Decima Seiana

  • Seiana zog angedeutet eine Augenbraue hoch, als sie die poetische Antwort von Xanthias hörte. Sie war sich nicht ganz sicher, ob er das nun tatsächlich ernst meinte – und nur etwas übertrieben formulierte – oder ob er sich nicht doch lustig machte, weil er Sklave war. Sie musterte ihn einen Augenblick schweigend, dafür aber umso intensiver, während ihr Gesicht unbewegt blieb. So oder so lieferte er damit den nächsten Beweis dafür, wie gebildet er war. Den Auftrag, den sie hatte, würde ihn ganz sicher unterfordern. Aber es ging auch nicht darum, ihn zu fordern, es ging darum, ihn und Aristea zu testen. Herauszufinden, wie sehr sie ihnen vertrauen konnte. Es wäre eine Verschwendung, könnte sie Xanthias nicht seinen Fähigkeiten gemäß einsetzen, weil sie ihm nicht vertraute, aber weit schlimmer wäre es, wenn sie ihm zu schnell traute – und er es dann ausnutzte.


    „Das freut mich“, antwortete sie dann nur knapp, ohne ihre Gedanken zu formulieren, als gleich darauf Aristea eintrat. Seiana begann also zu erklären, welchen Auftrag sie hatte, und nachdem Xanthias keine Fragen hatte und Aristea sich recht schweigsam gab, auch nicht den Anschein machte, als hätte sie irgendeine Frage, nickte Seiana. „In Ordnung. Dann erledigt das jetzt, und danach möchte ich, dass ihr zu mir kommt und mir Bericht erstattet.“

  • Wenn auch nicht gänzlich unverrichteter Dinge, so doch auch nicht annähernd zufrieden mit dem Verlauf jenes Botenganges, der zunächst so banal anmutete, sich aber doch als schwieriger zu verwirklichen gestaltet hatte, als gedacht, stand Xanthias nun etwas betreten erneut vor der Tür des Cubiculums seiner Herrin. Höchst unangenehm schien ihm die Situation, in der er sich nun befand. Einerseits wollte er sich nicht die Blöße geben, einzugestehen, dass er den Auftrag der Domina wohl nicht zu deren höchster Zufriedenheit auszuführen vermocht hatte, andererseits würde er wohl genau das müssen und angesichts der relativ kurzen Zeit, die er erst ein Sklavendasein fristete und bei den Decimern lebte, konnte er sich die Folgen seines Scheiterns nicht so recht vorstellen. Etwas nervös klopfte er also an die Tür und trat nicht sofort, wie noch wenige Stunden zuvor, einfach ein.

  • Seiana hatte sich unterdessen mit anderen Dingen beschäftigt, hatte sich vor allem der Acta gewidmet, den Aufgaben, die dort anstanden. Demetrios gab ihr kurz Bescheid, dass er Aristea für eine andere Aufgabe brauchte, und sie signalisierte ihm, dass es in Ordnung sei. Xanthias konnte genauso gut alleine gehen, die Aufgabe selbst war bei weitem nicht so anspruchsvoll – für den Griechen mochte sie eher lächerlich anmuten, darüber war Seiana sich im Klaren, aber es ging auch nicht um die Aufgabe an sich.


    Als es, einige Stunden später, klopfte, sah sie auf von ihrer Arbeit. „Herein.“

  • Nachdem er noch einmal tief Luft geholt hatte, kam der Grieche Seianas Worten nach und trat ein. Mit einer Verlegenheit, die wohl keiner bei ihm vermutet hätte, blieb er sodann am Eingang stehen und richtete seinen Blick zu Boden. Das Bewusstsein, den so schlichten Auftrag der der Römerin nicht problemlos erledigt zun haben, traf ihn tiefer, als er selbst es für möglich gehalten hätte. So wagte er es im Moment auch nicht, als erster das Wort zu ergreifen, oder gar unaufgefordert Platz zu nehmen.

  • Als der Grieche ihr Zimmer betrat, sah Seiana erwartungsvoll auf – und stockte gleich darauf, als sie bemerkte, wie er an der Tür stehen blieb. Er zögerte, er sah sie nicht einmal an, er schien... verlegen? Das war eine ihr völlig neue Seite an ihrem Sklaven. Xanthias hatte sich in den letzten Wochen als vieles erwiesen, aber ganz sicher nicht als jemand, der leicht verlegen wurde. Ihre Brauen zogen sich ein wenig zusammen. „Xanthias. Komm, setz dich“, meinte sie, während sie parallel mit ihrer Hand eine die Worte unterstreichende Geste machte. „Hast du den Auftrag ausgeführt?“ So wie er wirkte, vermutete sie fast, irgendetwas hätte ihn komplett daran gehindert – auch wenn sie sich nicht ganz vorzustellen vermochte, was das gewesen sein könnte.

  • Zweifellos mochte Xanthias momentanes Verhalten seiner Herrin als ein Novum seiner Persönlichkeit erscheinen und das war es auch, konnte sich doch nicht einmal der Grieche selbst an eine Situation erinnern, die ein vergleichbares Mass an Verlegenheit bei dem sonst so gewandten jungen Mann provoziert hätte. Ihren Worten und der eindeutigen Geste folgend, ließ er sich sodann nieder, schluckte noch einmal merkbar und begann zu erzählen. "Es war mir weder möglich dein Schreiben persönlich an die Scribae des Praefectus zu übermitteln, noch eine Antwort desselben abzuwarten. Die Torwache zeigte sich in dieser Angelegenheit mehr als unkooperativ, sodass ich - wenn auch nicht gänzlich unverrichteter Dinge, schließlich gab ich das Schreiben der Torwache weiter, in der Hoffnung, es würde auf diesem Wege bis zum Praefectus vordringen - so doch auch nicht nach der vollständigen Erfüllung des Auftrages wieder umkehren musste. Es tut mir leid.", in Erwartung einer, wenn schon vielleicht nicht manifest zornigen, so doch zumindest ziemlich unzufriedenen Reaktion seiner Herrin, senkte der Grieche den Blick um das Unvermeidliche über sich ergehen zu lassen.

  • Der Grieche kam näher auf ihre Aufforderung hin, setzte sich, schien noch einmal zu zögern – was Seiana zu einem neuerlichen Stirnrunzeln veranlasste – und begann dann zu sprechen. Und bereits während seiner ersten Worte entspannte sich ihr Gesichtsausdruck wieder. Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, hätte er ihr berichten können, dass er die Botschaft einem der Scribae persönlich hatte überbringen können. Oder wenn er ihr wenigstens eine Antwort hätte mitbringen können. Aber dass dem nicht so war, war auch nicht weiter schlimm, in der Tat war es sogar etwas, womit sie halb und halb gerechnet hatte. Natürlich war es nicht so leicht, zum Praefectus Urbi durchzudringen, auch wenn es einfach schön gewesen wäre, hätte es so schnell und leicht gehen können.


    Dass der Grieche seinen Auftrag allerdings so ernst genommen hatte, dass er nun derart zerknirscht wirkte – vorausgesetzt das war nicht gespielt – und sich sogar entschuldigte, bedeutete allerdings einen Einblick in das Wesen ihres Sklaven, der die Wartezeit bis zur Antwort des Vesculariers wieder aufwog. Seiana lehnte sich ein wenig zurück und musterte ihn mit undurchdringlicher, wenn auch entspannter Miene. „Mach dir keine Gedanken darüber, dass du nicht vorgelassen wurdest“, sagte sie schließlich. „Das wichtigste war der Eindruck, den du hinterlassen hast, das habe ich vorhin ja schon gesagt. Es lohnt sich selten, sich mit den Wachen der Castra anzulegen. Ganz sicher nicht, wenn es sich um eine simple Terminanfrage handelt.“ Die Wachen saßen nun einmal am längeren Hebel. Und wer wusste schon, was sie berichteten – oder gefragt wurden über die, die Botschaften abgaben für den Praefectus Urbi. „Ich möchte, dass du dir in den nächsten Tagen meine Betriebe ansiehst“, sagte sie dann unvermittelt. Der nächste Schritt, wenn man das so sagen konnte. Die letzten Wochen, in denen er sich hier eingelebt hatte, und seine Reaktion jetzt veranlassten sie dazu, den Rahmen zu erweitern, den sie ihm zugestand – und zugleich auch die Grenzen seiner Vertrauenswürdigkeit, die sie so zu testen versuchte. Sie brauchte einen Vertrauten – keine Freundin, wie Elena es war, sondern einen Vertrauten. Das war etwas anderes, das war ihr klar geworden im Lauf der vergangenen Monate. Xanthias hatte jedes Potential dazu, jedenfalls was den nötigen Intellekt anging dafür. Der Rest... würde sich zeigen. „Besuch sie, sprich mit den Angestellten, sieh dir die Unterlagen an. Wenn du fertig bist, würde ich gerne deine Einschätzung hören.“ Jetzt huschte ein vages Lächeln über ihre Züge. „Und deine Ideen.“

  • Nur langsam hob Xanthias seinen Blick wieder und blickte etwas verblüfft in das entpannte Antlitz der Decima. Ihre Miene schien zwar undurchdringlich, doch ohne verärgerte oder unzufriedene Züge. Die fast schon als versöhnlich zu bezeichnenden Worte seiner Herrin nahm Xanthias zwar wahr, konnte aber immer noch nicht gänzlich fassen, dass sein Versagen, denn genau so empfand er sein Unvermögen, mit einer klaren Antwort des Praefectus zu Seiana zurückzukehren, offenbar ungestraft bleiben sollte. Doch damit nicht genug, die Decima hatte offenbar vor, ihn mit einer verantwortungsvolleren Aufgabe zu betrauen, zumindest erschien ihm die Anweisung, sich ein Bild über die Betriebe seiner Herrin zu machen, als ein vielverprechender Schritt in Richtung fordernderer Aufgaben als einfacher Botengänge. Wenngleich seine Interessenspräferenzen stets auf die Bereiche eher künstlerischer Natur gelegen hatten, so war es doch unvermeidlich gewesen, dass er auch in die Kunst Betriebe klug zu Verwalten, im elterlichen Gut Einblick erhalten hatte.


    Er konnte zunächst also gar nicht fassen, dass Seiana ihm in scheinbar pardoxer Weise für einen lediglich zur Hälfte erfüllten Auftrag mehr Vertrauen zugestehen wollte, doch eben das schien der Fall zu sein. Der ansonsten so eloquente Grieche musste nach den rechten Worten suchen. "Ich ... danke dir, domina." Mehr brachte er im Moment schlichtweg nicht heraus, so mitgenommen war er immer noch durch die überraschende Wendung. "Ich werde dir sofort Bericht erstatten, wenn ich mir ein Bild gemacht habe.", fügte er noch hinzu, bevor er sich erhob und nach einer flüchtigen Verbeugung rasch gleichsam aus dem Cubiculum seiner Herrin flüchtete, um sich selbst darüber klar zu werden, was eben geschehen war.

  • Xanthias schien überrascht zu sein, und Seiana musste ein leichtes Schmunzeln unterdrücken, um ihre ruhige Miene zu bewahren. Die Verblüffung war ein weiterer Hinweis darauf, dass er sich ihren Auftrag – und dessen scheinbarer Fehlschlag – tatsächlich so zu Herzen genommen hatte und er seine Niedergeschlagenheit nicht nur spielte. Sie nickte leicht, als er sich dann bedankte für den nächsten Auftrag. „Tu das...“ Zu mehr kam sie nicht, denn der Grieche stand plötzlich auf und verließ den Raum, nachdem er sich wortlos verabschiedet hatte. Was nun Seiana ein wenig überraschte, kam dieses Gehen doch fast einer Flucht gleich – wofür sie allerdings nun keine plausible Erklärung hatte. Ein wenig nachdenklich sah sie noch einige Augenblicke auf die geschlossene Tür, hinter der ihr Sklave verschwunden war, bevor sie den Blick wieder senkte und weiter arbeitete.


  • „WAS?!?“ Das Wort hallte durch den Raum, und allein die Tatsache, dass Seiana für gewöhnlich nie ihre Stimme erhob, ließ es fast noch lauter wirken als ohnehin gesprochen worden war. Die Decima indes dachte darüber gar nicht nach, sondern starrte den Mann vor ihr an. Der hingegen zeigte sich unbeeindruckt. Sein Gesichtsausdruck konnte fast als gelangweilt bezeichnet werden, in jedem Fall wirkte er nicht so, als stünde seine Gesundheit oder gar sein Leben auf dem Spiel. Er war schon zu oft in ähnlichen Situationen gewesen, um dieser speziellen noch große Beachtung zu schenken. Entweder sie half ihm, oder sie tat es eben nicht, so einfach war das. „Du...“ Jetzt war die Lautstärke wieder normal. Stattdessen zogen sich die Brauen der Decima bedrohlich zusammen. Eine kurze Pause folgte, in der Seiana die Lippen aufeinander presste und ihren Blick kurz von dem Sklaven abwandte, bevor sie ruckartig den Kopf schüttelte. „Und ich soll dich jetzt rauspauken?“


    Raghnall zögerte, aber die Decima wirkte nicht so, als ob sie eine Antwort erwartete. Tatsächlich sah sie ihn schon wieder nicht mehr an, und nur einen Moment später war sie auf den Beinen und ging zum Fenster, wo sie vorerst stehen blieb, mit dem Rücken zu ihrem Sklaven. Und sie schwieg. Und schwieg. Und schwieg noch einen weiteren Moment, bevor sie sich ruckartig umdrehte und ihn nun wieder anfunkelte. Sie hatte geglaubt, die Arbeit in ihrem in Rom neu eröffneten Buchgeschäft könnte etwas für ihn sein – sie hatte es wirklich geglaubt, zunächst, war ihr doch nicht wirklich etwas Negatives über ihn zu Ohren gekommen, seit sie aus Alexandria zurückgekehrt war. Dass sie sich getäuscht hatte, dafür brauchte sie noch nicht einmal Xanthias' Bericht, der noch ausstand, um das zu realisieren – dafür reichte ein Blick auf die Zahlen ihres Buchhandels, der in Rom zwar nicht so wirklich schlecht lief, aber auch nicht so recht in Gang kommen wollte. Was aber nicht daran lag, dass Raghnall unfähig wäre. Sie wusste, dass der Gallier nicht dumm war. Sie begriff nur nicht, warum er sich für so wenig zu interessieren schien, außer für seine krummen Geschäfte, von denen er scheinbar die Finger nicht lassen konnte. „Du raubst mir den letzten Nerv. Ich dachte in der Zeit, als ich in Ägypten war, wärst du halbwegs vernünftig geworden.“
    Raghnall schürzte die Lippen ein wenig und öffnete zum ersten Mal – seit seinem Geständnis, dass vor der Tür jemand wartete und entweder Geld oder ihn wollte – den Mund. „Zurückhaltender. Vorübergehend“, erlaubte er sich seine Herrin zu korrigieren. Tatsächlich hatte er auch in dieser Zeit gespielt, gewettet und mehr, aber er hatte weit mehr unter decimischer Beobachtung gestanden, weswegen er sich zwangsläufig hatte zurückhalten müssen. Die Decima hatte nur den Fehler begangen zu glauben, er hätte sich wohl wirklich geändert.
    Seiana indes unterdrückte ein Seufzen, als sie das hörte. Oh ja, sie wusste, dass er nicht dumm war. Ganz im Gegenteil, Raghnall hatte einiges drauf, und er hatte noch mehr Potential, das er einfach brach liegen ließ. Und das ganz bewusst. Es gab eigentlich nur einen Grund, warum er trotzdem immer noch hier war – warum sie ihn damals behalten hatte, als sie ihn von ihrer Mutter geerbt hatte, und warum sie ihn auch jetzt behalten würde. Er hatte ihrer Mutter gehört. Und er hatte ihr Vertrauen besessen – obwohl auch diese von seinen Eskapaden gewusst hatte. Raghnall war es gewesen, den sie damals losgeschickt hatte, um über Faustus' Verbleib informiert zu werden, und er hatte diesen Auftrag gewissenhaft erfüllt. Natürlich hatte er die Gelegenheit auch für seine Zwecke genutzt – aber er hatte sie stets auf dem Laufenden gehalten. Und er war zurück gekommen, schließlich, als sie es ihm befohlen hatte. Und das war Grund genug für Seiana, diesem Mann zu trauen, obwohl sie sehr genau wusste, was für ein Schlitzohr er war. Und obwohl es sie, wie nun wieder, hin und wieder auch etwas kostete – mehr, als ein Sklave, der sich schon in ihrem Besitz befand, kosten sollte.
    Und Raghnall wusste das. Er wusste – als einer von ganz wenigen –, wie sehr Seiana immer noch an ihrer Mutter hing, und dass sie ihn schon allein aus dieser Sentimentalität heraus behalten würde. Er wusste auch, dass er sich – sowohl bei Seianas Mutter als auch ihr selbst – verdient genug gemacht hatte, um sich hin und wieder etwas leisten zu können, hauptsächlich durch diese Sache mit dem Jüngsten der Familie, an dem beide Frauen sehr hingen, oder im Fall der Mutter: gehangen hatten. Und er hatte ein feines Gespür dafür, wann er sich zwischendurch mal etwas zurückhalten musste – oder wieder etwas leisten. Alles in allem fand er sein Leben recht angenehm, so wie es war, so lange er tatsächlich noch darauf vertrauen konnte, dass die Decima ihn – wie hatte sie es genannt? – rauspauken würde, wenn er zu hoch spielte.


    Seiana war inzwischen wieder dazu übergegangen, aus dem Fenster zu starren. Und zu schweigen. Und Raghnall hielt den Mund, wusste er es doch besser, als sie durch irgendwelche unqualifizierten Kommentare noch mehr gegen sich aufzubringen, als sie im Augenblick ohnehin schon war. „Demetrios!“ rief sie schließlich nach dem griechischen Haussklaven, der ihr in letzter Zeit hin und wieder zur Hand gegangen war, und von dem sie wusste, dass er vor der Tür auf weitere Anweisungen wartete. Vor allem hinsichtlich der Herren, die vor der Casa standen. „Bezahl sie.“ Ihre Stimme klirrte vor Kälte, während sie nun wieder Raghnall ansah. Konsequenzen für ihn würde das haben, das wussten sie beide – aber sie wussten beide auch, dass es nicht die Konsequenzen haben würde, die es haben müsste. Die es bei anderen Sklaven hätte. „Geh mir aus den Augen.“

  • Nach seinem, zugegebener Maßen, sehr, sehr langen Rundgang durch die Betriebe seiner Herrin kehrte Xanthias sichtlich geschlaucht zur Casa der Decimer zurück. Er hatte die Taberna Medica, den Buchladen und nicht zuletzt auch das Fernhandelsunternehmen und die Töpferei der Decima besucht. Nun jedoch stand er, um einige Papyri sowie die sichtlichen Anzeichen der Strapazen, die er erlitten hatte, reicher, vor der Tür zum Cubiculum seiner Domina. Er klopfte kurz an und trat ein. "Salve, Domina.", begrüßte er sie mit etwas kratziger Stimme und blieb im Türbereich stehen, um Seiana die Gelegenheit zu geben, ihn wieder wegzuschicken, falls sie im Moment zu beschäftigt war.

  • Raghnall war bereits seit einiger Zeit wieder verschwunden, als es erneut an ihre Tür klopfte und diese geöffnet wurde, ohne dass sie Gelegenheit zu einer Antwort bekam. Mit einem flüchtigen Stirnrunzeln drehte Seiana, die immer noch am Fenster stand und hinaus starrte, sich um – und erkannte den griechischen Sklaven. „Xanthias“, grüßte sie zurück, die Nennung seines Namens begleitet von einem leichten Kopfnicken. Der Grieche sah müde aus, und er war beladen mit einigen Papyri, was sie schlussfolgern ließ, dass es wohl länger dauern könnte, was er zu besprechen hatte. „Komm herein, setz dich.“ Sie wies nicht auf den Stuhl vor ihrem Tisch, sondern auf die Sitzecke, die in der Nähe des Fensters stand – zwei bequeme Korbstühle, gruppiert um einen kleinen Tisch, auf dem eine Karaffe und zwei Becher bereit standen. Sie setzte sich ebenfalls und schlug ein Bein über das andere. „Hattest du Gelegenheit, meine Betriebe zu prüfen?“

  • Es war einer dieser Tage. Einer von jenen, an denen man schon beim Aufwachen spürte, dass es wohl besser wäre einfach im Bett liegen zu bleiben. An denen man wusste, dass es zu viel sein würde – ganz gleich was die Götter einem an diesem Tag entgegen werfen würden. Es war einer der seltenen Tage, an denen sogar Seiana sich in der Früh gewünscht hatte, sie könnte sich die Muße erlauben, einfach ein wenig länger liegen zu bleiben, sich auszuruhen, sich zu entspannen. Und den Rest des Tags in genau derselben Manier zu verbringen, nicht zwingend im Bett, aber zwingend mit Dingen, die ihr gefielen. Ein ausgedehntes Bad nehmen. Sich anschließend massieren lassen. In Ruhe lesen. Die ganzen letzten Wochen waren schon so stressig gewesen. Gut, Stress gehörte zu ihrem Alltag mittlerweile so sehr dazu wie der beinahe tägliche Weg zum Acta-Gebäude, oder der abendliche Kurzbericht über ihre Betriebe, den sie stets vorbereiten ließ und auf den sie nur in Ausnahmefällen verzichtete. Aber die letzten Wochen waren... nun, fast schon abartig gewesen, selbst für ihre Verhältnisse. Sie hatte Raghnall von der römischen Niederlassung ihres Buchladens inzwischen herausgeholt, hatte bisher allerdings noch keinen adäquaten Ersatz gefunden, weshalb die Geschäfte dort mehr oder weniger auf Eis lagen derzeit. Sowohl der Taberna medica als auch der Töpferei machte der Winter zu schaffen, weil Lieferungen sich verzögerten oder gar ausblieben aufgrund des Winters. Und der Fernhandel war derzeit nahezu ganz zum Erliegen gekommen. Dazu kam die Arbeit in der Acta, die ihr vor allem deshalb viel abverlangte, weil sie sich viel abverlangte, weil sie schlecht im Delegieren war, und weil sie gerne alles selbst kontrollierte. Sie konnte gar nicht alles kontrollieren – aber sie tat ihr Bestes. Und in letzter Zeit wurde es einfach... etwas viel.


    An diesem Tag hatte sie das Gefühl, dass es tatsächlich überhand nahm. Sie hatte sich aufgerafft, in der Früh, hatte den Wunsch einfach mal Pause zu machen rigoros beiseite geschoben und war aufgestanden, hatte sich an die Arbeit gemacht, wie jeden Tag. Hatte sich zuerst um den decimischen Haushalt gekümmert, das, was in ihren Händen lag. Hatte sich damit beschäftigt, was sie in Hinblick auf ihre Betriebe unternehmen könnte, vor allem was den Buchladen betraf, aber auch die anderen. Neue Lieferanten, andere Lieferwege, Ersatzwaren – irgendetwas, womit sie die Lieferengpässe überbrücken könnte, die sie mittlerweile um den Schlaf brachten. Und dann hatte sie sich auf den Weg zur Acta gemacht, wo ein Stapel an Arbeit auf sie wartete, ein Stapel, der im Lauf des Tages selten wirklich geringer zu werden schien, weil immer etwas neues dazu kam. Berichte von Mitarbeitern, Zusammenfassungen von Recherchen, Vorschläge für neue Beiträge und noch nicht gelesene Artikel, aber auch hier galt es, ein Auge auf den Betrieb zu haben, der im Hintergrund ablief und der dafür sorgte, dass die Subauctoren arbeiten konnten – dazu die Anfragen, die zu bearbeiten waren, und die Kontaktpflege, die Seiana so wenig lag und die sie dennoch mittlerweile mustergültig absolvierte, weil sie sich dazu zwang, mit Spendern, Informanten, Einflussnehmern gleichermaßen. Und dann war sie nach Hause gekommen, ein wenig früher als sonst, weil sie einen Termin mit dem Iulius hatte, der Livianus in Germanien geschrieben hatte, um sich über sie zu beschweren. Und dieses Gespräch hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Seiana brodelte innerlich vor Wut. Sie hatte das Bedürfnis, irgendetwas gegen die Wand zu schmettern, und kämpfte dagegen an. Sie sehnte sich danach, sich abzureagieren, und rang zugleich doch um ihre Selbstbeherrschung. Und je verbissener sie sich selbst bekriegte, desto größer wurde der Drang, loszulassen. Sich gehen zu lassen.


    Als sie ihre Räume betrat, war sie so weit, dass ihr ihre Wut deutlich anzusehen war, jedenfalls für die Menschen, die sie kannten. Und dieses Bedürfnis, irgendetwas zu tun, wurde nicht geringer, im Gegenteil. Ruhelos strich sie durch den Raum. Im Grunde hatte sie noch zu tun, aber im Moment hatte sie beim besten Willen nicht die nötige Beherrschung dafür, um sich nun einfach hinzusetzen und zu arbeiten. Und in diesem Moment kam Raghnall herein. Wie so häufig ohne überhaupt zu klopfen, öffnete er einfach die Tür, und als Seiana das Geräusch hörte, wirbelte sie herum und blitzte ihn wütend an. Und dann, plötzlich, fiel irgendetwas in ihrem Kopf an einen anderen Platz und gab den gedanklichen Blick frei auf etwas, was sie in der vergangenen Zeit lieber verdrängt hatte, als sich damit zu beschäftigen. Sei anders, hallte es in ihr. Löse dich. Sie musste nicht überlegen, um die Stimme zu identifizieren. Auch wenn sie es vorgezogen hatte, über jene Nacht nicht allzu intensiv nachzudenken, änderte das doch nichts daran, dass dieses Erlebnis für sie... nun, intensiv genug gewesen war, dass sie es auch nicht wirklich komplett verdrängen konnte. Die wenigen Male, an denen sie sich erlaubt hatte darüber nachzudenken, hatte sie sich auch eingestehen müssen, dass sie das wieder wollte. Sie hatte nur nicht wirklich eine Idee gehabt, wie sie das anstellen sollte, und dazu kam die Tatsache, dass ihr Verstand ihr nach wie vor einhämmerte, dass sie es nicht tun sollte, dass schon dieses eine Mal ein Fehler gewesen war. Jetzt allerdings, in diesem Moment, wo eine der größten Barrieren in ihrem Inneren, die sie aufgebaut hatte um sich selbst zu kontrollieren, ohnehin gerade nahezu komplett eingerissen war, hatte ihr Verstand nicht mehr den Einfluss, den er normalerweise hatte. Es war gleichgültig, ob es ein Fehler gewesen war – es war einer gewesen, den sie bereits gemacht hatte. Was sprach nun also dagegen, ihn zu wiederholen? Es ist das einzige, was dich den Dingen dieser Welt wirklich entrücken kann. Der Duccier hatte Recht gehabt mit dem, was er gesagt hatte. Er hatte verdammt noch mal Recht gehabt, und genau das – was er ihr bei ihrem Treffen versprochen und gleich darauf auch eingehalten hatte – war es, was sie jetzt wieder wollte. Den Dingen der Welt entrückt sein. Und Raghnall schien genau der Richtige zu sein. Sie kannte ihn lange genug um zu wissen, dass er, auf seine Art, vertrauenswürdig war, den Decimern und ihr loyal. Zugleich war es gerade seine Art, die ihn so... richtig machte. Sie wollte keinen gehorsamen Sklaven, der tat, was sie befahl. Sie wollte einen Mann, der das gleiche wollte. Sie brauchte einen Mann, der das gleiche wollte – und ab einem gewissen Punkt das Zepter in die Hand nahm, weil immer noch galt, dass sie nicht sonderlich viel Erfahrung hatte. Raghnall, davon ging sie aus, würde ihr das geben, was sie wollte. Und sie war sich ziemlich sicher, dass er später kein großes Aufhebens darum machen würde. Weit wahrscheinlicher war es, dass er einfach unverschämt zufrieden und von sich eingenommen sein würde. Und damit konnte sie umgehen, ganz im Gegensatz zu einem Verhalten, das unterwürfig, anbiedernd oder unsicher gewesen wäre.


    Raghnall kam also in den Raum hinein. Seiana starrte ihn für einen Augenblick nur an. Zuerst nur wütend, über den Tag, über den Termin gerade, über Raghnalls Unverfrorenheit. Dann jedoch änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Er verlor nicht an Heftigkeit, nicht einmal wirklich an Wut, aber es gesellte sich Entschlossenheit dazu – und bevor Raghnall hätte deuten können, welcher Art diese Entschlossenheit war, kam Seiana auf ihn zu und küsste ihn, mit derselben Heftigkeit und Entschlossenheit, die zuvor auf ihrem Gesicht zu lesen gewesen war. Einige Momente später allerdings löste sie sich wieder von ihm, trat einen Schritt zurück, noch einen weiteren. Sie sagte kein Wort, das musste sie auch nicht, ihr Blick war Aufforderung genug. Sie wollte, dass er kam, freiwillig.

  • [Blockierte Grafik: http://img261.imageshack.us/img261/6518/raghnall.png]


    Raghnall war ein Spieler. Und er war ein guter Spieler – er holte sich seine Informationen, er konnte seine Gegner einschätzen, und er kannte in der Regel seine Chancen und Risiken. Aber er war nichtsdestotrotz ein Spieler. Und er liebte es zu spielen. Er war sich bewusst über Risiken, aber nur allzu häufige waren sie ihm egal – weil er das Spiel zu sehr liebte, die Ungewissheit, den Nervenkitzel, und, ja, gerade das Risiko. Ohne Risiko war es langweilig.
    Und als die Decima ihm nun so offen Avancen machte – nun, Avancen war wohl das falsche Wort, denn das implizierte eigentlich ein gewisses Maß an Verführung; und die Decima konnte wohl viel, aber verführerisch zu sein war nicht ihre Stärke – als sie ihm also nun recht eindeutig zeigte, was sie wollte, da wusste Raghnall um die Risiken, die das mit sich brachte. Es war immer riskant für einen Sklaven, wenn die Herrin so ankam. Und das Sicherste wäre vermutlich, in seiner Situation jedenfalls, zu gehen, trotz der Stimmung, in der sie gerade war. In der kam eine Ablehnung ganz sicher nicht gut bei ihr, war aber vermutlich trotzdem die klügere Variante, alles in allem und so, wie er sie kannte. Dazu kam, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wo das hinführen würde, nicht bei dieser Frau, die bisher noch nie irgendwelche Anstalten in dieser Richtung gemacht hatte, weder bei ihm noch bei sonst einem Sklaven, nicht so weit er wusste jedenfalls. Eine Frau, die sich bislang in seinen Augen durch Distanziertheit und Selbstbeherrschung hervorgetan hatte, aber ganz sicher nicht durch die Auslebung von Leidenschaften. Wenn er nicht noch von früher wüsste, dass sie durchaus leidenschaftlich sein konnte, von diversen Temperamentsausbrüchen, die sie früher noch nicht so gut zu kontrollieren gewusst hatte wie heute – und heute war ein perfektes Beispiel für ihre Selbstbeherrschung, denn dass sie gerade richtig in Fahrt war, war deutlich zu merken, dafür kannte er sie nun lange genug, und dennoch blieb sie alles in allem erstaunlich beherrscht –, dann hätte er vermutlich daran gezweifelt, ob sie überhaupt dazu in der Lage war.
    Nein, er wusste ganz sicher nicht, worauf das hier hinauslaufen würde, wenn er sich darauf einließ. Und genau das war es, was ihn reizte. So sehr, dass die Entscheidung schon gefallen war, bevor er überhaupt bewusst darüber nachdenken müsste.
    Und davon abgesehen: er war ein Mann. Und er müsste lügen, wollte er behaupten, er hätte sich noch nie vorgestellt, wie die Decima im Bett wohl sein mochte – wie sie wohl mit ihm im Bett sein mochte. Er wäre bescheuert, würde er sich das nun so einfach durch die Finger gehen lassen, was sie ihm urplötzlich freiwillig – und nach allem was er über sie wusste zumindest derzeit ziemlich exklusiv – anbot.


    Der Moment, den Raghnall dann doch brauchte um zu überlegen, dauerte alles in allem höchstens einen Lidschlag lang. Dass er noch ein wenig länger nicht reagierte und Seiana einfach nur ansah, lag nicht daran dass er noch hätte überlegen müssen – da gab es für ihn nichts zu überlegen –, sondern daran, dass er sie taxieren wollte, feststellen, ob sie das tatsächlich ernst meinte, vor allem aber daran, dass er das tat, was er am besten konnte und am meisten liebte: er spielte. Reizte den Moment aus, bis er glaubte, dass sie drauf und dran war entweder tatsächlich noch einen Wutausbruch zu kriegen oder einen Rückzieher zu machen – nur um dann mit einer schnellen Fußbewegung die nur halb offene Tür hinter sich endgültig zuknallen zu lassen, einen Schritt auf sie zuzumachen, sie an sich zu ziehen und nun seine Lippen auf die ihren zu pressen. Sie war es gewesen, die den Stein ins Rollen gebracht hatte – und mehr brauchte er nicht, um ihn in Bewegung zu halten.





    SKLAVE - DECIMA SEIANA

  • Verblüfft. Verwirrt. Irritiert. Das waren so ungefähr die Worte, mit denen man ihre Stimmung beschreiben konnte, als sie den Brief las, der aus Germanien gekommen war. Genauer gesagt, die Anrede. Meine liebe Seiana. Sie starrte auf diese Worte. Meine... liebe... Seiana. „Meine liebe Seiana?“ murmelte sie halblaut, fragend. Als er abgereist war, waren sie noch beim Gentilnamen gewesen. Und jetzt war sie nicht nur Seiana, sondern schon seine liebe Seiana? Sie verzog nachdenklich ihre Lippen, presste sie aufeinander. Die Neuigkeiten, die der Quintilius folgen ließ, waren in der Tat gute – ihr Onkel hatte also nichts gegen eine eheliche Verbindung. Das war gut. Jetzt musste nur noch ihr Bruder zustimmen.
    Damit war der Brief allerdings noch nicht zu Ende. Der Quintilius schrieb noch mehr – was ihm ja grundsätzlich anzurechnen war. Er beschränkte sich nicht auf das rein Geschäftliche, wenn man so sagen wollte, sondern schrieb mehr. Das... war zu erwarten gewesen. Mehr noch, es war positiv, weil das doch zeigte, dass er Interesse daran hatte, neben der ehelichen Verbindung auch eine wie auch immer geartete Form der Beziehung aufzubauen. Allerdings hieß das auch, dass sie mehr würde schreiben müssen, und das... stellte sie vor ein Problem. Es fing schon damit an, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie die Anrede beginnen sollte. Geehrter Quintilius war definitiv zu förmlich, nachdem er sie so vertraut angesprochen hatte. Aber lieber Sermo? Das brachte sie auch nicht fertig. Sie biss sich kurz auf die Unterlippe, dann unterdrückte sie ein Seufzen und machte sich daran, den Brief aufzusetzen.

  • Ohne dass sie darüber hätte nachdenken müssen, trugen ihre Schritte sie durch das Haus bis zu ihren Gemächern. Vor der Tür blieb sie stehen, hob langsam die Hand – und zögerte dann zum ersten Mal, seit sie sich im Atrium in Bewegung gesetzt hatte.
    Sie wollte sich waschen.
    Rein waschen.


    Für einen kurzen Moment blitzte wieder die blutige Vision vor ihrem inneren Auge auf.
    Rote Schlieren von unbestimmbarem Ursprung durchziehen das Bild, in dessen Zentrum sie ist, nackt, stehend, liegend, schwebend, rote Schlieren schlängeln sich um ihren Körper, schlingen sich um ihn, und der Hintergrund tränkt sich mehr und mehr in Rot, bis keine einzelnen Rinnsale mehr auszumachen sind.
    Sie verdrängte das Bild, versuchte es zu ersetzen, durch etwas Klares. Wasser. Sie wollte sich waschen, nicht mit Blut, mit Wasser, sie wollte ein Bad nehmen und so lange im Blut Wasser Blut bleiben, bis sie sich wieder sauber fühlte.


    Ihre noch immer erhobene Hand senkte sich in einer leichten Vorwärtsbewegung, bis sie auf dem Holz der Tür zu ruhen kam. Das Bad würde warten müssen. So sehr sie das auch wollte, so dringend das Bedürfnis danach auch war… sie konnte das jetzt nicht. Sie würde Sklaven wecken müssen. Und selbst wenn nicht, selbst wenn sie alles allein herrichtete – was so schwer nicht sein konnte –, würde sich Lärm dabei nicht vermeiden lassen. Weshalb das Risiko bestand, dass jemand wach wurde. Und das wollte sie nicht. Mehr noch, sie konnte nicht. Sie wollte um jeden Preis vermeiden, dass jemand, irgendjemand, sie so sah. Dass irgendjemand etwas bemerkte und etwas sagte oder sie auch nur ansah, auf andere Art als sonst. Sie hatte das unbedingte Gefühl, das nicht ertragen zu können, dann zusammenzubrechen. Und das ging nicht. Sie musste Haltung zeigen. Beherrschung wahren. Etwas anderes kam nicht in Frage.
    Ein Zittern lief durch ihren Körper, und sie ließ die Stirn gegen das Holz sinken, lehnte sich dagegen. Sie wollte sich säubern von dem ganzen Schmutz, aber sie konnte das Risiko nicht eingehen, so viel stand fest. Und nach einem weiteren Moment richtete sie sich wieder auf, straffte die Schultern und betrat ihr Cubiculum. Was sie dort zur Verfügung hatte, würde reichen. Musste reichen. Alles andere musste bis morgen warten.

  • Nachdem sie eingetreten war, schloss sie sorgfältig und leise die Tür hinter sich. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis sie ungefähr in der Mitte des Raums stand, jede Bewegung ein Ausdruck von unbedingt ausgeübter Körperbeherrschung, von einer Kontrolle, die keinen Ausbruch duldete, eine Kontrolle, die selbst für ihre Verhältnisse ihresgleichen suchte.
    Und die dennoch nicht perfekt war.
    Mit ruhigen Handgriffen entzündete sie eine Öllampe, deren warme Flamme den Raum in ein rötliches rot, rot wie Blut Licht tauchte blutige Rinnsale ergossen sich über den Boden, leckten an den Möbeln, tanzten auf den Wänden, sprudelten ihren Körper hinauf und hinab, das sie, vorübergehend ausbrechend aus der Kontrolle, in einer allzu hastigen Bewegung sofort wieder löschte. Wie versteinert stand sie dann einen Augenblick da und starrte in das nun wieder dunkle Zimmer, nur schwach erhellt vom Mondlicht, das durch das Fenster hereindrang. Es reichte aus, entschied sie. Es wäre unsinnig, eine Verschwendung, redete sie sich ein, ein zusätzliches Licht zu entzünden, das sie nicht brauchte.


    Sie wandte sich ab von dem Tisch, auf dem die Lampe stand, und begann sich auszuziehen. Erneut war jeder Handgriff ruhig, bedacht, bewusst gewollt, wurde mit großer Sorgfalt und Bestimmtheit durchgeführt. Sie zwang sich unter jene Kontrolle von zuvor, die wie ein Käfig ihren Körper umklammert hielt und damit auch ihren Geist einsperrte, in vorgegebenen Bahnen hielt.
    Die Palla legte sie zuerst ab, wickelte den Stoff von ihrem Körper, und sie legte ihn sorgsam über die Lehne eines Stuhls. Die Fibeln, die die nächste Lage Stoff rafften und hielten, folgten als nächstes, wurden geöffnet und auf die Sitzfläche des Stuhls gelegt, Stück für Stück, bis ihr Kleid nur noch von einer gehalten wurde. Während sie auch diese löste, das Kleid ablegte und die Gelegenheit nutzte, um sich zwischen den Beinen abzureiben, vermied sie jeden Gedanken daran, was sie tat oder warum, sondern fragte sich stattdessen, wo wohl der Gürtel abgeblieben sein mochte, den sie an diesem Abend noch getragen hatte… bis ihr auffiel, dass das ebenfalls eine Überlegung war, die ihre Gedanken letztlich auf einen Weg bringen würde, den sie sie nicht einschlagen lassen wollte, weshalb sie diese Grübeleien rigoros abschnitt. Das Kleid legte sie anschließend über die Palla, und während sie dies tat, während ihre Finger sacht über den Stoff fuhren, strichen sie über etwas, was nicht da sein sollte, über eine Unebenheit, eine Ruptur. Diesmal gelang es ihr nicht rechtzeitig, zu stoppen, und wieder gab es einen Aussetzer in ihrer Kontrolle, wurden ihre Bewegungen unsicher, als in ihr Bewusstsein die Erkenntnis vordrang, dass es sich um eine jener Stellen handelte, an denen ihr Kleid einen Riss davon getragen hatte.
    Ein Zittern lief über ihren Körper, und diesmal redete sie sich ein, dass es an der kühlen Nachtluft lag. In einer fast schon trotzigen Geste nahm sie den Stoff noch einmal auf und besah ihn sich genauer, fast als wolle sie sich beweisen, dass da… nichts war. Nichts, was sie schrecken könnte. Was sie unterkriegen könnte. Ihre Finger glitten über den Stoff, untersuchten ihn, und sie wusste, dass sie sich etwas würde überlegen müssen. Sie hatte nicht vor, das Kleid – oder die Palla, oder sonst etwas, was sie an diesen Abend erinnern könnte – zu behalten, aber die Sklaven könnten sich wundern, wenn sie das sahen. Sie könnten Fragen stellen. Das Beste würde sein, sie ließ alles lichterloh in einem Feuer rot wie Blut verbrennen. Von Raghnall. Oder, noch besser, sie erledigte das selbst. Mit einer plötzlich heftigen Bewegung riss sie auch Palla und Fibeln an sich und trug sie zu ihrem Schreibtisch, wo sie sie in die Truhe dahinter stopfte, eine von jenen Truhen, an die die Sklaven nicht gingen, weil sie dort ihre Arbeit und ihre Wertsachen aufbewahrte.


    Im Anschluss daran… stand sie zunächst einfach nur wieder da. Kämpfte mühsam um ihre Beherrschung, suchte verzweifelt nach etwas, was sie nun tun könnte, um sich abzulenken, um zu verhindern, dass ihre Gedanken wieder begannen zu schweifen, dass ungewollte Bilder wieder die Oberhand über ihren Geist gewannen. Ihr Blick wanderte zu der einfachen Waschschüssel, die im hinteren Bereich, in der Nähe ihres Betts, stand, aber damit wollte sie gar nicht anfangen, ahnte sie doch, dass sie nicht so schnell würde aufhören können, wenn sie einmal begann sich zu waschen.
    Und so ging sie einfach nur zu ihrem Bett und ließ sich darauf nieder, langsam, ihre Bewegungen nun seltsam kraftlos, setzte sich zunächst und ließ sich dann auf die Seite sinken, bis sie lag. Mit einer Hand tastete sie hinter sich und zog die Decke über sich, wickelte sich ein und zog ihre Beine eng an den Körper. Und starrte blicklos vor sich hin.


    Sie fürchtete sich.
    Nicht davor, dass ihr hier etwas passierte, aber davor genug loszulassen, dass sie sich entspannte – und sich dann nicht mehr kontrollieren konnte.
    Nicht vor der Nacht, aber vor dem Schlaf, und den Träumen, die dieser mit sich bringen mochte.

  • Sie wollte schlafen. Sie sehnte sich danach, zu schlafen.


    Aber sie konnte nicht.


    Jede Nacht war es das gleiche Spiel. Es war nicht so, dass sie nicht müde wäre, ganz im Gegenteil. Sie arbeitete, härter als je zuvor, oft bis spät in die Nacht hinein, jeden Tag so lange, dass sie kaum noch die Augen offen halten konnte. So lange, dass sie fast schon im Stehen einschlief. Und dennoch half das wenig, wenn sie dann endlich lag und einschlafen wollte. Ungewollte, unerwünschte Bilder drängten sich vor ihr inneres Auge. Tagsüber konnte sie verdrängen, was passiert war, aber abends, wenn sie so furchtbar müde war und dennoch nicht schlafen konnte, durchlebte sie wieder und wieder, was passiert war. Sie lag starr im Bett, ins Leere starrend, ihre Gedanken gefangen in einer Spirale, die immer weiter abwärts zu führen schien und in der sie manchmal so rasant unterwegs war, dass ihr tatsächlich schwindlig wurde. Das Schlimmste war vielleicht, dass sie wusste, dass sie in einer Spirale gefangen war, die ihre Gedanken nur immer weiter im Kreis drehen ließ – sie aber nicht daraus ausbrechen konnte, um es zu beenden. Sie versuchte es, zwang sich, an etwas anderes zu denken, aber damit zwang sie sich zugleich auch, wach zu bleiben, und jedes Mal, wenn die Müdigkeit überhand nahm, ließ auch ihre Kontrolle nach, und die Bilder stürmten erneut auf sie ein.
    Bis sie irgendwann dann doch einfach einschlief. Und wenn sie dann in den Schlaf fand, warteten schon die Träume.


    Nein, sonderlich erholsam waren die Nächte nicht für sie zur Zeit. Genauso wenig die Tage, in denen sie sich mit Arbeit regelrecht überhäufte. Sie versuchte so viel Distanz wie möglich zu bekommen, und obwohl sie wusste, dass dadurch nichts ungeschehen gemacht werden würde, war sie doch überzeugt davon, dass der beste, der einzige Weg war. Einfach weiter zu machen. Sie musste nur irgendwie fertig werden mit den Problemen, die sich ihr stellten, dem Einschlafen, den Träumen, und ihrer Erschöpfung im Moment.
    Und dann war da noch Sex. Von ihrem Verstand beherrscht wie Seiana war, zwang sie sich auch diesen Aspekt durch zu denken, freilich immer mit dieser kühlen Distanz, die sie zu dem Geschehen selbst zu wahren versuchte. Was letztlich gar nicht so schwierig war, denn in ihren Gedanken, so lange sie sie bewusst steuerte, hatte es für sie allzu häufig nicht mehr den Anschein, als wäre der Sicinius über sie hergefallen. Es war jemand anders, irgendjemand, aber nicht sie. Diese Sichtweise ermöglichte es ihr, beinahe kühl zu analysieren, welches Problem noch vor ihr lag. Denn Sex konnte nicht nur, es würde zu einem Problem werden, wenn sie nichts unternahm. Einem Teil von ihr, dem, der nur schwer kontrollierbar war, schauderte bei dem Gedanken daran, einen Mann wieder in ihr Bett zu lassen. Sie wusste, sie hatte es erlebt, wie befriedigend das sein konnte. Aber immer, wenn sie nun daran dachte, verlor sie die sich selbst auferzwungene Distanz. Andere Bilder schoben sich vor ihrem inneren Auge unwillkürlich dazwischen, Bilder, die sie geschafft hatte in ihre Träume zu verdrängen und in jene Momente vor dem Einschlafen, vermengten sich mit der Vorstellung, mit einem Mann wieder das Bett zu teilen, bis sie sie schließlich überlagerten. Für den Moment konnte sie sich damit behelfen, indem sie schlicht auf Distanz schob oder, wenn möglich, ganz verdrängte, was sie an jene Nacht erinnern könnte. Sie konnte ihre Gedanken, ihre Erinnerungen nicht komplett kontrollieren, konnte nicht verhindern, dass sie dennoch immer wieder aus den Tiefen ihres Inneren an die Oberfläche schossen, aber es war das Beste, was sie im Augenblick leisten konnte. Und zumindest tagsüber war es schon deutlich leichter geworden, leichter, gewisse Erinnerungen zu verbannen.
    Aber sie wusste, dass das nicht reichen würde. Die Nächte quälten sie nach wie vor. Und sie würde heiraten. Es mochte sich zwar noch ein wenig ziehen, bis die Zeremonie tatsächlich durchgeführt wurde, und vielleicht würde es doch nicht der Quintilius werden, je nachdem was ihr Bruder sagte, aber früher oder später würde sie heiraten, denn so sehr sich ihre Ansichten bezüglich der Familienehre und wie diese gewahrt bleiben sollte auch geändert haben mochten, über diesen Punkt war nicht zu diskutieren: eine gute Römerin hatte verheiratet zu sein, und ihrem Mann Erben zu schenken. Und sie würde diesen Anspruch erfüllen. Später als die meisten Römerinnen, später als im Grunde akzeptabel war, aber sie würde ihn erfüllen, und wenn sie ihn erfüllt hatte, würde kaum noch jemand beachten, dass sie so lange dafür gebraucht hatte, oder danach fragen warum.
    Sie würde also heiraten. Und sie würde mit ihrem Mann das Bett teilen. Es reichte also nicht zu lernen, diese Erinnerungen tagsüber effektiv zu verbannen – sie würde lernen müssen, das auch abends, nachts zu tun, und sie würde lernen müssen, irgendwie damit umzugehen. Denn sie würde es ganz sicher nicht einfach so darauf ankommen lassen, dass sie sich in ihrer Hochzeitsnacht so gut unter Kontrolle haben würde, dass ihr Mann nichts merkte. Sie hatte nicht vor, sich eine Blöße zu geben. Schwäche zu zeigen. Vor niemandem – erst recht nicht vor dem Mann, dessen Frau sie sein würde. Zweckehe oder nicht, sie wollte, dass er sie respektierte, nicht bemitleidete oder gar für schwach hielt. Nein, sie hatte nicht vor, sich auch nur das Geringste anmerken zu lassen, wenn es so weit war. Und eigentlich hatte sie nicht einmal vor, ihrem Mann etwas vorzuspielen, wenn sie mit ihm schlief. So schwer sie sich das im Moment auch vorstellen konnte – es musste möglich sein, das Gewesene so sehr zu rationalisieren und objektivieren, dass sie sich genug davon distanzieren konnte, um es endgültig zu verbannen. So sehr, so tief, dass es keine Rolle mehr spielte, nicht einmal mehr dann, wenn sie mit einem Mann das Bett teilte.


    Obwohl Seiana für gewöhnlich ein Mensch war, der nicht lange fackelte, wenn es darum ging einen einmal gefassten Entschluss durchzuführen, dauerte es diesmal Tage, bis sie die einzig logische Konsequenz, die sich für sie aus diesen Überlegungen ergab, auch in die Tat umzusetzen vermochte. Gewöhnung war der Schlüssel, davon war sie überzeugt. Sie musste sich nur... daran gewöhnen. Oft genug mit einem Mann schlafen, bis sie ihre inneren Verteidigungslinien so perfektioniert hatte, dass nichts mehr ungebeten daran vorbei dringen konnte.
    Allerdings war es eine Sache, sich das zu überlegen – eine völlig andere jedoch, es auch zu tun. Aber der Gedanke daran wurde nicht besser, je länger sie wartete, und mit jedem Tag, mit dem sie es weiter hinaus zögerte, kam sie sich feiger vor – bis sie sich schließlich endgültig dazu durchrang und Raghnall wieder zu sich rief.

  • Reglos stand Seiana am Fenster und starrte hinaus. Ein dumpfes Pochen dröhnte zwischen ihren Schläfen, und sie hatte das Gefühl, als stünde ihr Kopf kurz vor dem Platzen. Da war zu viel, was darin herum schwirrte. Zu viel, woran sie denken, worüber sie nachdenken musste. Und anders als sonst bekam sie keine klare Linie in ihre Gedanken. Sie schaffte es nicht, sie zu sortieren, weil sie beinahe wie eigenständige kleine Lebewesen in ihrem Kopf herum tanzten und sprangen, ganz nach eigenem Gutdünken, und ihr den Einfluss verweigerten, den sie sonst auf sie hatte. Wie sehr sie auch versuchte sie in strukturierte Bahnen zu zwingen... sie brachen immer wieder aus.
    Dass sie kaum Schlaf bekam, tat noch das Seinige dazu, dass sie sich nicht vernünftig konzentrieren konnte. Kaum Schlaf. Und wenn, dann war er voller Träume, wirr, drückend, und nur allzu häufig quälend. Und wenn sie am Morgen dann erwachte, echote ihr Inneres mit dem Nachhall ihrer Träume. Manchmal spürte sie das Echo noch den ganzen Tag in sich – so wie auch in diesem Augenblick. Das waren die Tage, an denen es am schwersten war klar zu kommen. Die Tage, an denen sie durchaus in Erwägung zog, sich in eine Klinge zu stürzen, wie es eigentlich von einer ehrenhaften Frau erwartet wurde. Natürlich war ihr dieser Gedanke schon häufiger gekommen. Sie hatte von Anfang an daran gedacht, gerade weil es erwartet wurde, vielleicht nicht von allen, aber doch von vielen der Gesellschaft. Nur: hierbei ging es um die Ehre. Und das war nicht das erste Mal gewesen, dass sie mit einem Mann das Bett geteilt hatte. Um der Ehre genüge zu tun, hätte sie sich umbringen müssen, nachdem sie mit dem Duccier zusammen gewesen war. Es jetzt zu tun, nur weil ein Mann sich mit Gewalt genommen hatte, was sie zuvor einem anderen schon freiwillig gegeben hatte, ohne verheiratet zu sein, würde keine Ehre wieder herstellen, nicht die ihre und nicht die ihrer Familie.
    Nein, die einzige Möglichkeit, die Familienehre zu schützen war, dafür zu sorgen dass niemand davon erfuhr. So zu tun, als sei es niemals passiert. An Tagen wie diesen allerdings dachte sie dennoch darüber nach, wie es wäre, wenn sie sich töten würde. Eine rasche Bewegung... und alles würde sich so rot färben, wie sie es in ihren Träumen – des Tags und des Nachts – sah. Rote Schlieren, die sich über den Boden zogen. Sie sah dieses Bild, in verschiedensten Variationen, immer wieder seit jener Nacht, und im Gegensatz zu den anderen, die sie nur quälten, war dieses das einzige, das eine gewisse, morbide Art von Faszination auf sie ausübte. Blut.
    Unbewusst strich sie mit den Fingern der Rechten über das linke Handgelenk, dort, wo die Haut so dünn war, dass die Adern deutlich durchschienen. Als ihr die Bewegung dann klar wurde, verschränkte sie rasch die Arme vor der Brust. Selbstmord war keine Option. Es wäre eine Flucht, nicht mehr, und sie gedachte nicht zu fliehen. Sie mochte nur eine Frau sein, aber sie war in einer Soldatenfamilie groß geworden, und in einer Familie, deren Motto lautete: honor et fortitudo. Ehre und Stärke. Flucht kam nicht in Frage, auch nicht die Flucht in den Tod, so barmherzig er ihr manchmal auch erscheinen mochte.


    Es war zu viel, im Moment. Zu viele Gedanken. Zu viele verschiedene Stränge, die alle im Auge zu behalten waren. Da waren ihre Träume und das Erlebte, das immer wieder kam, immer wieder, ohne dass sie es wirklich effektiv verdrängen konnte. Da waren die Acta und die Schola, die ihr dankenswerterweise zwar Ablenkung zur Genüge verschafften, aber zugleich auch an ihren derzeit ohnehin nicht übermäßig gut gefüllten Energiereserven zehrten. Da war Faustus, um den sie sich inzwischen solche Sorgen machte, dass sie schier verrückt zu werden glaubte, wenn sie dem nur nachgab. Der Brief, den er ihr geschrieben hatte, hatte nicht wirklich dazu beigetragen, ihre Sorgen zu mildern. Eher im Gegenteil. Das Schreiben bewies, dass er immerhin noch am Leben war, aber er war verwundet worden, und Seiana konnte nicht anders, als sich Sorgen zu machen. Und ein schlechtes Gewissen dazu. Er hatte einen Krieg hinter sich, einen weiteren, und was hatte sie getan? Anstatt das zu tun, was richtig gewesen wäre – das, was er umgekehrt tat –, nämlich zu versichern, dass alles in Ordnung sei und er sich keine Sorgen machen müsse, hatte sie ihn mit ihren Fragen und Problemen belastet. Mit der Frage, ob es in Ordnung sei den Quintilius zu heiraten – anstatt damit zu warten. Mit ihrem Fürspruch für die Iunia, von der sie nun, von ihrem Bruder, erfahren musste, dass sie Nichte einer Bordellbesitzerin war; und wenn das stimmte – und Seiana hatte keinen Grund an ihrem Bruder zu zweifeln –, dann war Axilla vielleicht doch nicht so unschuldig, wie sie immer wirkte, und wie Seiana auch angefangen hatte zu glauben, weil sie dachte dass kein Mensch auf Dauer so etwas spielen konnte. Und mit ihren Problemen mit Verus.
    Überhaupt, Verus. Sie hatte seinen Brief noch, den er ihr als Antwort geschickt hatte. Und es ging ihr nicht aus dem Kopf, was er Raghnall als Botschaft mitgegeben hatte – oder was der Sklave ihr von Verus' Reaktion erzählt hatte, dem, was in seinem Mienenspiel und seiner Haltung zu lesen gewesen war. Er habe Hass gesehen, hatte Raghnall ihr erzählt. Und Verus' Worte waren ebenso deutlich gewesen. Er war Salinator's Mann durch und durch – sie hatte keine Ahnung, wann er dazu geworden war oder warum, aber es war so. Er konnte nicht ernsthaft glauben, dass der Vescularius das Beste für Rom war. Dass es das Beste war, wenn dieser Mann in Rom seine Strippen zog, während der Kaiser krank in Misenum lag, so krank, dass er sich nicht einmal mehr zu offiziellen Anlässen seinem Volk zeigen konnte. Oder dass Livianus, und sie, gegen Rom waren. Er konnte das nicht wirklich glauben. Und falls er gegen jede ihrer Erwartungen doch daran glaubte, dann machte es das nicht wirklich besser. Im Gegenteil... Ein Mann, der aus reinem Kalkül und Machtstreben gewisse Allianzen einging, war nicht bereit, jedwedes Risiko einzugehen, und vor allem: er war berechenbar. Ein Mann, der von einer Sache überzeugt war, war nur in einer Hinsicht berechenbar: er könnte zu allem möglichen fähig sein. Und genau das bereitete ihr Kopfzerbrechen. Verus hatte in der Vergangenheit mehrfach bewiesen, dass er seine Entscheidungen nicht rational fällte. Dazu kam, dass er nicht der Zuverlässigste war, und seine Gens schien ihm auch schon jeher nicht allzu viel bedeutet zu haben – wie sonst war zu erklären, dass er einfach sang- und klanglos verschwunden war vor einiger Zeit? Und sein Lebenslauf zeugte von großen Schwankungen, die bestenfalls von einem Menschen erzählten, der einfach nur... planlos war und selbst nicht so recht wusste, was er vom Leben wollte – im schlimmeren Fall aber von einem Mann, der seine Sinne nicht mehr ganz beisammen hatte. So oder so zeugte Verus' Lebenslauf aber von einem, der immer wieder versucht hatte, einen Fuß auf den Boden zu kriegen. Und jetzt, wo er dies geschafft zu haben schien, indem er dem Vescularius die Stiefel leckte... würde er sich das so einfach wegnehmen lassen? Seiana glaubte nicht daran. Sie hatte sich tagelang den Kopf darüber zerbrochen, hatte es hin und her gewendet, von den unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet. Aber egal, ob Verus nun tatsächlich an den Praefectus Urbi glaubte oder ihm nur aus Machtstreben heraus hörig war – sie glaubte nicht, dass er sich das nehmen lassen würde. Dass er zulassen würde, dass das Leben, das er nun schon zum x-ten Mal angefangen hatte sich aufzubauen, ein weiteres Mal zerstört werden würde – dieses Mal, weil seine Familie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte und ihn verstieß. Seiana wagte zwar zu bezweifeln, dass Verus seinen Posten verlieren würde, nur weil seine Familie sich von ihm abgewandt hatte, aber so etwas zog seine Kreise in Roms Gesellschaft. Ganz abgesehen von der Unterstützung der Decimer und ihrer Verbündeten, die Verus in Zukunft fehlen würde.


    Mit einem Ruck wandte Seiana sich vom Fenster ab und ging zu einem der Sessel hinüber, die in einem Eck des Raums standen, änderte dann jedoch ihre Richtung und ging zum Schreibtisch. Am seitlichen Ende blieb sie stehen und berührte mit den Fingern der linken Hand sachte die Platte. Wenn sie davon ausging, dass Verus nicht zulassen würde, dass seine Pläne in Gefahr gerieten – und davon ging sie aus –, dann musste sie auch davon ausgehen, dass er etwas tun würde. Irgendetwas. Irgendetwas gegen seine Gens. Gegen sie. Natürlich konnte sie das nicht absoluter Gewissheit sagen... und sie hatte auch keine Ahnung, was er wohl tun mochte. Aber konnte sie das Risiko eingehen, einfach abzuwarten und sich überraschen zu lassen von dem, was er sich wohl ausdenken mochte? Nein, wisperte eine Stimme in ihren Gedanken, wie jedes Mal in den letzten Tagen, wenn sie sich diese Frage gestellt hatte. Nein. Sie durfte nicht abwarten, bis sie nur noch reagieren konnte, denn dann war es möglicherweise schon zu spät. Sie hatte zu viel zu verlieren, ihre Familie hatte zu viel zu verlieren. Die Decimer hatten ohnehin nicht den besten Stand zur Zeit, mit Meridius und Livianus im Ruhestand in Tarraco, mit Magnus auf dem Sterbebett und ihrer Position gegenüber dem Vescularius, die vor allem Livianus eindeutig klar gemacht hatte. Sie konnte nicht warten, bis Verus sie gänzlich in den Untergang stieß – oder riss, je nachdem. Sie musste agieren.



    Kurze Zeit später stand Raghnall im Zimmer der Decima.
    „Ich habe einen Auftrag für dich. Einen, bei dem du deine... Kontakte brauchen wirst.“
    Raghnalls Augenbrauen rutschten ein wenig nach oben, aber davon abgesehen blieb seine Miene ruhig. „Meine Kontakte.“
    „Deine Kontakte“, wiederholte sie kühl, bevor sie ihm in knappen Worten erläuterte, was sie wollte.


    Und nicht allzu lang nach diesem Gespräch verließ der Gallier die Casa Decima. Sein Auftrag war eindeutig, und vor allem anderen hatte ihm die Decima eines eingebläut: es durfte keine Spuren geben, die in irgendeiner Form zu ihr zurück zu verfolgen waren. Aber da Raghnall nicht nur Kontakte hatte, wie die Decima es genannt hatte, sondern darüber hinaus sich bei seinen Streifzügen durch die Halbwelt Roms nie als der ausgab, der er war, war er zuversichtlich, dass das kein Problem werden würde. Das einzige, das etwas knifflig war, war die Sache mit dem Ring. Aber er wäre nicht er, wenn er das nicht irgendwie hinbekommen würde.


    Tage später stand Seiana wieder am Fenster, in einer recht ähnlichen Pose, und starrte nachdenklich hinaus. Hinter ihr, auf dem Schreibtisch, lag der Brief eines gewissen Iulius, der für Verus gearbeitet hatte. Und sein Freund gewesen war, wisperte eine Stimme in ihr, und Seiana schloss für einen Moment die Augen und presste die Lippen aufeinander, bevor sie wieder reglos hinaussah. Überfallen, erschlagen, ausgeraubt. In den Tiber geworfen. Und wieder aufgetaucht... wie im Leben, so schien Verus auch im Tod nicht gewillt zu sein, einer Sache treu zu bleiben. Sie würde mit Raghnall reden müssen, darüber, dass die Männer zwar gute Arbeit geleistet hatten, aber ganz offensichtlich nicht ganz so zuverlässig gewesen waren wie von ihr gewünscht. Aber das hatte noch Zeit. Für den Moment stand sie einfach da, starrte nach draußen und war dankbar, dafür, dass es dennoch so gut geklappt hatte und es eine Bedrohung weniger gab. Dafür, dass das wirre Treiben in ihrem Kopf wenigstens um eine Sache ärmer geworden war. Und nicht zuletzt dafür, dass da im Moment eine Kälte in ihr war, die so manches ein wenig erträglicher machte.
    Und während sie da stand und hinaus starrte, drehte sie in ihren Fingern beständig einen Siegelring der Decima.

  • ...hat das Schicksal Ähnlichkeit mit einem örtlichen Sandsturm,
    der unablässig die Richtung wechselt.
    Sobald du deine Laufrichtung änderst, um ihm auszuweichen,
    ändert auch der Sturm seine Richtung, um dir zu folgen.
    Wieder änderst du die Richtung.
    Und wieder schlägt der Sturm den gleichen Weg ein.
    Dies wiederholt sich Mal für Mal, und es ist,
    als tanztest du in der Dämmerung einen wilden Tanz mit dem Totengott.
    Dieser Sturm ist jedoch kein beziehungsloses Etwas,
    das irgendwoher aus der Ferne heraufzieht.
    Eigentlich bist der Sandsturm du selbst. Etwas in dir.
    Also bleibt dir nichts anderes übrig, als dich damit abzufinden
    und, so gut es geht, einen Fuß vor den anderen zu setzen,
    Augen und Ohren fest zu verschließen, damit kein Sand eindringt,
    und dich Schritt für Schritt herauszuarbeiten.
    Vielleicht scheint dir auf diesem Weg weder Sonne noch Mond,
    vielleicht existiert keine Richtung und nicht einmal die Zeit.
    Nur winzige, weiße Sandkörner, wie Knochenmehl,
    wirbeln bis hoch hinauf in den Himmel.
    So sieht der Sandsturm aus, den ich mir vorstelle.


    Aus: "Kafka am Strand" von Haruki Murakami



    Eine spärliche, einsame Flamme flackerte in der Dunkelheit. Seiana saß ein wenig außerhalb des Lichtkreises, nur um wenige Handbreit, aber doch genug, dass das Licht sie nur dann wirklich erhellte, wenn die Flamme durch einen Luftzug kurz ein wenig höher flackerte. In den Händen, die sich locker in ihrem Schoß trafen, hielt sie einen Weinbecher – fest ergriffen in der einen, während die andere gedankenverloren die Verzierungen an der Außenseite nachzeichneten. Die Frage hatte nicht lange auf sich warten lassen. Seiana hatte nach dem kurzen Gespräch mit dem Duccius noch eine ganze Zeit lang da gesessen, zunächst regungslos, ohne etwas zu tun, dann, nach und nach, sich wieder ihrer Post widmend. Das Schreiben, das der Auslöser gewesen war, hatte sie als eines der letzten dann doch noch zur Hand genommen und sich angesehen, und tatsächlich war es nur eine kurze Nachricht des Seniors gewesen. Wie ihr die Feier gefallen habe. Dass man sich erneut treffen müsse. Kein Wort über seinen Sohn, nicht einmal eine Andeutung davon, dass der Mann wusste oder ahnte, dass irgendetwas geschehen war – und Seiana hoffte, betete zu den Göttern, dass das auch so blieb. Dass der Junior seinen Mund hielt. Aber sicher sein konnte sie sich darüber nicht. Und noch während sie die Tafel in ihren Händen drehte und dabei das Siegel betrachtete, klangen erneut die Worte des Duccius in ihr nach – aber diesmal nicht der Satz, den sie bislang innerlich gehört hatte, sondern das, was er danach gesagt hatte. Ich werde in der Sache noch einmal auf dich zukommen. Sie hatte die Worte in ihrem Kopf gedreht und gewendet, hatte ihnen gedanklich unterschiedliche Betonungen verliehen, hatte sie in sich wirken lassen. Auf sie zukommen. In dieser Sache. Dieser Sache, die den Sicinius betraf, der kein Freund war, weder ihrer noch der seine. Es konnte vieles bedeuten. Und dennoch… mit dem vorangegangen Austausch…


    Irgendwann hatte sie sich gezwungen, mit dem Grübeln aufzuhören. Es gab da einen Punkt, ab dem sie nicht mehr weiter gekommen war, ab dem sie sich im Kreis gedreht hatte – nicht, weil es keinen Weg voran gegeben hätte, sondern weil sich etwas in ihr scheute, diesem Weg gedanklich weiter zu folgen. Und doch ließ sie diese Frage in der darauffolgenden Zeit nicht in Ruhe. Sie verdrängte sie, ebenso wie die Grübeleien, so gut es ging, aber das gelang ihr nicht immer.
    So wie an diesem Abend. Sie hatte eigentlich schon im Bett gelegen, hatte aber wie so häufig nicht einschlafen können, von Bildern verfolgt, die einer wilden Jagd gleich in ihrem Kopf rasten und einander beinahe zu verfolgen schienen. Und so war sie wieder aufgestanden, hatte eine kleine Lampe entzündet und sich mit einem Becher Wein hingesetzt. Und sich nicht erneut ihrer Arbeit gewidmet, sondern sich, zum ersten Mal seit längerem, von ihren Grübeleien wirklich vereinnahmen lassen. Sie ließ die Bilder zu, die sie sonst immer vehement bekämpfte und zu unterdrücken suchte. Sie tauchte hinein, und ihr ganzer Körper verkrampfte sich, als sie die Erinnerung zuließ, verkrampfte sich, weil die Bilder sie quälten – und sie verachtete sich dafür, weil sie sich in dieser einen Sache nicht einfach so zu beherrschen vermochte wie sonst. Weil der Sicinius es geschafft hatte, eine derartige Kontrolle über sie zu erlangen, der sie sich nicht entziehen zu können schien. Und wie stets, wenn sie ihre Gedanken nicht mehr lenken konnte, trudelten sie den gleichen Pfad entlang: bruchstückhaft erlebte sie erneut, was passiert war, fühlte sich schmutzig, unendlich schmutzig. Sie hatte immer das Bedürfnis, sich zu waschen, wenn sie an diesen Punkt kam, aber sie widerstand dem, hatte sich von Anfang an gezwungen, diesem Drang zu widerstehen. Sie fühlte sich lieber schmutzig, als ein äußeres Zeichen der Schwäche zuzulassen, selbst wenn es niemand hätte deuten können, und so taumelten die Bilder in ihren Gedanken nur immer weiter, bis sich die Szenerie blutrot zu färben begann, in Schlieren und Rinnsalen, die an ihrem Körper entlang liefen, bis sie ihn vereinnahmt hatten. Seit dem Gespräch mit dem Duccius allerdings waren es auch seine Worte, die sich zwischen diese Bilder drängten, mal darunter verborgen, mal sie überlagerten. Er wollte auf sie zukommen, hatte er gesagt. Und so oberflächlich das formuliert sein mochte, tief in sich wusste Seiana, was das bedeutete, auch wenn sie diesen Gedanken bisher nicht zugelassen hatte. Was konnte es sonst heißt, wenn nicht: er wollte Rache – und sah eine Möglichkeit, gemeinsam mit ihr etwas zu tun? Es gab keinen Grund, keinen schlüssigen, der ihr einfiel, warum der Duccius mit ihr noch einmal über den Sicinius reden wollen könnte. Keinen außer diesen.
    Es war nicht so, dass sie noch nie an Rache gedacht hatte. Aber auch das war etwas gewesen, was sie bislang verdrängt hatte. Denn wenn sie den Gedanken an Rache wirklich zuließ… gab es für sie nur eine Option. Nur eine Möglichkeit, wie der Sicinius wirklich bezahlen konnte. Und als sie so da saß, sie selbst im Dunkeln, ihr Gemach nur spärlich erhellt von einer einzelnen, kleinen Flamme, ließ sie diesen Gedanken zum ersten Mal tatsächlich zu. Sie wollte Rache. Natürlich wollte sie sie. Es war ja nicht nur diese eine Nacht, die er ihr aufgezwungen hatte, es war auch das, was sie seitdem erlebte, die immer wieder kehrenden Bilder, die nicht von ihr abließen, die sie des Tags in Situationen brachten wie jene mit dem Duccius und ihr des Nachts den Schlaf raubten, die ihr zeigten, wie schwach sie war, und die sie sich so fühlen ließen, als hätte er nach wie vor Kontrolle über sie. Die einzige Möglichkeit, wie er dafür zahlen konnte, war mit seinem Blut. Es gab nichts anderes, was sie wollte, kein Geld, keine Gegenstände, keine Entschuldigung, nichts. Sie wollte sein Blut, und sie wollte, dass er litt, während er es vergoss. Sie sah die blutgetünchten Bilder wieder, und sie stellte sich vor, dass es sein Blut war, das sie in Gedanken an sich sah, sein Blut, mit dem sie sich reinwusch, und nicht das ihre. Sie wollte keine Gerechtigkeit, keine Entschädigung. Sie wollte Rache.

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