase, da diese Obliegenheit sie doch in weitaus besserem Maße als Lebende hätte exekutieren können, was durchaus die Frage evozierte, warum die Götter eine derartige Grausamkeit erdacht haben mochten.

  • Als Titus seinen Blick empor hob, konnte Gracchus den Vorwurf Antonias in seinen Augen erkennen, jenen Blick, welcher alle Bestrebungen seines gesamten Lebens in einem Herzschlag als ungenügend abtat, welcher jede Mühe, jeden Versuch und jede Anstrengung als kläglichen Versuch ließ scheitern, welcher unmissverständlich ihm verdeutlichte, welch Versager er war. Weshalb hatten nicht die Götter ihn vom Angesichte der Welt tilgen und stattdessen Antonia bei ihren Söhnen verweilen lassen können? Ein Schatten, evoziert durch das Flackern einer der Fackeln im Winde, zog über das Haupt des Knaben hinüber und brachte Gracchus in Erinnerung, weshalb all dies so war, wie es war, wiewohl dass sein jüngster Nachkomme eben jenen Fluch fortführte, welcher auch auf seinem Leben lag. In einer unbedachten Handlung wischte er die Larve über Titus' Kopf hinfort, gleichsam im Versuche diesen Gedanken hinfortzuwischen, griff sodann nach der Fackel aus Sciurus' Hand und trat neuerlich an den Scheiterhaufen, diesen mit abgewandtem Blicke in Brand zu setzen. Augenblicklich entzündeten sich die mit Öl getränkten Zweige, ließen mehr und mehr Flammen auferstehen, welche gierig nach dem toten Leib der Claudia lechzten. Gracchus trat nicht zurück, entsann sich an die Nacht der Saturnalien und war einen Augenblick versucht, seiner Gemahlin auf ihrem letzten Wege beizutreten, einzig um nicht eines Tages allein brennen zu müssen. Doch wie stets fehlte es ihm schlussendlich an Mut, trat er die Flucht an zurück als der beißende Geruch brennenden Fleisches in seinen Augen stach, und rechtfertigte sich vor seinem eigenen Gewissen, dass er unmöglich Antonias pyra zu einem Scheiterhaufen des Verrates konnte verkommen lassen. Stumm blickte er auf das lodernde Feuer, welches die Kälte aus seinem Herzen nicht konnte vertreiben, blickte in das goldfarbene Licht der Flammen, welches die Dunkelheit in seiner Seele nicht konnte erleuchten, blickte in die Endlosigkeit des Kreislaufs allen Lebens, welche die Leere aus seinem Geist nicht konnte verbannen, und obgleich seine Familie - welche schlussendlich noch immer zahlreich vertreten war - um ihn her stand, so fühlte Gracchus in diesem Augenblicke sich unendlich allein.

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  • Unter den Trauergästen befindet sich auch Iullus Flavius Fusus und hat den Lauf der Dinge bis dahin still und unauffällig aus dem Hintergrund verfolgt. Er selbst mag hinsichtlich Verwandtschaftsgrade der Toten nicht allzu nah sein, doch weiß er ihr zumindest ein vages Bild aus den Nebeln seiner frühkindlichen Erinnerung zuzuordnen. Unbenommen von dieser nur schwachen Verbindung, fühlt sich der junge Flavier jedoch von starken Emotionen heimgesucht. Auslöser hierfür sind sowohl der Gedanke an den Verlust der Großtante, als auch das mitempfundene Leid derer engsten Anverwandten, die ihm in seiner Zeit in Rom schnell ans Herz gewachsen sind. Unentwegt kämpft er mit den Tränen und wischt sich hin und wieder verstohlen eine solche Weg, bemüht nach außen hin die Contenance zu wahren.


    Gebannt und ergriffen starrt Fusus in das beginnende Züngeln der Flammen, nachdem Manius Maior diese entfacht hat, und ist der tieftraurigen Stimmung nahezu hilflos ausgeliefert. Allein seine weitaus reserviertere und beherrschte Sklavin Vulpes ist ihm in diesem Moment an seiner Seite eine Stütze, deren schmale Schulter ihm allerdings vielmehr physikalischen als wirklich emotionalen Halt bietet. Die sonst so weichen und zumeist lächelnden Lippen hat der Flavier zu einem schmalen Strich fest aufeinandergepresst. Funken und Flammen des Feuers spiegeln sich in seinen tränenfeuchten Augen.

  • Der Geruch nach verbranntem Fleisch wogte aus den züngelnden Flammen heraus und umfasste die Umstehenden obgleich der Libitinarius ab und an ein wenig Parfum in das Feuer gab, seine Gehilfen beständig mit Räucherschwenkern um die Trauerschar herum gingen und suchten, mit Salbeiduft dem Hauch von Tod und Endgültigkeit entgegen zu treten. In Gracchus indes evozierte diese olfaktorische Kompenente allmählich den Anklang an ein großes, blutiges Opfer, denn Fleisch war Fleisch, und zu oft schon hatte er neben dem Opferfeuer verharrt, zu oft eben diesen Geruch geatmet im Ansinnen die Götter zu erfreuen. Allfällig war es eben dies, ein letztes großes Opfer - das größte, welches ein Mensch zu geben befähigt war - der Claudia Antonia an die Götter des Imperium Romanum, um diese gütig zu stimmen in Hinblick auf ihre Nachkommen, und der Anflug eines traurigen Lächelns legte sich um Gracchus' Lippen bei diesem Gedanken, denn nichts hätte seiner Gemahlin mehr entsprochen als die Bereitschaft, dieses Opfer darzubringen. Obgleich die Augenblicke ihm endlos zu währen schienen, so war zu einer Zeit das Feuer schlussendlich hernieder gebrannt, nichts war mehr übrig von der Claudia als rusigschwarzfarben bleiche Knochen, verformte, geschmolzene Überreste der Beigaben, graufarbene Asche und rotglimmende Glut, welche von dem Libitinarius wurden abgelöscht, so dass dies alles konnte beisammen gesammelt werden, um es in die gläserne, grünfarben schimmernde Urne einzufüllen. Ein wenig zitterten Gracchus' Hände als er das Gefäß entgegen nahm, ein wenig wankte sein Schritt als er den Weg antrat hin zum Grabmal der Flavier, dessen Eingang bereits geöffnet war, dem alles verschlingenden Schlund eines Ungeheuers gleich. Obgleich die Temperatur im Außen nicht allzu hoch lag, so war die Kühle im Inneren des kleinen Mausoleums doch deutlich zu spüren, wiewohl Gracchus gleichsam den Atem seiner Vorfahren in seinem Nacken verspürte, ihr Raunen und Wispern vernahm, ihre Schatten schleichen sah. Stockend, reflexartig sprach er die rituellen Worte, deren Bedeutung in diesem Augenblicke ihm gänzlich bedeutungslos schien, als er die Urne absetzte - dort, wo einst auch seine Überreste in einem ähnlichen Gefäß würden aufbewahrt werden -, flüsterte beinah nurmehr die Opferworte als er die Gaben für Antonias Iuno beigab. Sukzessive schienen die graufarbenen Mauern des Grabmales sich auf ihn zuzubewegen, schien die flirrende Luft auszudörren, dass sie die Kehle ihm verbrannte, schienen die rissigen Hände der Toten seinen Brustkorb zu umfassen, ihn mehr und mehr zu beengen, dass ihm beinahe blümerant wurde vor Augen. Ein wenig hastig ob dessen verließ er den Bau, trat hinaus in die frische Luft des ausklingenden Tages, aus welcher allmählich aller Rauch und Brandgeruch verweht war und gab dem Libitinarius das Zeichen, dass jener mit der Reinigung der Trauergäste konnte beginnen. Hinter ihm wurde die Türe des flavischen Mausoleums wieder geschlossen - das Ungeheuer hatte Claudia Antonia verschlungen.

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