~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Die Wände erbebten vom frenetischen Jubel der Massen. Bis auf den letzten Platz war der Circus angefüllt von Menschen sämtlicher Provenienz, neben Quiriten auch Hellenen, Iberer und Nubier, Ägypter und Germanen sowie zweifelsohne Vertreter jedes Volkes, welches unter dem Joch Roms sich beugte. Bisweilen drangen Fetzen der beschwingten Weisen der Tubicines durch die Front aus skandierten Namen, Sprechchören und animalischen Lauten, welche tausende rhythmisch Kehlen intonierten.
Seine Nervosität wuchs, seine Muskel kontrahierten, sein Atem beschleunigte sich beinahe bis zum Hyperventilieren. Ein schmaler Lichtstreifen drang durch den schmalen Schlitz oberhalb des Tores und beschien seine Stirn. Noch war die Stunde nicht gekommen, denn während er in der Enge der Box von einem Bein auf das andere trat, wurden auf der anderen Seite des Tores noch Preise in die Menge geschossen, was die Stimmung der Plebs weiter exaltierte. So schwoll immer wieder der Jubel an, wenn die Schleuderer eine neue Kugel aufluden und ihr Geschütz aktivierten, ehe er prompt verstarb, kaum hatte ein Glücklicher das Projektil unter seine Kontrolle gebracht und sich damit die Hoffnung auf fabulöse Präsente gesichert.
Wohlbekannt waren ihm die Fratzen der Anhänger der diversen Factiones, bestialisch verzerrt von der Gier nach Spektakel und Sensation und parat, sich an seiner Athletik zu ergötzen. Auch er hatte bereits seine Runde durch die Arena gezogen, um sich der Menge wie eine exotische Beute aus fernen Landen zu präsentieren, während vor ihm auf Tafeln seine Vorzüge in roten Lettern auf dem Album angepriesen wurden, hatte sich in vollem Schmuck, sauber gestriegelt und eingerieben von seiner charmantesten Seite präsentiert und damit seinem Rennstall bereits eine günstige Quote für die zahllosen Wettgeschäfte bereitet, die bei derlei Spektakeln abgeschlossen zu werden pflegten. Zweifelsohne würden nicht wenige jener Supporteure auf den Rängen gewaltige Hoffnungen in ihn setzen, hatte mancher seine letzten Sesterzen auf seinen Triumph verwettet, sodass der Ausgang jenes Laufes nicht allein sein eigenes, sondern zahllose Schicksale determinierte.
All dies hingegen war keineswegs ein kalmierendes Bewusstsein, in welchem er dem Start entgegenzufiebern war genötigt. Zweifelsohne war er aufs Beste präpariert worden für jenen großen Tag, hatte er exerziert, Leib und Geist gestählt und dabei zahllose Runden des Trainings absolviert, stets unter den Augen seiner Trainer Artaxias, Quinctius Rhetor und selbstredend des Dominus Factionis Manius Flavius Gracchus. Sie alle hatten beschieden, dass er parat war für den Ernst des Rennsportes, doch war er niemals zu einem wahrhaftigen Rennen angetreten, ängstigte ihn die Härte der Konkurrenz und die Weite der Distanz, welche im größten Circus des Imperiums zu überwinden war.
Plötzlich erschollen Fanfaren und das Krakelen der Massen verstummte, was nichts anderes konnte bedeuten, als dass der Editor der Spiele, der Imperator Caesar Augustus höchstselbst, an die Brüstung seiner Loge war getreten, um jenes Tuch zu präsentieren, dessen Auftreffen auf dem Boden den Lauf würde beginnen.
Also begab er sich in Position, während die Nervosität in ihm einen weiteren Satz machte und nun jede Sehne und Faser seines Körpers aufs Heftigste anspannte gleich einem parthischen Kriegsbogen.
Und gleich einem Pfeil schoss er davon, als schlagartig die Tore zu Boden katapultiert wurden und den Blick auf die Rennbahn freigaben, von welcher gleichermaßen gleißendes Sonnenlicht und die Anfeuerungsrufe seiner Anhänger auf ihn einströmten, ehe sein Leib inmitten von ihnen sich wiederfand, während er geradlinig auf die erste Gerade zuhielt, wo die Ehrengäste in den vordersten Reihen thronten, um sich am Sport des gemeinen Plebejers zu amüsieren. Nur in den Augenwinkeln vermochte er wahrzunehmen, wer in den Togae praetextae und Stolae steckte, deren farbenfrohe Pracht das Publikum zu einem gewaltigen Flickenteppich verschmelzen ließ, während er in höchster Velozität es passierte.
Nur den Hauch eines Augenschlages wagte er es, den Blick von seiner Destination zu nehmen und in aller Kürze einen Blick in jene Reihen zu riskieren, wo, wie er trefflich wusste, sämtliche Sodales seiner Factio ihren Platz hatten, begonnen bei Marcus Flavius Romulus über sämtliche Flavii Vespasiani, die Divi Flavii, den getreue Flavius Aristides und den kecken Serenus bis hin zu Flavius Furianus. Und dennoch war es keiner von all jenen vornehmen Herren, den er suchte: Eine Frau war es, von welcher inständig er hoffte, dass sie heute zu seinem Debut war erschienen!
Doch hatte sein verstohlener Blick sie nicht erspäht, lediglich alte, honorige Patriarchen, blass und ausdruckslos wie ihre Imagines aus dem Atrium, und spröde, gestrenge Matronen mit faltigem Antlitz hatte er erkannt. Sie alle konnten ihm gestohlen bleiben, ja er wollte lieber seinen Lauf vor leeren Rängen absolvieren, als jenen speziellen Gast zu missen!
Schon nahte das Ende jenes Abschnittes, in welchem realistischerweise sie mochte platziert worden sein, und damit die Kurve, die seine gesamte Appetenz würde in Anspruch nehmen, um die Duelle mit seinen Konkurrenten zu überstehen, welche sich bereits an seine Fersen hatten geheftet. Er musste nun einen weiteren Blick riskieren, selbst wenn dies seine Konzentration würde schmälern und die Distanz zu seinen Feinden eine Handbreit verringern mochte!
Also blickte er neuerlich nach rechts, sah Diva Flavia Nyreti, Claudia Silana und... da war sie! Sie lächelte und applaudierte voller Stolz!
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Manius Minor erwachte. Noch immer war ihm Claudia Antonias Antlitz klärlich vor Augen, ihre leuchtenden Augen, ihre vornehm blasse Haut, ihr zu einem Lächeln halb geöffneter Mund, welcher ihre strahlenden, ebenmäßigen Zähne präsentierte und geradezu ihm ermunternde Worte wollte zurufen. Und doch verschwand jenes nokturne Trugbild ebenso rasch und unerwartet, wie er es inmitten des Publikums hatte erspäht. An seiner Stelle verblieb nichts als das verschwommene Bild der wohlvertrauten hölzernen Decke seines Cubiculum.
Mit einem leisen Ächzen richtete der Jüngling sich auf und griff nach dem Wasserbecher, welchen Patrokolos neben seinem Bett hatte präpariert. Zweifelsohne hatte er antizipiert, dass es seinen dürsten würde, sollte er des Nachts erwachen, nachdem er am vergangenen Abend in überaus großer Heiterkeit zu Bett war gegangen. Indessen hatte der junge Flavius beschieden, dass jene Berauschtheit durchaus adäquat war, nachdem an jenem Tage die Wahlresultate waren publiziert worden, welche für ihn überaus positiv waren ausgefallen, sodass er nicht nur mit größter Sekurität die Quaestur hatte errungen, sondern gar einen beinahe doppelt so hohen Anteil der Wähler auf sich vereint hatte wie Manius Maiors bei seiner ersten Wahl.
Nachdem er seine Lippen benetzt und eine tiefen Schluck genommen hatte, platzierte er den Becher wieder auf dem Tischlein und sank zurück in seine Kissen, um sodann kurz seine Decke zu lüften, da sein Leib von Schweiß benetzt war, als wäre er soeben wahrhaftig bei einem Wettlauf angetreten. Erst als er wieder ein wenig getrocknet und retemperiert war, bedeckte er sich wieder, um seinen Schlaf fortzusetzen.
Indessen bereiteten die Nachtgespinste ihm durchaus Irritationen: Seit beinahe drei Jahren nun war Claudia Antonia ihm nicht mehr im Traume erschienen, weder in Gestalt jener abhorreszierenden Gestalt, welche als Kind ihn mit größter Regularität hatte heimgesucht, noch in der durchaus realen und adorablen Version, die ihn aus der Düsternis der Unterwelt und der Gewissheit des Tartaros zurück in die Welt der Lebenden hatte gestoßen. Zweifelsohne sehnte er noch immer sich nach ihr und wünschte in der Tat, dass sie nicht lediglich seinem imaginierten Rennen, sondern vielmehr auch seinem Cursus Honorum mit Wohlwollen beiwohnte. Doch war jene Vision wahrhaftig eine neue Botschaft aus dem Jenseits? Wollte seine Mutter ihn ermuntern, jenen Weg fortzusetzen, mit welchem so desperat er aus der Verstrickung der Ira deorum zu retten sich mühte?