Cubiculum | Manius Flavius Gracchus Minor

  • Der ältere Gracchus konnte nicht verhindern, dass seine Augenbraue ein wenig sich empor hob.
    "Nun, gänzliche Ruhe und Rückzug vor den Leuten ist dem Eremiten vorbehalten, doch jenes Leben schien dir persönli'h nicht im mindesten sicher genug, da du doch für dieses hier votiert hast"
    , konterte er Minors Widerworte nicht gänzlich frei von klandestinem Amüsement, wiewohl Bedauern über philosophisches Ideal und menschliche Realität. Er fixierte das Antlitz seines Sohnes, welches ihm gleichsam traut und doch mehr als fremd erschien.
    "Ein Narr mag in der Lage sein ein Gespann an..zutreiben, doch fehlen ihm Umsicht und Weitsicht, so dass er die Pferde mit Blick auf ein für ihn lohnendes Ziel ebenso leichtsinnig über den Weg wie von diesem hinfort in sein Verderben zu steuern vermag. So du dies als hinrei'hend erachtest, ist dies mehr als deplorabel."
    Als Minor sodann seine Ansicht über Politik äußerte schnellte mit einem Male in einem abrupten Reflex aufwallenden Zornes Gracchus' Hand nach vorn und packte seinen Sohn am Kragen seiner Tunika.
    "Dies ist kein Spiel, Minor"
    knurrte er mühsam beherrscht, da sein Sohn so treffsicher seinen Stachel tief in den Zweifel hatte gebohrt, welcher selbst so oft an ihm hatte genagt, bisweilen dies noch immer tat.
    "Es geht nicht um Macht, Geld, Ämter oder Ansehen, begreifst du das nicht? Um eben dies geht es nicht im geringsten!"
    Mit einem Schnauben zog er seine Hand zurück, beinahe angewidert, sein Zorn gleichsam Minor wie sich selbst geltend, der seinem Sohn die Gewichtigkeit seiner Pflicht nicht vermochte begreiflich zu machen. Enerviert erhob er sich und trat einen Schritt zurück in das Zimmer hinein, die Kieferknochen aufeinandergepresst, ehedem er sich wieder umwandte.
    "Und würde das Fliegen dir goutieren, Minimus, oder allfällig das Wandern über den Meeresgrund - du bist derjenige, der du bist, und illusorischen Träumereien na'hzuhängen kann dich in keinem Falle glücklich machen."

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  • Der Kommentar hinsichtlich seiner Entscheidung schmerzte gleich einem glühenden Messer, welches in eine brandige Wunde wurde gestoßen, doch jenes Brennen nährte lediglich das Feuer der Renitenz gegen die altklugen paternalen Explikationen. Durchaus mochte Manius Minor seine Ideale unterlaufen haben, doch schon die nächsten Worte offenbarten aufs Neue, wie limitiert das Verständnis Manius Maiors ausfiel, da er doch mitnichten erkannte, dass dem Staate keine weitere Obliegenheit zukam denn die Sicherung von Sicherheit und einer ordinierten Ökonomie.
    Als plötzlich dann die Hand seines Vaters nach ihm griff, entfleuchte ihm vor Schreck ein furchtsames Quieken und er wich, soweit ihm der eherne Griff dies gestattete, zurück, obschon, wie im zweiten Augenschlage ihm gewahr wurde, Manius Maior niemals die Stärke würde aufbringen, ihn physisch zu züchtigen.


    Voll Abscheu über jene paternale Schwäche kalmierte sich der junge Flavius somit und starrte voll von Widersetzlichkeit auf jene Stelle, wo unfehlbar die Augen des älteren Flavius, deren finstren Blick zu identifizieren er außerstande war, mussten verborgen sein. Mochte Manius Maior dafürhalten, jenes obskure Ziel des Bonum commune zu in unterschiedlichem Maße zu realisieren wäre, wo doch in Wahrheit jede Initiative, sei sie flavischer, germanicischer oder iulischer Provenienz, in erster Linie dem eigenen Wohl diente, indem die Reputation ihres Initiators wurde gepflegt. Mochte er hunderte Male erklären, es handele sich beim Engagement des Politikers nicht um eitles Streben nach Macht, die furchtsame Defension des Ansehens, sei es der eigenen Person oder der Familie, die servile Unterwerfung unter die dubitable Tradition des Sammelns von Ämtern. Final ermangelte es seinem Vater schlicht an Mut und Phantasie, wie er bereits unzählige Male hatte erwiesen: Wie er niemals die Hand gegen seinen Sohn hatte erhoben, wie er, anstatt den Usurpator zu befehden und zu den Waffen zu greifen oder zumindest seine Beredsamkeit zu nutzen, um gegen den Vescularius zu intrigieren, feige sich verborgen hatte, so war auch nun er gefangen von jener Furcht vor jedweder Devianz, erbaut auf leeren Meinungen über Tugenden und die Strafen der Götter. Wie zur Konfirmation jener Erkenntnis verflog seine Erregung rasch und er schickte sich aufs Neue an, sich zu retirieren, anstatt jene Disputation auszufechten.


    Starrsinnig verschränkte der junge Flavius die Arme von neuem und reckte trutzig das feiste Kinn, um schlussendlich mit sardonischem Genuss zu erwidern:
    "Und du bist ein glücklicher Mann, nun, nachdem du als Consularis vermeinst den Fluss durchschwommen zu haben?"
    Stets hatte er seinen Vater als einen Mann der Pflicht erfahren, bereitwillig sämtliche Mores Maiorum befolgend und den Obliegenheiten seiner Familie, seines Standes wie seiner Position ergeben erfüllend. Doch niemals hatte er auch nur im entferntesten jene unbetrübte Heiterkeit, jene infantile, doch gerade darum vollkommene Freude und jene ungezügelte Extase gezeigt, welche der junge Flavius im Hause des Dionysios nahezu jeden Tag hatte observieren, ja erfahren dürfen. Er war geneigt zu postulieren, dass Manius Flavius Gracchus ein geachteter Mann war, ein emsig um das Gemeinwohl besorgter Mann oder bisweilen gar gefürchteter Mann. Doch ihn als glücklichen Mann zu bezeichnen sah der Jüngling sich nicht imstande, denn stets verbreitete er eine gewisse Melancholie, die selbst in den Momenten scheinbar größter Ausgelassenheit sich unter das gewöhnlich doch nur sublime Lächeln mischte.
    Und dieser Mann wollte ihm explizieren, an wo das Glück zu finden war und wo man vergebens es jagte?

  • Der ältere Gracchus hatte bereits sich wieder umgewandt und war im Begriffe den Raum zu verlassen ob der vorherrschenden Stille, welche alles, wiewohl nichts geklärt haben zu schien, welche einer Mauer gleich zwischen ihnen stand, die er nicht zu überwinden im Stande war.
    Und du bist ein glücklicher Mann ...?
    , überkam schlussendlich die Mauer als der Vater beinahe bereits schon die rettende Türe hatte erreicht.
    Ja
    , gemahnte es ihn im ersten Augenblicke zu entgegnen, doch nicht einmal seine Lippen mochten sich öffnen, um einer solchen Lüge den Weg in die Freiheit zu gestatten. Er erstarrte, und während draußen im Garten einige Blätter von den Bäumen wurden geweht, während eine Katze im Stall das Leben einer Maus mit einem flinken Biss beendete, während eine kummulierte Wolke über der Villa im Spiel des Himmels in zahllose Schlieren wurde auseinander gerissen, verharrte die Welt in Minors Cubiculum einem Stillleben gleich. Beinahe mochte es gar schon erscheinen als wäre der ältere Gracchus allfällig im Stehen eingeschlafen, doch schlussendlich musste er tonlos eingestehen:
    "Nein."
    Noch einmal wandte er sich um, langsam, zögerlich, und in seinem Antlitz lag kein Glück, wenn auch allfällig kein Unglück, ein Schimmer von Bedauern wohl, begemischt einer Melange aus Zufriedenheit und Resignation.
    "Mein Verstand und mein Leib mögen am Ende des Flusses an..gelangt sein, saturiert und halbwegs wohlbehalten. Doch ... mein Herz war nie Teil dieser Reise, denn ... vor langer Zeit bereits habe ich es am anderen Ufer zurückgelassen."
    Er presste kurz die Lippen aufeinander.
    "In ... Zerrissenheit kann kein Glück entstehen. und dies ist nichts, was ich meinen Feinden mö'hte wünschen, und ganz sicher nicht meinen Söhnen."
    Seinem Herzen zu folgen, dies wäre allfällig sein väterlicher Ratschlag gewesen in einer romantisch verklärten Welt. Doch ihre Realität erhob den Verstand zum einzig wahren Anführer, dass einem Manne nur blieb sein Herz zu bändigen oder zu überzeugen, dass eine Chance auf Glück darin konnte erwachsen.

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  • Als der Manius Maior inne hielt, vermeinte Manius Minor bereits beinahe, jener würde nun sich umwenden und seinen Spott ob der Furchtsamkeit, welche er ihm soeben noch gedanklich hatte unterstellt, ob seiner Impertinenz Lügen strafen. Doch stattdessen erfolgte die antizipierte Replik, die die Augen des Jünglings triumphierend aufblitzen ließen. Jene Assistenz ließ mitnichten sich umgehen:
    "Und doch tust du es!"
    Beinahe verspürte er Compassion ob jener paternalen Niederlage, jener Resignation ob des eigenen Versagens, das er nun glaubte auch seinem Sohne aufzubürden genötigt zu sein. Doch rasch rief der Jüngling sich in Erinnerung, dass nichts als leere Meinungen es waren, die ihn zu jener Autoviolation veranlassten und von welchen womöglich nun ihn zu absolvieren die Gelegenheit war gegeben:
    "Mein Herz wird noch weniger Teil dieser Reise werden als das deine! Der Fluss, der See ängstigt mich schon von Ferne! Warum müssen wir uns torquieren, wo doch andere mit Freuden jene Mühen auf sich nehmen?
    Wir verfügen über alles, was wir zum Leben benötigen, unsere Söhne und die Söhne unserer Söhne werden von den Zinsen unserer Äcker und Weinberge vortrefflich leben! Anstatt nach der Nobilitas durch leere Ämter und noch leereres Geschnatter in Servilität des Imperators könnten wir den Seelenadel wahrer Weisheit anstreben, den Wegen des einzig Weisen folgend!"

    All seine Tage hatte ihn jene paternale Lehrstunde geprägt, welche vor so vielen Jahren ihm war erteilt worden, jenes Zwölftafelgesetz des flavischen Hauses. Doch was, wenn die Maiores geirrt hatten?
    "Du lehrtest mich einst, dass dem Staat, der Familie und der Wahrheit zu dienen sei! Doch was sollen die Mühen und Qualen für Staat und Familie effektuieren, als dass wir eben jene Mühen und Qualen für unsere Nachkommen perpetuieren?"
    Der Jüngling streckte seine Hand aus, als stünde der ältere Gracchus nicht auf dem festen Boden der Realität, sondern triebe in einer reißenden See aus leeren Meinungen, durch welches er selbst das feste Schiff der Wahrheit lenkte, gleichsam repräsentiert durch die Bequemlichkeit seiner Liegestatt.
    "Die Wahrheit ist es, die an die höchste Stelle ist zu platzieren! Sie vermag es, leere Tugenden und vermeinte Necessitäten zu demaskieren! Sie kann dich, deine Söhne und Enkel vor jener glücklosen Existenz retten und damit das Glück deiner Familie sichern! Und was kümmert uns der Staat?
    Damit man sicher sein konnte vor den Menschen, gab es das natürliche Gut der Herrschaft und des Königtums, mit dessen Hilfe man sich gegebenenfalls diese Sicherheit verschaffen konnte.
    Dies ist seine similäre Funktion, welche er auch ohne uns wird erfüllen!"

  • Nicht wie die rettende Hand aus dem soliden Schiffe der Wahrheit inmitten stürmischer See schien dem älteren Gracchus die ausgestreckte Hand seines Sohnes, sondern mehr dem scharfkantigen Gladius gleich, ausgestreckt zum Todesstoß, dass er einen weiteren Schritt zurück tat, mit dem Rücken gegen die hölzerne Barriere der Türe stieß.
    "Die Wahrheit ..."
    , suche er noch einige Augenblicke verzweifelt am Treibholz seiner eigenen Ideale sich fest zu klammern, rang mit seinem Ethos, die Zähne fest aufeinander gepresst, doch machtlos gegen die Wahrheit in ihrer reinsten Form. Wie lange hatte er sich selbst betrogen mit seinen hehren Überzeugungen, selbst dann noch als die Lüge tagtäglich ihm alle Misere vor Augen hatte geführt, hatte sich selbst verstrickt in ein Netz, welches verborgen war unter dem Deckmantel der Wahrheit, welcher indes derart ausgedünnt und zerfleddert war, dass Gracchus stets in Staunen versetzte wie seiner Umwelt es gelang über all die Flicken und Löcher hinweg zu sehen und ein prachtvolles Gewand ihm angedeihen zu lassen. Wie konnte er dies desolate Kleidungsstück an seinen Sohn vererben und selbst vorgeben eine Kostbarkeit darin zu entdecken? In abschätziger, wie desperater Fasson schüttelte er darob letztendlich den Kopf.
    "Die Wahrheit ist die größte Lüge der Menschheit, Minimus! Denn niemand will die Wahrheit sehen, solange sie nicht ihm selbst zu..pass kommt, niemand. Auch du würdest nicht nach ihr streben wollen, würdest du um all ihre qualvollen Schrecken wissen! Unsere Väter haben dies erkannt, wie vor ihnen ihre Ahnen, und eben aus diesem Grunde sind Staat und Familie stets vor..rangig, denn sie sind es, die uns im Zweifelsfalle vor der Wahrheit schützen!"
    Mörder
    , dies war die Wahrheit.
    Mörder
    , mehr als nur einmal.
    Mörder
    , starrte die Wahrheit in Gracchus' Gesicht, das sein Blick einige Herzschläge furchtsam suchte dem zu entkommen, dabei rastlos durch den Raum wich, ehedem er sich seines Sohnes entsann.
    "Eine Amtszeit."
    Was nicht aller Trotz, alle Wut, aller Stolz oder alle Überzeugung hatten erreichen können, dies erreichte schlussendlich die Furcht, welche dem Vater in all ihren Nuancen so traut war, welche den Sohn ihm allfällig näher brachte als jeglich sonstige Emotion.
    "Hernach magst du entschließen deiner Furcht na'hzugeben, deiner Bestimmung dich zu entziehen und das Wohl des Reiches inkompetenten, selbstsüchtigen und machtgierigen - dabei jedoch stets von Freude erfüllten - Emporkömmlingen zu überlassen, und ich werde dies akzep..tieren solange du deiner Herkunft zumindest dich entsinnst und dieser Familie keine Schande bereitest"
    , räumte er voller Enttäuschung ein. Wie Minor es vor geraumer Weile noch hatte gefordert würde Gracchus allfällig schlichtweg ein kleines Landgut ihm überlassen. Schlussendlich blieb ihm noch Titus, der sein Erbe würde antreten können, und womöglich war auch dies Teil des flavischen Schicksals - dass der Erstgeborene stets nur Enttäuschung mit sich brachte, so dass er wohl durchaus konnte zufrieden sein solange er ihn nicht verstoßen musste.

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  • Das paternale Zurückweichen versetzte Manius Minor einen weiteren Stich in sein geschundenes Herz, riss eine jener zahllosen Narben, welche Manius Maior ihm in all den Jahren hatte bereitet, aufs Neue auf, erschreckte ihn gar ein wenig und ließ ihn seinerseits zurückweichen. Die Philippica, welche sodann gegen die Wahrheit, jene durch philosophische Kritik geläuterte, einzig restierende Tugend, erfolgte, irritierte ihn hingegen in weitaus größerem Maße. Verspürte er anfangs noch eine Neigung, den desillusioninerten Worten des älteren Gracchen zu folgen, erkannte er doch rasch, dass dieser mit ihnen nichts anderes tat, als auf verschlungene Weise die Inferiorität seiner Lebenswelt zu konzedieren. Familie, Staat und Götter waren nichts anderes als Verstecke vor jener so simplen und für den Törichten womöglich durchaus gräulichen Wahrheit, doch wer wie der junge Flavius die rechte Unterweisung hatte erhalten, wie mit ihr umzugehen sei, der musste sie nicht fürchten.
    Schon setzte er an, einige altkluge Worte dem Vater zu replizieren, ihm seine Niederlage vor Augen zu führen und ihm womöglich einen Weg zu offerieren, seie Qualen zu überwinden, was selbstredend einer kurzen Weile der Sammlung bedurfte, da unterbrach ein knappes Wort jenes irritierende Schweigen: Eine Amtszeit.


    Mochte ein desillusionierter Vater, der vor dem eigenen Sohne zurückwich, ja selbst vor den Grundfesten seiner eigenen Maximen, disturbierlich erscheinen, so erschien es Manius Minor nun, als habe Manius Maior den Beschluss gefasst, sich gänzlich selbst zu verleugnen und gleichsam zum Kyniker zu werden. Obschon der Vater, wie er nun selbst konzedierte, sein Leben als Lüge hatte verlebt, so schmerzte es den Sohn doch, ihn dergestalt laborieren zu sehen, sämtliche seiner Prinzipien verratend. Und doch übertraf die Begierde, der nunmehr ihm bevorstehenden Last des öffentlichen Dienstes ledig zu werden, der Neigung, jener Offerte aus dem Moment der paternalen Schwäche heraus zu entsagen.
    "Dies war niemals meine Absicht."
    , erwiderte er somit trocken, doch wohleingedenk, dass seine Maßstäbe von Schande von denen seiner übrigen Familia zweifelsohne differierten.

  • "Gut"
    , entgegnete der Vater tonlos, irgendwo im Hintergrund seiner Gedanken hadernd mit dieser Aussage und worauf sie sich mochte beziehen - dass es niemals Minors Absicht war, mehr als eine Amtszeit zu absolvieren, das Wohl des Reiches Emporkömmlingen zu überlassen oder aber seiner Familie keine Schande zu bereiten? -, doch ohne noch die notwendige Kraft weiter zu urgieren, denn letztendlich konnte er nur dann seine Prinzipien mit aller Macht verteidigen, so er ihnen treu blieb.
    Mörder!
    Langsam wandte sein Blick sich empor zu der Ritze zwischen Decke und Wand, aus welcher die Schatten der Vergangenheit hinauskrochen, die Larven und Lemuren seines Gewissens, die Strigae seiner Vergangenheit mit ihren scharfen Krallen und spitzen Zähnen, mit ihren Fratzen und glühenden Augen. Er sehnte sich danach, dass sie ihn endlich würden zerfetzen, zerreißen, fressen, verdauen und ausspuckten auf seinen Platz im Hades.
    Mörder!
    Allfällig war dies bereits der Hades, dieser Minor nur ein Teil seiner Qual.
    "Gut
    , repetierte er noch einmal, mehr zu sich selbst, drehte sich sodann um, die Türe öffnend und hinter sich wieder schließend ohne noch einmal seinen Sohn wahrzunehmen.

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  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Er erwachte von gleißendem Licht, welches das gesamte Cubiculum erhellte. Sich aufrichtend blickte er dem unirdischen Gast, der sie geöffnet hatte, in das Gesicht: Es war eine sonderbare Gestalt, gleich einem Kind, aber doch eigentlich nicht gleich einem Kind, sondern mehr wie ein Greis, der durch einen wunderbaren Zauber erschien, als sei er dem Auge entrückt und auf diese Weise so klein geworden wie ein Kind. Sein Haar, das in langen Locken auf seine Schultern herabwallte, war weiß, wie vom Alter, und dennoch hatte das Gesicht keine einzige Runzel, und um das Kinn bemerkte man den zartesten Flaum. Die Arme waren lang und muskulös, die Hände ebenso, als läge in ihnen eine ungeheure Kraft. Seine Füße, zart und fein geformt, waren entblößt, gleich den Armen. Der Geist trug eine Tunica vom reinsten Weiß; um seinen Leib schlang sich ein Gürtel von wunderbarem Glanz. Er hielt einen frisch-grünen Palmenzweig in der Hand; aber in seltsamem Widerspruch mit diesem Zeichen des Winters war das Kleid mit Sommerblumen verziert. Das Wunderbarste aber war, daß von seinem Scheitel ein heller Lichtstrahl in die Höhe schoß, der alles ringsum erleuchtete.
    Aber selbst dies war nicht seine seltsamste Eigenschaft. Denn wie der Gürtel des Geistes bald an dieser Stelle glänzte und funkelte und bald an jener, und wie das, was im Augenblick hell gewesen war, plötzlich dunkel wurde, so verwandelte sich auch die Gestalt selbst, man wußte nicht wie: bald war es ein Ding mit einem Arm, bald mit einem Bein, bald mit zwanzig Beinen, bald sah man nur zwei Füße ohne Kopf, bald einen Kopf ohne Leib; und wie einer dieser Teile verschwand, blieb keine Spur von ihm in dem dichten Dunkel zurück, das ihn verschlang. Und das größte Wunder dabei war: die Gestalt blieb immer dieselbe.
    "Bist du der Geist, dessen Erscheinung mir vorhergesagt wurde?"
    , fragte er.
    "Ich bin es."
    Die Stimme war sanft und wohlklingend und so leise, als käme sie nicht aus dichtester Nähe, sondern aus einiger Entfernung.
    "Wer und was bist du?"
    , fragte er, schon etwas mehr Mut fassend.
    "Ich bin der Geist der vergangenen Saturnalia."
    "Einer lange vergangenen?"
    , fragte er, seiner zwerghaften Gestalt gedenkend.
    "Nein, einer deiner vergangenen."
    Der Geist streckte seine starke Hand aus, als er dies sprach, und ergriff sanft seinen Arm.
    "Steh auf und folge mir."
    Vergebens würde er eingewendet haben, Wetter und Stunde seien schlecht geeignet zum Spazierengehen, das Bett sei warm, er sei nur leicht in seine Nachttunica gekleidet und habe gerade jetzt den Schnupfen. Dem Griff, war er auch sanft wie der einer Frauenhand, war nicht zu widerstehen. Er stand auf; aber als er sah, daß der Geist nach dem Fenster schwebte, faßte er ihn flehend bei dem Gewand.
    "Ich bin ein Sterblicher"
    , sagte er,
    "und könnte fallen."
    "Lass meine Hand dich hier berühren"
    , sagte der Geist, indem er die Hand auf das Herz legte,
    "und du wirst größere Gefahren überwinden, als diese hier."


    ~~~

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Als er diese Worte gesprochen hatte, drangen die beiden durch die Wand und standen plötzlich im Freien auf einer Straße, rings von großen Gebäuden gesäumt. Das Cubiculum war ganz verschwunden. Keine Spur war mehr davon. Die Dunkelheit und der Nebel waren mit ihr verschwunden, denn es war jetzt ein klarer, kalter Wintertag und der Boden mit weißem reinem Schnee bedeckt.
    "Mehercle!"
    , rief er, die Hände faltend, als er um sich blickte.
    "Hier ging ich zum Rhetor. Hier studierte ich als Knabe."
    Der Geist schaute ihn mit milden Blicken an. Seine sanfte Berührung, obgleich sie nur leise und flüchtig gewesen war, bebte immer noch nach in seinem Herzen. Er fühlte, wie tausend Düfte die Luft durchwehten, jeder mit tausend Gedanken und Hoffnungen und Freuden und Sorgen verbunden, die lange, lange vergessen waren.


    "Erinnerst du dich des Weges?"
    , fragte der Geist.
    "Ob ich mich seiner erinnere?"
    , rief er mit Innigkeit.
    "Blindlings könnte ich ihn gehen!"
    "Seltsam, daß du ihn so viele Jahre hindurch vergessen hast"
    , sagte der Geist.
    "Komm!"


    Sie schritten den Weg entlang. Er erkannte jede Tür, jeden Larenschrein, jede Ritze zwischen den Insulae, bis sie zu einer Kreuzung kamen. Jetzt kamen einige Knaben, von Paedagogi geleitet, auf sie zu, die anderen Knaben hinter sich laut zuriefen. Alle waren gar fröhlich und laut, bis die breite Straße so voll heiterer Musik waren, daß die kalte, sonnige Luft lachte, sie zu hören.
    "Dies sind nur Schatten der Dinge, die da gewesen sind,"
    , meinte der Geist,
    "sie wissen nichts von uns."
    Die fröhlichen Reisenden kamen näher, und er erkannte sie jetzt alle und konnte sie alle beim Namen nennen. Warum freute er sich über alle Maßen, sie zu sehen, warum wurde sein kaltes Auge feucht, warum frohlockte sein Herz, als sie vorübereilten, warum wurde sein Herz weich, wie sie an den Kreuzwegen voneinander schieden und einander fröhliche Saturnalia wünschten?
    Was gingen denn ihn fröhliche Saturnalia an? Pluto hole die fröhlichen Saturnalia! Welchen Nutzen hatte er wohl jemals davon gehabt?


    "Die Schule ist nicht ganz verlassen"
    , nahm der Geist wieder das Wort.
    "Ein Kind, eine verlassene Waise, sitzt noch einsam dort."
    Er sagte, er wisse es. Und er schluchzte.
    Sie verließen nunmehr die Straße und standen vor einer Insula mit mehreren Tabernae im Erdgeschoss. Es war ein großes Haus, aber jetzt vernachlässigt und ziemlich verwahrlost, weil die geräumigen Gemächer wenig gebraucht waren, die Wände feucht und grün, die Fenster verrammelt, die Türen morsch und halb zerfallen. Hühner gluckten und scharrten im Innenhof, und das Impluvium war mit Gras überwachsen. Auch im Innern war nichts übriggeblieben von seiner alten Pracht, denn als sie durch die offenen Türen in die Ladenlokale blickten, sahen sie nur ärmlich ausgestattete, kalte, kleine Räume. Ein erdiger, multriger Geruch lag in der Luft, eine frostige Unbehaglichkeit von allzu häufigem Aufstehen bei Öllicht und nicht allzu reichlichem Essen.


    Der Geist ging mit ihm bis zum letzten Lokal des Gebäudes, wo ein Vorhang den Raum von der Straße schied. Dieser öffnete sich vor ihnen und zeigte ihnen einen langen, kahlen, unbehaglichen Raum, den kleine, unbequeme Hocker noch kahler und unbehaglicher machten.
    Auf einer davon saß einsam ein Knabe neben einem schwachen Kohlenbecken und las; und er setzte sich auf eine Bank nieder und weinte, als er sein eigenes, vergessenes Selbst sah, wie es in früheren Jahren war.
    Kein dumpfer Widerhall in dem Haus, kein Rascheln der Mäuse hinter dem Getäfel, kein Getröpfel des halbgefrorenen Brunnentrogs hinten im Hof, nicht das Knarren der vom Wind hin und her bewegten Tür, selbst nicht das Knistern des Feuers war für ihn verloren. Alles fiel auf sein Herz wie erweichende Töne und löste seine Tränen.


    Der Geist berührte seinen Arm und wies auf sein jüngeres, in eine Buchrolle vertieftes Abbild. Plötzlich stand draußen vor dem Fenster ein Mann in fremdartiger Tracht, mit einem Dolch im Gürtel und einen mit Holz beladenen Esel am Zaume führend.
    "Was! Das ist ja Aeneas!"
    , rief er voller Freude aus.
    "Es ist der alte, liebe, ehrliche Aeneas. Ja, ja, ich weiß es noch. Einst zur Saturnalienzeit geschah es, dass dieser verlassene Knabe ganz allein hier saß, und er zum ersten Male wirklich kam, gerade wie er dort steht. Der arme Junge! Und Helenus"
    , fuhr er fort,
    "und auch sein wilder Bruder Hektor, dort gehen sie! Und wie heißt doch der, der mitten im Schlaf vor das Tor von Damascus gesetzt wurde? Siehst du ihn nicht? Und der Stallmeister des Königs, der von den bösen Geistern auf den Kopf gestellt wurde, dort ist er ja auch! Ha, ha, es geschieht ihm schon recht! Wer hieß es ihn auch, die Prinzessin heiraten wollen!"
    Ihn mit vollem Ernst über solche Gegenstände reden zu hören und mit einer zwischen Lachen und Weinen schwankenden Stimme, dann auch sein vor Freude aufgeregtes Gesicht zu sehen: das wäre für seine Geschäftsfreunde in der Urbs gewiß eine große Überraschung gewesen.
    "Da ist ja auch der Papagei"
    , rief er,
    "der mit grünem Leib und gelbem Schwanz, da ist er! Der arme Ulixes, er rief ihn, als er von seiner Inselumsegelung wieder nach Hause kam ›Ulixes, wo bist du gewesen?‹ Er glaubte, er träume, aber das war der Papagei. Ha, dort läuft Eumaios in der kleinen Bucht. Es gilt das Leben. Ave, ah, ave!"
    Dann sagte er mit einem schnellen Wechsel der Gefühle, der seinem gewöhnlichen Charakter sehr fremd war:
    "Der arme Knabe!"
    , und er weinte wieder. Dann wischte er sich mit dem Ärmelaufschlag die Augen, steckte die Hand in die Tasche und murmelte:
    "Ich wünschte – aber es ist jetzt zu spät."


    "Was willst du?"
    , fragte der Geist.
    "Nichts"
    , sagte er,
    "nichts. Gestern abend sang ein Knabe einen Saturnalienvers vor meiner Tür. Ich wünschte, ich hätte ihm etwas gegeben, weiter war es nichts."
    Der Geist lächelte gedankenvoll und winkte mit der Hand. Dann sagte er:
    "Laß uns andere Saturnalien sehen."


    ~~~

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Sein früheres Selbst wurde bei diesen Worten größer, und das Zimmer etwas finsterer und schwärzer, das Getäfel warf sich, die Fensterläden sprangen, Stücke des Kalkbewurfs fielen von der Decke und das bloße Lattenwerk zeigte sich: aber wie das alles geschah, wusste er nicht. Er wußte nur, dass alles stimmte und sich ganz so zugetragen habe, und daß er's nun wieder sei, der dort allein sitze, während die andern Knaben nach Hause gereist waren zur fröhlichen Saturnalienfeier.
    Der Knabe las nicht, sondern ging wie in Verzweiflung im Zimmer auf und ab. Er blickte den Geist an und schaute mit einem traurigen Kopfschütteln und in banger Erwartung nach der Tür.
    Da ging sie auf und ein kleines Mädchen, viel jünger als der Knabe, sprang herein, schlang die Arme um seinen Hals, küßte ihn und begrüßte ihn als ihren "lieben, lieben Bruder".
    "Ich komme, um dich mit nach Hause zu nehmen, lieber Bruder!"
    , sagte das Kind, fröhlich mit den Händen klatschend.
    "Dich mit nach Hause zu nehmen, nach Hause, nach Hause!"
    "Nach Hause, liebe Flamma?"
    , fragte der Knabe.
    "Ja!"
    , antwortete die Kleine in überströmender Freude.
    "Nach Hause und für immer! Der Vater ist so viel freundlicher als sonst, daß es bei uns wie im Elysium ist. Eines Abends, als ich zu Bett ging, sprach er so freundlich mit mir, dass ich mir ein Herz faßte und ihn fragte, ob du nicht nach Hause kommen dürftest –, und er sagte ja, und schickte mich im Wagen her, um dich zu holen. Und du sollst jetzt dein freier Herr sein"
    , sagte das Kind und blickte ihn bewundernd an,
    "und nicht mehr hierher zurückkehren; aber erst sollen wir alle zusammen Saturnalien feiern und recht lustig sein."
    "Du bist ja eine ordentliche Dame geworden, Flamma!"
    , rief der Knabe aus.
    Sie klatschte in die Hände und lachte und versuchte, bis an seinen Kopf zu reichen; aber sie war zu klein, und lachte wieder und stellte sich auf die Zehen, um ihn zu umarmen. Dann zog sie ihn in kindlicher Ungeduld zur Tür, und er begleitete sie mit leichtem Herzen.


    Eine schreckliche Stimme im Hausflur rief:
    "Bringt die Kisten des jungen Herrn herunter!"
    Es war der Rhetor selbst, der den jungen Herrn mit brutal hochnäsiger Herablassung anstierte, und ihn in großen Schrecken setzte, als er ihm die Hand drückte. Dann führte er ihn und seine Schwester in ein feuchtes, fröstelnerregendes Nebenzimmer, an dessen Wänden Landkarten vor Kälte glänzten. Hier brachte er eine Karaffe merkwürdig leichten Wein und ein Stück merkwürdig schweren Kuchen herbei und regalierte die Kinder schonend sparsam mit diesen auserlesenen Leckerbissen. Auch schickte er eine hungrig aussehende Magd hinaus, um seinem Sklaven ein Becherlein anzubieten, wofür dieser aber mit den Worten dankte, wenn es von demselben Faß wie das vorige sei, möchte er lieber nicht kosten. Während dieser Zeit waren die Kisten des jungen Herrn auf den Wagen gebunden worden, und die Kinder nahmen ohne Rührung von dem Schulmeister Abschied, setzten sich in den Wagen und fuhren so schnell zum Garten hinaus, daß der Reif und der Schnee wie Schaum von den immergrünen Gebüschen hinwegstob.


    "Sie war immer ein zartes Wesen, das von einem Hauch hätte verwelken können"
    , sagte der Geist.
    "Aber sie hatte ein großes Herz."
    "Ja, das hatte sie"
    , rief er.
    "Ich will nicht widersprechen, Geist. Die Götter mögen es verhüten."
    "Sie starb als Frau"
    , sagte der Geist,
    "und hatte Kinder, glaube ich."
    "Ein Kind"
    , antwortete er.
    "Ja"
    , sagte der Geist.
    "Dein Neffe."
    Er schien unruhig zu werden und antwortete kurz:
    "ja."


    ~~~

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Obgleich sie die Schule kaum einen Augenblick hinter sich gelassen hatten, befanden sie sich doch plötzlich mitten in den lebendigsten Straßen der Stadt, wo schattenhafte Fußgänger vorübergingen, wo gespenstige Sänften um Platz stritten und wo das ganze wirre Leben einer wirklichen Stadt herrschte. Am Aufputz der Läden sah man, daß auch hier Saturnalien war; aber es war Abend.


    Der Geist blieb vor dem Eingang einer Domus stehen und fragte ihn, ob er dies kenne.
    "Ob ich es kenne?"
    , sagte er.
    "Hab ich hier nicht gelernt?"


    Sie traten ein. Beim Anblick eines alten Herrn in einem Sagum, der von Ferne erkennbar in seinem weit geöffneten Tablinum saß, rief er in großer Aufregung:
    "Ha, das ist ja der alte Fossilius, die Götter mögen ihn segnen, es ist Fossilius, wie er leibt und lebt!"
    Der alte Fossilius legte seine Feder hin und sah hinüber zu einer Wasseruhr, die auf der zwölften Stunde stand. Er rieb die Hände, zog sein Sagum herunter, schüttelte sich vor heimlichem Lachen von Kopf bis Fuß und rief mit einer behäbigen, voll und doch mild tönenden heiteren Stimme:
    "Hallo, dort! Ebonisius! Crassus!"
    Sein früheres Selbst, jetzt zu einem Jüngling geworden, trat flink herein, begleitet von seinem Mittiro.


    "Vilcinius Crassus, wahrhaftig!"
    , sagte er zu dem Geist.
    "Wahrhaftig, er ist es. Er war mir sehr zugetan, der Crassus. Der arme Crassus! Du meine Güte!"


    "Hallo, meine Burschen"
    , rief Fossilius.
    "Feierabend heute. Saturnalia, Crassus! Saturnalia, Ebonisius! Schließt die Bücher, schnell! Ehe einer Caius Iulius sagen kann."
    So rief der alte Fossilius, munter die Hände zusammenschlagend.
    Eine Schar Sklaven eilte herbei und alle begaben sich in das Atrium. Aufbauen! Es gab nichts, was sie nicht aufbauen wollten oder aufbauen konnten, wenn der alte Fossilius zusah. Es war in einer Minute geschehen. Alles, was für ein Fest notwendig war, wurde an seinen Platz geschoben, als sei es dort gestanden; der Boden wurde gekehrt und gesprengt, die Öllampen geputzt, Kohlen in die Becken geschüttet, und das Atrium war so behaglich, so warm und hell wie eine Exedra und wie man es nur an einem Winterabend verlangen konnte.


    Jetzt trat ein Flötenspieiler herein, Dann kam Fossilius Gattin, ein einziges behagliches Lächeln. Dann kamen die drei Fossiliae, ihre Töchter, freudestrahlend und liebenswürdig. Dann kamen die sechs Jünglinge, deren Herzen sie brachen. Dann kamen die Sklaven und Mägde, die im Haus einen Dienst hatten: die Vestiaria mit ihrem Vetter, dem Custos Corporis, die Köchin mit ihres Bruders vertrautem Freund, dem Boten. Dann kam der Sklave von gegenüber, von dem man sagte, er habe bei seinem Herrn knappe Kost; er versuchte, sich hinter dem Mädchen aus dem Nachbarhaus zu verstecken, der man nachwies, sie sei von ihrer Herrschaft an den Ohren gezogen worden. Sie kamen alle, einer nach dem andern; einige schüchtern, andere keck, einige mit Geschick, andere mit Ungeschick, die zerrend und jene stoßend. Dann ging es los, zwei Reihen gegenüber, eine halbe Runde hin und zurück, dann die Mitte des Zimmers hinauf und wieder herab, dann in zärtlichen Gruppen sich drehend: die ersten immer an der falschen Stelle, die folgenden immer zur falschen Zeit, bis alle erste waren und kein einziger mehr der letzte. Als sie so weit gekommen waren, klatschte der alte Fossilius zum Zeichen, daß der Tanz aus sei, in die Hände und rief
    "Bene!"
    , und der Flötenspieler senkte sein glühendes Gesicht in einen Krug Wein, der besonders zu diesem Zweck neben ihm stand. Aber kaum war er wieder heraus, als er, obgleich noch keine Tänzer dastanden, wieder aufzuspielen begann, als sei der alte Flötenspieler erschöpft nach Hause getragen worden und er ein ganz frischer, entschlossen, den alten vergessen zu machen oder zu sterben.


    Dann folgten noch mehrere Tänze und Glücksspiele und Spottverse. Dann kam Kuchen und Negus und ein großes Stück kalter Braten, und dann ein großes Stück kaltes Siedfleisch und Fleischpasteten und viel Wein.


    Irgendwann war diese häusliche Feier zu Ende. Fossilius und seine Gattin stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf, schüttelten jedem einzelnen der Gäste die Hand zum Abschied und wünschten ihm oder ihr fröhliche Saturnalien.
    Als alles, außer den zwei Tirones, fort war, wünschten sie diesen das gleiche. So waren die heiteren Stimmen verklungen, und die Burschen gingen in ihr Bett.


    Während dieser ganzen Zeit hatte er sich wie ein Verrückter benommen. Sein Herz und seine Seele waren bei dem Fest und seinem früheren Selbst. Er bestätigte alles, erinnerte sich an alles, freute sich über alles und befand sich in der seltsamsten Aufregung. Nicht eher als bis die fröhlichen Gesichter seines früheren Selbst und das Antlitz Crassus' verschwunden waren, dachte er daran, daß der Geist neben ihm stand und ihn anschaute, während das Licht auf seinem Haupt in voller Klarheit brannte.
    "Eine Kleinigkeit war's doch"
    , meinte der Geist,
    "diesen närrischen Leuten solche Dankbarkeit einzuflößen."
    "Eine Kleinigkeit!"
    , gab er zurück.
    Der Geist bedeutete ihm, den beiden Tirones zuzuhören, die sich gegenseitig mit Lobpreisungen Fossilius' überboten; und als er das getan hatte, sprach der Geist:
    "Nun, ist es nicht so? Er hat nur ein paar Sesterzen irdischen Mammons hingegeben; vielleicht dreihundert oder vierhundert. Ist das so der Rede wert, daß er solches Lob verdient?"
    "Das ist's nicht"
    , sagte er, von dieser Bemerkung gereizt und wie sein früheres, nicht wie sein jetziges Selbst sprechend.
    "Das ist's nicht, Geist. Er hat die Macht, uns glücklich oder unglücklich, unsern Dienst zu einer Lust oder zu einer Bürde, zu einer Freude oder zu einer Qual zu machen. Du magst sagen, seine Macht liege in Worten und Blicken, in so unbedeutenden und kleinen Dingen, daß es unmöglich ist, sie herzuzählen: was schadet das? Das Glück, das er bereitet, ist so groß, als wenn es sein ganzes Vermögen kostete."
    Er fühlte des Geistes Blick und schwieg.
    "Was gibt's?"
    , fragte der Geist.
    "Nichts, nichts"
    , sagte er.
    "Aber doch etwas, wie?"
    , drängte der Geist.
    "Nein"
    , sagte er,
    "nein. Ich möchte nur eben jetzt ein paar Worte mit meinem Sklaven sprechen. Das ist alles."
    Ein Sklave löschte gerade die Lampen aus, als er diesen Wunsch aussprach, und er und der Geist standen wieder im Freien.
    "Meine Zeit geht zu Ende"
    , sagte der Geist.
    "Schnell!"


    ~~~

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Dieses letzte Wort war nicht zu ihm oder zu jemand, den er sehen konnte, gesprochen, aber es wirkte sofort. Denn wieder sah er sich selbst. Er war jetzt älter geworden –. ein Mann in der Blüte seiner Jahre. Sein Gesicht hatte noch nicht die schroffen, rauhen Züge seiner späteren Jahre, aber schon begann es Anzeichen der Sorge und des Geizes anzunehmen. In seinem Auge brannte ein ruheloses, habsüchtiges Feuer, das Zeugnis gab von der Leidenschaft, die dort Wurzeln geschlagen hatte, und zeigte, wohin der Schatten des wachsenden Baumes fallen würde.
    Er war nicht allein, sondern saß neben einem schönen jungen Mädchen in Trauerkleidern. In ihren Augen standen Tränen, die in dem Licht glänzten, das von dem Geist vergangener Saturnalien ausströmte.
    "Es ist ohne Bedeutung"
    , sagte sie sanft,
    "und für Dich von gar keiner. Eine andere Göttin hat mich verdrängt; und wenn es Dich in späterer Zeit trösten und aufrecht erhalten kann, wie ich es versucht hätte, so habe ich keine Ursache zu klagen."
    "Welche Göttin hätte Dich verdrängt?"
    , erwiderte er.
    "Ein goldenes."
    "Dies ist die Gerechtigkeit der Welt!"
    , sagte der Jüngling.
    "Gegen nichts ist sie so hart als gegen die Armut; und nichts tadelt sie unnachsichtiger als das Streben nach Reichtum."
    "Du fürchtest das Urteil der Welt zu sehr"
    , antwortete sie sanft.
    "Alle Deine andern Hoffnungen sind in der einen aufgegangen, vor diesem engherzigen Vorwurf gesichert zu sein. Ich habe Deine edleren Bestrebungen eine nach der andern verschwinden sehen, bis Dich ganz die eine Leidenschaft, die Gier nach Gold, erfüllte. Ist es nicht so?"
    "Und wenn es so wäre?"
    , antwortete der Jüngling.
    "Wenn ich soviel klüger geworden wäre, was dann? Gegen Dich bin ich nie anders geworden."
    Sie schüttelte den Kopf.
    "Bin ich anders?"
    "Unser Bund ist alt. Er wurde geschlossen, als wir beide arm und zufrieden waren, unser Los durch ausdauernden Fleiß verbessern zu können. Du hast dich aber verändert! Damals, als er geschlossen wurde, warst Du ein anderer Mensch."
    "Ich war ein Knabe"
    , sagte der Jüngling ungeduldig.
    "Dein eigenes Gefühl sagt Dir, daß Du nicht so warst, wie Du jetzt bist"
    , antwortete sie.
    "Ich bin noch dieselbe. Das, was uns Glück versprach, als wir noch ein Herz und eine Seele waren, muss uns Unglück bringen, da wir im Geiste nicht mehr eins sind. Wie oft ich und wie bitter dies gefühlt habe, will ich nicht sagen; es ist genug, dass ich es gefühlt habe und dass ich Dir Dein Wort zurückgeben kann."
    "Habe ich dies jemals verlangt?"
    "In Worten? Nein. Niemals."
    "Wie dann?"
    "Durch ein verändertes Wesen, durch einen andern Sinn, durch andere Bestrebungen im Leben und durch andere Hoffnungen – in allem, was meiner Liebe in Deinen Augen Wert gab. Wenn alles Frühere nicht zwischen uns geschehen wäre"
    , sagte das Mädchen, ihn mit sanftem, aber festem Blicke ansehend,
    "würdest Du mich jetzt aufsuchen und um mich werben? Gewiß nicht!"
    Er schien die Wahrheit ihrer Worte wider seinen Willen zuzugeben. Aber er tat seinen Gefühlen Gewalt an und sagte:
    "Du glaubst nicht?"
    "Gern glaubte ich es, wenn ich könnte"
    , sagte sie,
    "Venus weiß es. Wenn ich eine Wahrheit wie diese erkannt habe, weiß ich, wie unwiderstehlich sie sein muss. Aber soll ich glauben, daß Du ein armes Mädchen wählen würdest, wenn Du heute oder morgen oder gestern frei wärst, Du, der selbst in den vertrautesten Stunden alles nach dem Gewinn misst? Oder soll ich mir verhehlen, daß Du gewiß einst dich getäuscht und bittere Reue fühlen würdest, weil Du für einen Augenblick Deinem einzigen leitenden Grundsatz untreu wirst? Nein, und deswegen gebe ich Dir Dein Wort zurück: willig und um der Liebe dessentwillen der Du einst warst."
    Er wollte sprechen, aber mit abgewendetem Gesicht fuhr sie fort:
    "Vielleicht – der Gedanke an die Vergangenheit läßt es mich fast hoffen – wird es Dich schmerzen. Eine kurze, sehr kurze Zeit, und Du wirst dann die Erinnerung daran fallenlassen, wie die Gedanken an einen nichtigen Traum, aus dem zu erwachen ein Glück für Dich war. Möge Dich Fortuna auf dem gewählten Lebensweg begleiten!"


    Sie schieden.
    "Geist"
    , sagte er,
    "zeig mir nichts mehr, führ mich nach Hause. Warum erfreust du dich daran, mich zu quälen?"
    "Noch einen Schatten"
    , rief der Geist aus.
    "Nein"
    , rief er.
    "Nein. Ich mag nichts mehr sehen. Zeig mir nichts mehr."


    ~~~


    Manius Minor erwachte und verspürte Tränen auf seinen feisten Wangen, doch erkannte, dass er in seinem wohligen Bette in seinem Cubiculum befand. Noch immer umlagerte die Remineszenz seines Traumes seinen Geist und perturbiert fixierte der Jüngling die Decke.
    Welch ein abstruser Traum es doch war gewesen: Er einer jener Geldverleiher, wie sie so zahlreich auf den Stufen der Basilica Iulia Tag für Tag ihre Tische aufschlugen, zerfressen von der Gier nach schnödem Mammon und somit eine vollendete Dystopie epikureischer Lebenskunst, eines tagtäglich vom Schmerz der Habgier Geplagten, der mit jedem Sesterzen, welchen er erwirtschaftete, für einen Augenschlag die Lust mochte verspüren, welche doch rasch dem Leiden größerer Begierde wich!
    Grotest erschien hingegen auch jener mysteriöse Geist, welcher ihn, respektive jenen gierigen Geldverleiher, durch seine Historie hatte geleitet.
    Der Geist der vergangenen Saturnalien...
    "Humbug."
    , kommentierte der junge Flavius und wischte sich die Tränen aus den Augen, wälzte sich kurz in seinem Bett und entglitt neuerlich in die Welt der Träume...

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Er erwachte mitten in einem tüchtigen Geschnarche und setzte sich im Bett auf, um seine Gedanken zu sammeln. Diesmal hatte niemand nötig, ihm zu sagen, daß es gerade Nacht sei. Er fühlte, daß er just zu der rechten Zeit und zu dem ausdrücklichen Zweck erwacht sei, um eine Zusammenkunft mit dem zweiten Boten zu haben.
    Eben weil er beinahe auf alles gefaßt war, war er nicht vorbereitet, nichts zu sehen; und daher überfiel ihn ein heftiges Zittern, als keine Gestalt erschien. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde vergingen, aber es kam nichts. Die ganze Zeit über lag er auf seinem Bett, dem Kern und Mittelpunkt eines rötlichen Lichtes, das sich darüber ergoß, als er erwacht war, und das, weil es nur Licht war, viel beunruhigender als ein Dutzend Geister war, da es ihn unmöglich erraten ließ, was es bedeute oder was es wolle. Endlich jedoch fing er an zu begreifen, daß die Quelle dieses geisterhaften Lichtes wohl in dem anliegenden Zimmer sei, aus dem es bei näherer Betrachtung zu strömen schien. Wie dieser Gedanke die Herrschaft über seine Seele bekommen hatte, stand er leise auf und schlich in den Crepida nach der Tür.
    In demselben Augenblick, wo sich seine Hand auf die Klinke legte, rief ihn eine fremde Stimme beim Namen und hieß ihn eintreten. Er gehorchte.


    Es war sein eigenes Zimmer. Daran ließ sich nicht zweifeln. Aber eine wunderbare Umwandlung war mit ihm vorgegangen. Wände und Decke waren ganz mit grünen Zweigen bedeckt, daß es aussah wie eine Laube, in der überall glänzende Beeren schimmerten. Die glänzenden, starren Blätter des Lorbeers warfen das Licht zurück und erschienen wie ebenso viele kleine Spiegel. Auf dem Fußboden waren zu einer Art von Thron Spanferkel, Kekse, Cerei und Sigillaria aufgehäuft, die das Zimmer mit köstlichem Geruch erfüllten. Auf diesem Thron saß behaglich und mit fröhlichem Angesicht ein Riese, gar herrlich anzuschauen. In der Hand trug er eine brennende Fackel, fast wie ein Füllhorn gestaltet, und hielt sie steil in die Höhe, um ihn damit zu beleuchten, wie er in das Zimmer guckte.
    "Nur herein"
    , rief der Geist.
    "Nur herein, und lerne mich besser kennen."
    Er trat schüchtern ein und senkte das Haupt vor dem Geiste. – Er war nicht mehr die hartfühlende, nichtsscheuende Person von früher, und obgleich des Geistes Augen hell und mild glänzten, wünschte er ihnen doch nicht zu begegnen.
    "Ich bin der Geist der diesjährigen Saturnalia"
    , sagte die Gestalt.
    "Sieh mich an."
    Er tat es mit ehrfurchtsvollem Blick. Der Geist war gekleidet in ein einfaches, dunkelgrünes Gewand, mit weißem Pelz verbrämt. Die breite Brust war entblößt, als verschmähe sie, sich zu verstecken. Auch die Füße waren bloß und schauten unter den weiten Falten des Gewandes hervor; und das Haupt hatte keine andere Bedeckung, als einen Pileus. Seine dunkelbraunen Locken wallten fessellos auf die Schultern. Sein munteres Gesicht, sein glänzendes Auge, seine fröhliche Stimme, sein ungezwungenes Benehmen, alles sprach von Offenheit und heiterem Sinn.
    "Du hast meinesgleichen nie vorher gesehen"
    , rief der Geist.
    "Niemals"
    , entgegnete er.
    "Hast dich nie mit den jüngern Gliedern meiner Familie abgegeben; ich meine meine älteren Brüder, die in den vergangenen Jahren geboren worden sind?"
    , fuhr das Phantom fort.
    "Ich glaube nicht"
    , sagte er.
    "Doch es tut mir leid, es nicht getan zu haben. Hast du viele Brüder gehabt, Geist?"
    "Mehr als sechshundert"
    , sagte dieser.
    "Eine schrecklich große Familie, wenn man für sie zu sorgen hat"
    , murmelte er.
    Der Geist der diesjährigen Saturnalia erhob sich.
    "Geist"
    , sagte er demütig,
    "führe mich, wohin du willst. Gestern Nacht wurde ich durch Zwang hinausgeführt und mir wurde eine Lehre gegeben, die jetzt Wirkung zeigt. Heute bin ich bereit zu folgen, und wenn du mich etwas zu lehren hast, will ich gern hören."
    "Berühre denn mein Gewand."
    Er tat wie ihm geheißen und hielt es fest.


    ~~~

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Kekse, Cerei und Sigillaria, alles verschwand blitzschnell. Auch das Zimmer verschwand, der rötliche Schimmer, die nächtliche Stunde, und sie standen in den Straßen der Stadt, am Morgen des Saturnalientages, wo die Leute – denn es war sehr kalt – eine rauhe, aber fröhliche und nicht unangenehme Musik machten, indem sie den Schnee von dem Straßenpflaster und den Dächern der Häuser zusammenfegten. Und daneben standen die Kinder und freuten sich und kreischten, wenn die Schneelawinen von den Dächern herunterstürzten und in künstliche Schneestürme zerstoben.
    Die Häuser erschienen schwarz und die Fensterläden noch schwärzer, verglichen mit der faltenlosen, weißen Schneedecke auf den Dächern und dem schmutzigeren Schnee auf den Straßen. Dort war er von den schweren Rädern der Wagen und Karren in tiefe Furchen gepflügt; Furchen, die sich hundert- und aberhundertmal kreuzten, wo eine Straße abging, und die in dem dicken, gelben Schmutz und halberstarrten Wasser labyrinthische Gerinnsel bildeten. Der Himmel war trübe, und selbst die kürzesten Straßen schienen sich in einem dicken Nebel zu verlieren. Es war in der ganzen Umgebung nichts Heiteres, und doch lag etwas in der Luft, was die klarste Sommerluft und die hellste Sommersonne nicht hätten verbreiten können.
    Denn die Leute, die den Schnee beiseite schaufelten, waren lustig und mutwilliger Laune. Sie riefen einander zu und wechselten dann und wann einen Schneeball – ein Pfeil, der harmloser war als manches Wort – und lachten herzlich, wenn er traf, und nicht minder herzlich, wenn er fehlging. Die Läden der Geflügelhändler waren noch halb offen und die der Fruchthändler strahlten in heller Freude. Da sah man – als wären es Togae lustiger alter Herren – große runde, dickbäuchige Körbe mit Früchten an den Türen lehnen oder in ihrem apoplektischen Überfluß auf die Straße rollen. Da sah man Birnen und Äpfel zu Pyramiden aufeinandergepackt: Trauben, die der Kaufmann in seiner Gutmütigkeit recht augenfällig im Gewölbe hängen ließ, daß den Vorübergehenden der Mund gratis wässerte, Haufen von Haselnüssen, bemoost und braun, mit ihrem frischen Duft an vergangene Streifzüge im Wald durch das raschelnde, fußhohe, welke Laub erinnernd.


    Sie gingen weiter in die Stadt, unsichtbar wie bisher. Es war eine wunderbare Eigenschaft des Geistes, dass er, bei seiner riesenhaften Gestalt, doch überall leicht Platz fand, und daß er unter einem niedrigen Dach ebenso schön und gleich einem übernatürlichen Wesen dastand, wie in einem geräumigen, hohen Saal.
    Vielleicht war es die Freude, die der gute Geist darin fühlte, diese Macht zu zeigen, vielleicht auch seine warmherzige, freundliche Natur und seine Teilnahme mit allen Armen, was ihn gerade ins Servitricium der Domus Ebonisia führte: denn er ging wirklich hin und nahm ihn mit, der sich an seinem Gewand festhielt. Auf der Schwelle stand der Geist lächelnd still und segnete die armselige Unterkunft mit dem Tau seiner Fackel.


    Im Zimmer stand die Coquina in einem ärmlichen, zweimal gewendeten Kleid, schön aufgeputzt mit Bändern, die billig sind, aber für sechs Pence hübsch genug aussehen. Sie deckte den Tisch, und die Magd half ihr dabei, während der Ianitor mit der Gabel in eine Schüssel voll Getreidebrei stach und den Saum seiner besten Tunica in den Mund nahm, voller Stolz, so schön angezogen zu sein, und voll Sehnsucht, seine neue Tunica auf der Straße zur Schau zu tragen. Jetzt kamen die zwei kleinen Vernae, ein Mädchen und ein Knabe, hereingesprungen und schrien, daß sie an des Bäckers Tür das gebratene Schwein gerochen und gewußt hätten, es sei ihre eigene, und in freudigen Träumen von Salbei und Zwiebeln tanzten sie um den Tisch und erhoben den Ianitor bis in den Himmel, während er (aber gar nicht stolz, obgleich ihn die Tunica fast erstickte) in das Feuer blies, bis der Brei hochquoll und an den Topfdeckel klopfte.
    "Wo nur Jakobus bleibt?"
    , fragte die Coquina.
    "Und der kleine Titus Minor."
    Jetzt trat Jakobus herein, der Vilicus und Scriba Personalis des Hausherrn zugleich. Wenigstens drei Fuß, ungerechnet der Fransen, hing der Schal auf seine Brust herab, und die abgetragenen Kleider waren geflickt und gebürstet, um ihnen ein Ansehen zu geben. Titus Minor saß auf seiner Schulter. Der arme Titus Minor! Er trug eine kleine Krücke und wirkte recht schwächlich.
    "Und wie hat sich Titus Minor aufgeführt?"
    , fragte die Coquina schließlich.
    "Wie ein Goldkind"
    , sagte Jakobus und seine Stimme zitterte, als er hinzufügte, daß Titus Minor stärker und gesünder werden würde.
    Man hörte jetzt seine kleine Krücke auf dem Fußboden, und ehe noch mehr gesprochen ward, war Titus da und wurde von seinem Bruder und seiner Schwester nach seinem Stuhl neben dem Feuer geführt. Während jetzt Jakobus, in einer Schüssel einen heißen Würzwein zubereitete und ihn umrührte und wieder an das Feuer setzte, damit sie sich warm halte, gingen der Ianitor und die zwei allgegenwärtigen kleinen Vernae das Schwein holen, mit der sie bald in feierlichem Zug zurückkehrten.


    Daraufhin erhob sich ein solcher Lärm, als wäre ein Schwein das seltenste aller Tiere, ein Wunder, gegen das ein lilanes Rind etwas ganz Gewöhnliches ist – und wirklich war es es auch in diesem Hause. Die Coquina ließ die Bratenbrühe aufwallen, der Ianitor schmorte den Brei mit unglaublichem Eifer, Marcia wischte die gewärmten Schüsseln ab, Jakobus nahm Titus Minor neben sich in eine behagliche Ecke am Tisch, die beiden kleinen Vernae stellten die Stühle zurecht, wobei sie sich nicht vergaßen, und nahmen ihren Posten ein, den Löffel in den Mund steckend, um nicht nach Schwein zu schreien, ehe die Reihe an sie kam. Endlich wurde das Gericht aufgetragen und das Trankopfer vollführt. Darauf folgte eine atemlose Pause, als die Coquina das Vorschneidemesser langsam von der Spitze bis zum Heft betrachtete und sich anschickte, es dem Schwein in den Rücken zu stoßen. Aber, als sie es tat und sich der langerwartete Strom der Füllung ergoß, ertönte um den ganzen Tisch ein freudiges Gemurmel, und selbst Titus Minor, durch die beiden kleinen Vernae in Feuer gebracht, schlug mit dem Heft seines Messers auf den Tisch und rief ein schwaches Hurra.


    Nie hatte es so ein Schwein gegeben. Jakobus sagte, er glaube nicht, dass jemals ein solches Schwein gebraten worden sei. Seine Zartheit und sein Fett, seine Größe und seine Billigkeit waren der Gegenstand allgemeiner Bewunderung. Mit Hilfe der Apfelsauce und des Breis gab es ein hinreichendes Mahl für die ganze Familie. Und als die Coquina einen einzigen kleinen Knochen noch auf der Schüssel liegen sah, sagte sie mit großer Freude, sie hätten doch nicht alles aufgegessen! Aber jeder von ihnen hatte genug, und die kleinen Vernae waren bis an die Augenbrauen mit Salbei und Zwiebeln eingesalbt.


    Endlich waren sie mit dem Essen fertig, der Tisch war abgedeckt, der Herd gesäubert und das Feuer geschürt. Das Gemisch im Krug wurde gekostet und für fertig erklärt, Äpfel und Birnen auf den Tisch gesetzt. Dann setzte sich die ganze Familia Servorum um die Feuerstelle in einem Kreis, wie es Jakobus nannte, obgleich es eigentlich nur ein Halbkreis war.
    "Uns allen fröhliche Saturnalia, meine Lieben! Möge Saturnus uns segnen!"
    Die ganze Familia wiederholte den Toast.
    "Saturnus segne jeden von uns!"
    , sagte Titus Minor, der letzte von allen.
    Er saß dicht neben dem Vater auf seinem Stühlchen, Jakobus hielt seine kleine welke Hand in der seinigen, als ob er das Kind liebte und wünschte, es bei sich zu behalten, aber fürchte, es könnte ihm bald genommen werden.


    "Geist"
    , sprach er mit einer Teilnahme, wie er sie noch nie empfunden hatte,
    "sag mir, wird Titus Minor am Leben bleiben?"
    "Ich sehe einen leeren Stuhl in der Kaminecke"
    , antwortete der Geist,
    "und eine Krücke ohne Besitzer, sorgfältig aufbewahrt. Wenn die Zukunft diese Schatten nicht ändert, wird das Kind sterben."
    "Nein, nein"
    , drängte er.
    "Ach nein, guter Geist, sag, daß es am Leben bleiben wird."
    "Wenn die Zukunft diese Schatten nicht verändert"
    , antwortete der Geist abermals,
    "wird kein anderer meines Geschlechtes das Kind noch hier finden. Was tut es auch? Wenn es sterben muß, ist es besser, es tue es gleich und vermindere die überflüssige Bevölkerung."
    Er senkte das Haupt und fühlte sich überwältigt von Reue und Schmerz.


    "Es lebe der Dominus!"
    , sagte Jakobus,
    "Ebonisius, der Schöpfer dieses Festes!"
    "Der Schöpfer dieses Festes, wahrhaftig!"
    , rief die Coquina mit glühendem Gesicht.
    "Ich wollte, ich hätte ihn hier. Ich wollte ihm ein Stück von meiner Meinung zu kosten geben, und ich hoffe, sie würde ihm schmecken."
    "Liebe Frau"
    , sagte Jakobus beschwichtigend,
    "die anderen! – Es sind Saturnalia."
    "Freilich müssen Saturnalia sein"
    , sagte sie,
    "wenn man auf die Gesundheit eines so niederträchtigen, geizigen, fühllosen Menschen, wie Ebonisius ist, trinken kann. Und du weißt es, Jakobus, dass er so ist, niemand weiß es besser als du!"
    "Liebe Frau"
    , antwortete Jakobus mild,
    "es sind Saturnalia."
    "Ich will auf seine Gesundheit trinken, dir und dem Feste zu Gefallen,"
    , sagte die Coquina,
    "nicht seinetwegen. Möge er lange leben! Io Saturnalia und ein glückliches neues Jahr! – Er wird sehr fröhlich und sehr glücklich sein, das glaub ich."
    Die übrigen Sklaven tranken nach ihr. Es war das erste, was sie an diesem Abend ohne Herzlichkeit und Wärme taten. Titus Minor trank zuletzt, aber er gab keinen Pfifferling darum. Ebonisius war das Schreckbild der Sklaven. Die Erwähnung seines Namens warf über alle einen düsteren Schatten, der volle fünf Minuten zum Verschwinden brauchte.


    Als er weg war, waren sie zehnmal lustiger als vorher, schon weil sie Ebonisius los waren, den Schrecklichen. Alle redeten und erzählten und zwischendurch kreiste der Würzwein. In alledem war nichts Besonderes. Es waren keine hübschen Gesichter in der Familia; sie waren nicht schön angezogen, ihre Sandalen waren nichts weniger als wetterfest, ihre Kleider waren ärmlich. Aber sie waren glücklich, voller Dank für ihre bescheidenen Freuden, einig untereinander und zufrieden: und als ihre Gestalten verblichen und in dem scheidenden Lichte der Fackel des Geistes noch glücklicher aussahen, verweilten seine Auge immer noch auf ihnen und hing vor allem an Titus Minor.


    Es war jetzt ganz dunkel geworden, und es fiel ein starker Schnee; und als er und der Geist durch die Straßen gingen, leuchtete der Glanz der lodernden Feuer in Küchen, Putzstuben und Gemächern aller Art über alle Maßen wundervoll. Hier zeigte die flackernde Flamme die Vorbereitungen zu einem traulichen Mahl, die heißen Teller, wie sie sich vor dem Feuer durch und durch wärmten, und die dunkelroten Gardinen, bereit, Kälte und Nacht auszuschließen. Dort liefen alle Kinder des Hauses auf die verschneite Straße hinaus, ihren verheirateten Schwestern, Brüdern, Vettern, Basen, Onkeln und Tanten entgegen, um sie zuerst zu begrüßen. Hier zeigten sich an den Fenstern Schatten versammelter Gäste; dort eine Gruppe hübscher Mädchen in Pelzmänteln, alle zugleich redend und mit leichten Schritten in eines Nachbars Haus eilend. Wehe dem Junggesellen, der sie dort strahlend eintreten sah – und sie wußten es, die durchtriebenen kleinen Hexen!


    Wenn man nach der Zahl der Leute hätte urteilen wollen, die zu freundschaftlichen Besuchen eilten, hätte man glauben mögen, es sei niemand da, sie zu bewillkommnen. Aber statt dessen erwartete jedes Haus Gäste und in jedem Kamin loderte die Flamme. Wie sich der Geist freute! Wie er seine breite Brust entblößte und seine volle Hand auftat und dahinschwebte, freigebig seine heitere und harmlose Fröhlichkeit über alles in seinem Bereich ausschüttend!


    ~~~

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Und jetzt, ohne daß vorher der Geist etwas gesagt hätte, standen sie auf einer kahlen, öden Heide, wo ungeheure Felsblöcke verstreut lagen, als wäre hier eine Begräbnisstätte von Riesen. Und Wasser breitete sich aus, wo es nur Lust hatte – oder es hätte sich ausgebreitet, wenn es der Frost nicht gefangengehalten hätte; und nichts wuchs dort als Moos und Gestrüpp und hartes, spitzes Gras. Tief im Westen hatte die untergehende Sonne einen Streifen glühenden Rots gelassen, der einen Augenblick auf die öde Steppe niedertauchte, wie ein zürnendes Auge, und immer tiefer und tiefer sank, bis er sich im Dunkel der tiefsten Nacht verlor.
    "Was ist das für ein Ort?"
    , fragte er.
    "Ein Ort, wo das Imperium an das Barbaricum grenzt"
    , antwortete der Geist.
    "Aber sie kennen mich. Sieh!"
    Ein Licht strahlte aus dem Fenster einer Turmes, und sie schwebten schnell darauf zu. Hier fanden sie eine fröhliche Gesellschaft um einen wärmenden Ofen sitzen: ein alter, vielschrötiger Veteran und drei jüngere Rekruten, alle in den festlichsten Kleidern, der Beutel eines Soldaten hergab. Der Alte sang ein Saturnalienlied mit einer Stimme, die nur selten das Heulen des Windes auf der Einöde übertönte; es war schon ein sehr altes Lied gewesen, als er noch ein Knabe war; und von Zeit zu Zeit fielen sie alle im Chor ein. Und stets, wenn ihre Stimmen ertönten, wurde der Alte lebendig und laut; und immer, wenn sie aufhörten, sank seine Kraft wieder. Der Geist verweilte hier nicht, sondern befahl, sich an seinem Gewand zu halten. Sie schwebten über die Öde, aber wohin?


    Eine große Überraschung war es für ihn - während er dem Stöhnen des Windes lauschte und darüber nachdachte, wie es doch schauerlich sei, durch die öde Nacht über einen unbekannten Abgrund dahinzugleiten, der Geheimnisse barg, so tief wie der Tod - eine große Überraschung war es für ihn, plötzlich ein herzliches Lachen zu vernehmen. Noch größer war seine Überraschung, als er darin das Lachen seines eigenen Neffen erkannte und sich in einem hellen, behaglich warmen Zimmer wiederfand, während der Geist an seiner Seite stand und mit beifälligem, mildem Lächeln auf diesen Neffen herabblickte.
    "Haha!"
    , lachte sein Neffe.
    "Hahaha!"
    Als sein Neffe lachte und sich den Bauch hielt und mit dem Kopf wackelte und die allermerkwürdigsten Gesichter schnitt, lachte seine Nichte so herzlich wie er. Und die versammelten Freunde, nicht faul, fielen in den Lachchor ein.
    "Haha! Haha! Haha!"
    "Er sagte, die Saturnalia seien dummes Zeug, so wahr ich lebe"
    , rief sein Neffe.
    "Und er glaubt es auch."
    "Die Schande ist um so größer für ihn, Furius"
    , sagte seine Nichte entrüstet. Iuno segne die Frauen! Sie tun nie etwas halb. Sie sind immer in vollem Ernst.
    Sie war hübsch, sehr hübsch. Sie hatte ein liebliches, schelmisches Gesicht, einen frischen vollen Mund, der zum Küssen gemacht schien – wie er es ohne Zweifel auch war; alle Arten lieber kleiner Grübchen um das Kinn, die ineinanderflossen, wenn sie lachte, und das sonnenhellste Paar Augen, das je erblickt werden konnte. Ja, sie war reizend, liebenswürdig, bezaubernd.
    »Er ist ein komischer alter Herr"
    , sagte sein Neffe,
    "das ist wahr, und nicht so angenehm, wie er sein könnte. Doch seine Fehler bestrafen nur ihn selbst, und ich habe keinen Grund, etwas gegen ihn zu sagen."
    "Er muß doch sehr reich sein, Furius"
    , meinte seine Nichte.
    "Wenigstens sagst du es immer."
    "Und wenn schon, Liebste!"
    , sprach sein Neffe.
    "Sein Reichtum nützt ihm nichts. Er tut nichts Gutes damit. Er macht sich selbst nicht einmal das Leben damit angenehm. Er hat nicht einmal das Vergnügen zu denken – hahaha –, daß er uns am Ende damit eine Freude machen wird."
    "Ich habe keine Geduld mit ihm"
    , bemerkte seine Nichte. Die Schwester seiner Nichte und alle die andern Damen waren derselben Meinung.
    "Oh, ich habe Geduld"
    , sagte sein Neffe.
    "Mir tut er leid; ich könnte nicht böse auf ihn werden, selbst wenn ich's versuchte. Wer leidet unter seiner bösen Laune? Er selber allein, sonst niemand. Jetzt hat er sich's in den Kopf gesetzt, uns nicht leiden zu können, und will unsere Einladung zum Mittagessen nicht annehmen. Was ist die Folge davon? Er verliert nicht viel an unserm Essen."
    "Nun, ich meine, er verliert ein sehr gutes Essen"
    , unterbrach ihn seine Frau. Die andern sagten dasselbe, und man konnte ihr Urteil darüber nicht bestreiten, weil sie eben zu essen aufgehört hatten und jetzt mit dem Dessert bei Lampenlicht um ein Kohlebecken saßen.
    "Nun, es freut mich, das zu hören"
    , sagte sein Neffe.
    "Die Folge seines Mißfallens an uns und seiner Weigerung, mit uns fröhlich zu sein, die ist, dass er einige angenehme Augenblicke verliert, die ihm nichts schaden würden. Gewiß verliert er angenehmere Unterhaltung, als ihm seine eigenen Gedanken in seinem dumpfigen alten Kontor oder in seiner Wohnung bereiten. Ich versuche ihm jedes Jahr Gelegenheit dazu zu geben, mag es ihm nun gefallen oder nicht, denn er dauert mich. Er mag auf die Saturnalia schimpfen, bis er stirbt, aber er muß doch endlich besser davon denken, wenn er mich jedes Jahr in guter Laune zu ihm kommen sieht, mit den Worten: 'Onkel Ebonesius, wie geht es Dir?' – Wenn es ihm nur den Gedanken einflößt, seinem armen Scriba fünfzig Sesterzen zu hinterlassen, so ist das doch wenigstens etwas: und ich glaube, ich packte ihn gestern."
    Jetzt war an ihnen die Reihe zu lachen bei dem Gedanken, daß er den Alten gepackt hätte. Aber da er durch und durch gutmütig war und sich nicht viel darum kümmerte, worüber sie lachten, wenn sie überhaupt lachten, so stimmte er in ihre Fröhlichkeit mit ein und ließ die Flasche wacker herumgehen.


    Nach einer Welle fingen sie Glücksspiel an, denn es ist gut, zuweilen Kind zu sein, und vorzüglich zu den Saturnalia, da der Urheber dieses Festes selbst die kindliche Freude gebracht hatte. Auch in dem Spiel ›Wie, Wann und Wo‹ waren alle sehr tüchtig. Es mochten ungefähr zwanzig Personen da sein, junge und alte, aber sie spielten alle, und auch er selbst spielte mit; denn in seiner Teilnahme an den Vorgängen ganz vergessend, dass ihnen seine Stimme nicht hörbar war, gab er oft seine Antwort auf die Fragen ganz laut und riet auch oft ganz richtig.
    Dem Geist gefiel es sehr gut, ihn in dieser Laune zu sehen, und er blickte ihn so freundlich an, daß er ihn wie ein Knabe bat, noch warten zu dürfen, bis die Gäste fortgingen. Aber der Geist sagte, dies könne nicht geschehen.
    "Es fängt ein neues Spiel an"
    , sagte er.
    "Nur eine einzige halbe Stunde, Geist."


    Es war ein Spiel, das man 'Ja und Nein' nennt, wo sein Neffe sich etwas zu denken hatte und die anderen erraten mußten, was; auf ihre Fragen brauchte er dann nur mit Ja oder Nein zu antworten. Die schnell aufeinanderfolgenden Fragen, die ihm vorgelegt wurden, ergaben denn endlich, daß er sich ein Geschöpf dachte –. ein lebendiges Wesen, ein häßliches, wildes Geschöpf, das zuweilen brumme und zuweilen spreche und sich in London aufhalte und in den Straßen herumlaufe und nicht für Geld gezeigt und nicht herumgeführt werde und nicht in einem Amphitheater sei und nicht geschlachtet werde, und weder ein Pferd, noch ein Esel, noch eine Kuh, noch ein Ochs, noch ein Tiger, noch ein Hund, noch ein Schwein, noch eine Katze, noch ein Bär sei. Bei jeder neuen Frage, die ihm gestellt wurde, brach sein Neffe aufs neue in ein Gelächter aus und konnte gar nicht wieder herauskommen, so daß er von der Kline aufstehen und mit den Füßen stampfen mußte. Endlich rief die seine Nichte mit einem ebenso unauslöschlichen Gelächter:
    "Ich habe es, Furius, ich weiß es, ich weiß es."
    "Was ist es?"
    , rief Furius.
    "Es ist Onkel Ebonesius!"
    Und der war es auch. Verwunderung war das allgemeine Gefühl, obgleich einige meinten, die Frage: 'Ist es ein Bär?' hätte mit Ja beantwortet werden müssen, denn eine verneinende Antwort sei schon hinreichend gewesen, ihre Gedanken von ihrem Onkel abzubringen, selbst wenn sie auf dem Wege zu ihm gewesen wären.
    "Nun, er hat uns Freude genug gemacht"
    , sagte Furius,
    "und so wäre es undankbar, nicht auf seine Gesundheit zu trinken. Hier ist ein Glas Mulsum dazu bereit. Es lebe Onkel Ebonesius!"
    "Es lebe Onkel Ebonesius!"
    , stimmten alle ein.
    "Bona Saturnalia und ein glückliches Neujahr dem Alten, sei er, wie er wolle!"
    , sagte sein Neffe.
    "Er wollte meinen Wunsch nicht annehmen, aber er soll ihn dennoch haben."


    Ihm war es unmerklich so fröhlich und leicht zu Sinne geworden, daß er der von seiner Gegenwart nichts ahnenden Gesellschaft ihren Trinkspruch erwidert und mit einer unhörbaren Rede gedankt haben würde, hätte ihm der Geist Zeit dazu gelassen. Aber alles verschwand im Hauch vom letzten Wort des Neffen, und er und der Geist waren schon wieder unterwegs. Sie gingen weit und sahen viel und besuchten manchen Herd, aber immer spendeten sie Glück. Der Geist stand neben Kranken, und sie wurden heiter und hoffend; neben Wanderern in fernen Ländern, und sie träumten von der Heimat; neben solchen, die mit dem Leben rangen, und sie harrten geduldig aus; neben Armen, und sie wurden reich. Im Armenhaus und im Lazarett, im Kerker und in jedem Zufluchtsort des Elends, wo der Mensch in seiner kurzen ärmlichen Herrschaft dem Geiste die Tür verschlossen hatte, spendete er seinen Segen und lehrte ihn seine Weise.


    Es war eine lange Nacht, wenn es nur eine Nacht war; aber er zweifelte daran, denn die Saturnalia schienen in die Zeit, in der sie miteinander verrannen, zusammengedrängt zu sein. Es war auch sonderbar, daß der Geist offenbar älter wurde, während er äußerlich ganz unverändert blieb. Erhatte diese Veränderung zwar bemerkt, sprach aber nie davon, bis sie von einer Kinderschar weggingen, wo er bemerkte, daß des Geistes Haar schnell grau geworden war.
    "Ist das Leben der Geister so kurz?"
    , fragte er.
    "Mein Leben ist sehr kurz auf dieser Erde"
    , sagte der Geist,
    "es endet noch in dieser Nacht."
    "In dieser Nacht noch!"
    , rief er.
    "Heute um Mitternacht. Die Zeit nahet schon."
    "Vergib mir, wenn ich nicht recht tue, zu fragen"
    , sagte er jetzt, scharf auf des Geistes Gewand blickend,
    "aber ich sehe etwas Seltsames unter deinem Mantel hervorblicken, was nicht zu dir zu gehören scheint. Ist es ein Fuß oder eine Klaue?"
    "Nach dem wenigen Fleisch, was darauf sitzt, könnte es schon eine Klaue sein"
    , gab der Geist traurig zur Antwort, und fuhr fort:
    "Sieh hier!"
    Aus den weiten Falten seines Gewandes hervor erschienen jetzt zwei Kinder, elend, abgemagert, häßlich und mitleiderregend. Sie knieten vor dem Geiste nieder und hielten sich festgeklammert an dem Saum seines Gewandes.
    "O Mensch, sieh hier"
    , rief der Geist.
    "Sieh hier, sieh hier!"


    Es war ein Knabe und ein Mädchen. Fahlen Gesichtes, elend, zerlumpt und mit wildem, tückischem Blicke; aber doch auch ängstlich und gedrückt in ihrer Demut. Wo die Schönheit der Jugend ihre Züge hätte durchleuchten und mit ihren frischesten Farben kleiden sollen, hatte sie eine runzlige, abgelebte Hand, gleich der des Alters, berührt und versehrt. Wo Laren hätten thronen können, lauerten Lemuren mit grimmigem, drohendem Blick.
    Entsetzt fuhr er zurück. Da sie ihm der Geist auf solche Weise gezeigt hatte, versuchte er zu sagen, es wären schöne Kinder, aber die Worte erstickten ihm von selber, um nicht teilzuhaben an einer so ungeheuren Lüge.
    "Geist, sind das deine Kinder?"
    Weiter konnte er nichts sagen.
    "Es sind des Menschen Kinder"
    , erwiderte der Geist, auf sie herabschauend.
    "Und sie hängen sich an mich, vor mir ihre Väter anklagend. Dieses Mädchen ist die Unwissenheit. Dieser Knabe ist der Mangel. Schau sie beide wohl an, und vor allem diesen Knaben; denn auf seiner Stirn seh' ich geschrieben, was Verhängnis ist, wenn die Schrift nicht verlöscht wird. Leugnet es"
    , rief der Geist, seine Hand nach der Stadt ausstreckend.
    "Verleumdet alle, die es Euch sagen! Gebt es zu um Eurer Parteizwecke willen und macht es noch schlimmer! Und erwartet das Ende!"
    Er sah sich um nach dem Geiste, aber er war verschwunden. Als der letzte Schlag verklungen war, sah er, die Augen erhebend, ein grauenerregendes, tief verhülltes Gespenst auf sich zukommen, wie ein Nebel auf dem Boden dahinzurollen pflegt.


    ~~~

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Die Erscheinung kam langsam, feierlich, schweigend auf ihn zu. Als sie herangekommen war, fiel er auf die Knie nieder, denn selbst die Luft, durch die sich der Geist bewegte, schien geheimnisvolles Grauen um sich zu verbreiten.
    Die Erscheinung war verhüllt in einem schwarzen, weiten Mantel, der nichts von ihr sehen ließ, als eine ausgestreckte Hand. Wäre diese nicht gewesen, es wäre einem schwer angekommen, die Gestalt von der Nacht zu trennen, die sie umgab!
    Als sie neben ihm stand, fühlte er, daß sie groß und stattlich war und daß ihn ihre geheimnisvolle Gegenwart mit einem feierlichen Grauen erfüllte. Er wußte weiter nichts, denn der Geist sprach und bewegte sich nicht.
    "Ich stehe vor dem Geist der zukünftigen Saturnalia?"
    , fragte er.
    Der Geist antwortete nicht, sondern wies mit der Hand zur Erde hinab.
    "Du willst mir die Schatten der Dinge zeigen, die noch nicht geschehen sind, aber noch geschehen werden?"
    , fuhr er fort.
    "Willst du das, Geist?"
    Der obere Teil der Verhüllung bauschte sich auf einen Augenblick in Falten, als ob der Geist sein Haupt neige; dies war die einzige Antwort, die er erhielt.
    Obgleich schon so ziemlich an gespenstische Gesellschaft gewöhnt, bangte er vor der stummen Erscheinung doch so sehr, daß seine Knie wankten und er kaum stehen konnte, als er sich ihr zu folgen bereit machte. Der Geist stand für einen Augenblick still, als bemerke er die Furcht seines Begleiters und als wolle er ihm Zeit lassen, sich zu erholen.


    Aber er befand sich dadurch noch schlechter. Ein fremdes, unbestimmtes Grausen durchbebte ihn bei dem Gedanken, daß sich hinter diesem schwarzen Schleier gespenstische Augen fest auf ihn heften könnten, während er, obgleich er seine Augen aufs äußerste anstrengte, doch nichts sehen konnte als die gespenstische Hand und eine große, schwarze Faltenmasse.
    "Geist der Zukunft"
    , rief er,
    "ich fürchte dich mehr als die Geister, die ich schon gesehen habe. Aber da ich weiß, dass es dein Zweck ist, mir Gutes zu tun, und da ich noch zu leben hoffe, um ein anderer Mensch zu werden, als ich bisher war, bin ich willens, dich zu begleiten und tue es mit einem dankerfüllten Herzen. – Willst du nicht zu mir sprechen?"
    Die Gestalt gab ihm keine Antwort. Die Hand wies gerade vor ihm hin in die Ferne.
    "Führe mich"
    , bat er.
    "Führe mich, die Nacht schwindet schnell, und die Zeit ist für mich kostbar. Führe mich, Geist."
    Die Erscheinung bewegte sich ebenso von ihm weg, wie sie auf ihn zugekommen war. Er folgte dem Schatten ihres Gewandes, der ihn aufhob und von dannen trug.


    Es war kaum, als ob sie auf das Forum träten; eher schien das Forum rings um sie her in die Höhe zu wachsen und sie zu umdrängen. Aber sie waren doch mitten in seinem Herzen, an den Stufen der Basilica Iulia unter den Kaufleuten, die geschäftig hin und her eilten, mit dem Geld in ihren Taschen klimperten, in Gruppen miteinander sprachen, sich umsahen und gedankenvoll mit ihren großen, goldenen Ringen spielten, wie er es schon so oft gesehen hatte.
    Der Geist blieb bei einer Gruppe von Kaufleuten stehen, und er sah, dass die Hand der Erscheinung darauf hinwies; daher näherte er sich ihnen, um ihr Gespräch zu belauschen.
    "Nein, ich weiß nicht viel davon zu sagen"
    , sagte ein großer fetter Mann mit einem ungeheuren Doppelkinn.
    "Ich weiß nur, daß er tot ist."
    "Wann starb er denn?"
    , fragte ein anderer.
    "Vorige Nacht, glaub' ich."
    "Beim Pluto, was hat ihm denn gefehlt?"
    , mischte sich ein Dritter ein, der dabei einen großen Schluck aus einem Fläschchen nahm.
    "Ich dachte, der würde nie sterben."
    "Weiß Mercurius!"
    , sagte der erste und gähnte.
    "Was hat er mit seinem Geld angefangen?"
    , fragte ein Herr mit einem roten Gesicht und einem Auswuchs an der Nasenspitze, der wie der Lappen eines Truthahns wackelte.
    "Ich habe nichts davon gehört"
    , sagte der Mann mit dem fetten Doppelkinn, und gähnte abermals.
    "Hat es wahrscheinlich seiner Firma hinterlassen. Mir hat er's nicht vermacht. Das weiß ich."
    Dieser reizende Scherz wurde mit einem allgemeinen Gelächter begrüßt.
    "Es wird wohl ein sehr billiges Begräbnis werden"
    , fuhr der Dicke mit dem Doppelkinn fort;
    "denn so wahr ich lebe, ich kenne niemanden, der mitgehen sollte. Wenn wir nun zusammenträten und freiwillig mitgingen?"
    "Ich tue mit, wenn für eine Cena gesorgt wird"
    , bemerkte der Herr mit dem Truthahnlappen an der Nasenspitze.
    "Aber ich muß zu essen haben, wenn ich dabei sein soll."
    Ein neues Gelächter.
    "Nun, da bin ich doch wohl der Uneigennützigste von euch"
    , meinte der erste Sprecher,
    "denn ich trage nie eine schwarze Toga und esse nie Cena. Aber ich gehe mit, wenn sich noch andere finden. Wenn ich mir's recht überlege, war ich am Ende sein vertrautester Freund; denn wir blieben stehen und sagten einander, wenn wir uns auf der Straße trafen: 'Guten Morgen, guten Morgen!'"
    Sprecher und Zuhörer gingen fort und mischten sich unter andere Gruppen. Er kannte die Leute und sah den Geist mit einem fragenden Blick an.
    Die Erscheinung schwebte weiter und hinaus auf die Straße.


    Ihre Hand wies auf zwei sich begegnende Personen. Und wieder hörte er zu, in der Hoffnung, jetzt die Erklärung zu finden.
    Denn er kannte auch diese Leute recht gut. Es waren Kaufleute, sehr reich und von großem Ansehen. Er hatte sich immer bestrebt, in ihrer Achtung zu bleiben, das heißt in Geschäftssachen, rein in Geschäftssachen.
    "Wie geht's?"
    , sagte der eine.
    "Wie geht's Dir?"
    , der andere.
    "Gut"
    , erwiderte der erste.
    "Der alte Knauser ist endlich tot, weißt Du es schon?"
    "Ich hörte es"
    , antwortete der zweite.
    "Es ist kalt heute, nicht wahr?"
    "Wie sich's zu den Saturnalia schickt."
    Kein Wort weiter. So trafen sie sich, so trennten sie sich.


    Er war erst zu staunen geneigt, daß der Geist auf anscheinend so unbedeutende Gespräche ein Gewicht zu legen schien; aber sein Gefühl sagte ihm, daß sie eine verborgene Bedeutung haben müßten, und er zerbrach sich den Kopf, welcher Art diese sein könnte.
    Die Gespräche konnten sich nicht auf den Tod Marlisius, seines alten Geschäftspartners, beziehen, denn der gehörte der Vergangenheit an, und sein Führer war doch der Geist der Zukunft. Auch konnte er sich niemanden von den ihn näher Angehenden vorstellen, auf den er sie hätte beziehen können. Aber in der Gewißheit, dass für ihn doch eine wichtige Lehre darin liege, auf wen sie sich auch beziehen möchten, beschloss er, jedes Wort, das er hörte, und jede Szene, die er sah, treu in seinem Herzen aufzubewahren, und vorzüglich seinen Schatten zu beobachten, wenn er erschien. Denn er erwartete von dem Benehmen seines zukünftigen Selbst die noch fehlende Aufklärung und die Lösung der Rätsel, die ihm jetzt so schwierig vorkam.
    Schon vor der Basilica Iulia sah er sich nach seinem Selbst um; aber ein anderer stand in seiner gewohnten Ecke, und obgleich die Sonnenuhr die Stunde zeigte, wo er gewöhnlich dort war, bemerkte er sich doch auch nicht unter den Scharen, die sich durch den Eingang hereindrängten. Das überraschte ihn indessen um so weniger, als er schon lange daran gedacht hatte, sein Geschäft aufzugeben; und nun glaubte und hoffte er, in diesen Erscheinungen schon die einstige Verwirklichung seines Planes zu erblicken.
    Regungslos und schwarz stand neben ihm das Gespenst mit seiner starr ausgestreckten Hand. Als er wieder von seiner nachdenklichen Stellung aufblickte, glaubte er (nach der Richtung der Hand zu urteilen), dass sich die unsichtbaren Augen fest auf ihn hefteten. Bei diesem Gedanken überlief ihn ein kalter Schauer.


    ~~~

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Sie verließen darauf die geschäftige Umgebung und gingen in einen abgelegenen Teil der Stadt, wo er nie vorher gewesen war, dessen Lage und schlechten Ruf er aber kannte. Die Straßen waren schmutzig und eng, die Läden und Häuser ärmlich, die Menschen halbnackt, betrunken, barfuß, häßlich. Gässchen und Torwege strömten, wie ebenso viele Kloaken, abscheuerregende Gerüche und Schmutz und Menschen in die Straßen, und das ganze Viertel schien erfüllt von Verbrechen, Unrat und Elend.


    In einem der tiefsten Winkel dieses Zufluchtsorts der Sünde und des Verbrechens befand sich ein niedriger, dunkler Laden unter einem Wetterdach, in dem Eisen, Lumpen, Flaschen, Knochen und Fleischabfälle verkauft wurden. Auf dem Fußboden lag ein Haufen verrosteter Schlüssel, Nägel, Ketten, Türangeln, Feilen, Wagen, Gewichte und altes Eisen aller Art. Geheimnisse, die zu enträtseln wenige verlangen würden, entstanden und verbargen sich in Bergen widerlicher Lumpen, Massen verdorbenen Fettes und ganzen Beinhäusern von Knochen. Mitten unter seinen Waren saß neben einem aus alten Kacheln zusammengesetzten Ofen ein grauhaariger, fast siebzigjähriger Schelm, der sich vor der Kälte draußen durch einen bauschigen Vorhang von allerlei, auf eine Leine gehängten Lumpen geschützt hatte und aus seinem Becher voll Behagen trank.
    Er und die Erscheinung traten neben diesen Mann, als eine Frau mit einem schweren Bündel in den Laden schlich. Kaum war sie eingetreten, als ihr eine zweite Frau, auch mit einem Bündel, folgte, und dieser dicht auf den Fersen ein Mann in einer alten, schwarzen, abgetragenen Toga, der nicht weniger vor dem Anblick der beiden erschrak, als diese voreinander erschrocken waren. Nach einigen Augenblicken wortlosen Staunens, an dem sich der Alte mit dem Becher beteiligt hatte, brachen sie alle drei in ein lautes Gelächter aus.
    "Schau an, die Praefica ist die erste"
    , rief die zuerst eingetreten war.
    "Schau an, die Waschfrau ist die zweite, und der Vespillo ist der dritte. He, Caius, das ist ein Glücksfall! Wir treffen uns hier alle drei, ohne daß wir uns verabredet haben."
    »Ihr hättet euch an keinem bessern Ort treffen können"
    , sagte der alte Caius, den Becher abstellend.
    "Kommt in das Tablinum. Ihr habt schon lange freien Zutritt dort, das wisst Ihr ja, und die anderen zwei sind auch keine Fremden. Wartet, bis ich den Laden zugemacht habe. Oh, wie er kratzt! Ich glaube, es gibt kein so rostiges Stück Eisen in dem ganzen Laden, als die Türangeln; und ich weiß, es gibt keine so alten Knochen hier, wie meine. Haha, wir passen zu unserm Geschäft. Kommt ins Tablinum!"
    Das Tablinum war der Raum hinter dem Lumpenvorhang. Der Alte kratzte das Feuer mit einem Stöcklein zusammen, schob den Docht seiner qualmigen Lampe, denn es war Abend, in die Höhe.
    Während er damit beschäftigt war, warf die zuerst eingetretene Frau ihr Bündel auf den Boden und setzte sich mit kokettierender Frechheit auf einen Hocker; dann legte sie die Hände auf die Knie und sah die beiden andern herausfordernd an.
    "Nun, was ist dabei, was ist schon dabei, Dibelia? Jeder hat das Recht, für sich zu sorgen. Und er tat es immer."
    "Das ist wahr"
    , sagte die Waschfrau.
    "Keiner tat es eifriger."
    "Na, warum gafft Ihr da einander an, als hättet Ihr Bange, wer der Schlauere sei? Wir wollen doch nicht einander die Augen aushacken, denk' ich."
    "Nein, gewiß nicht"
    , sagten Dibelia und der Mann wie aus einem Munde.
    "Wir wollen es nicht hoffen."
    "Na, gut denn"
    , rief die Frau,
    "das ist genug! Wem schadet's, wenn wir so ein paar Sachen mitnehmen, wie die hier? Einer Leiche gewiß nicht."
    "Nein, gewiß nicht"
    , lachte Dibelia.
    "Wenn er sie noch nach dem Tode behalten wollte, wie ein alter Geizhals"
    , fuhr die Frau fort,
    "warum war er nicht besser zu seinen Lebzeiten? Wäre er's gewesen, dann hätte er auch jemanden um sich gehabt, als er starb, statt daß er mutterseelenallein seinen letzten Atem fahren lassen mußte."
    "Es ist das wahrste Wort, das je gesprochen wurde"
    , bestätigte Dibelia.
    "Ich wünschte, es wäre ein bißchen schwerer ausgefallen"
    , meinte die Frau,
    "und es wär's auch, verlasst euch drauf, wenn ich hätte mehr bekommen können. Mach das Bündel auf, Caius, und sag mir, was es wert ist. Sprich dreist heraus. Ich fürchte mich nicht, die erste zu sein, noch es die hier sehen zu lassen. Wir wussten ganz gut, dass wir für uns sorgten, ehe wir uns hier trafen. Das ist keine Sünde. Mach das Bündel auf, Caius."


    Aber die Galanterie ihrer Freunde wollte das nicht erlauben; und der Mann in der abgetragenen schwarzen Toga brachte seine Beute zuerst. Es war nicht viel los damit: ein oder zwei Ringe, ein silberner Stylus, ein Paar Fibelnund eine Brosche von geringem Wert: das war alles. Die Gegenstände wurden von dem alten Caius untersucht und geschätzt, worauf er die Summe, die er für das einzelne bezahlen wollte, an die Wand schrieb und zusammenrechnete, als er fand, daß nichts mehr nachkam.
    "Das ist Eure Rechnung"
    , sagte Caius,
    "und ich gebe kein As mehr und sollte ich in Stücke gehauen werden. Wer kommt jetzt?"
    Dibelia war die nächste. Sie hatte Bett- und Handtücher, einige Kleidungsstücke, zwei altmodische silberne Löffel, eine Messer und einige Paar Calcei. Ihre Rechnung wurde von Caius auf dieselbe Weise an die Wand geschrieben.
    "Damen gebe ich immer zuviel. Es ist meine Schwäche, und ich richte mich damit zugrunde"
    , sagte der alte Caius.
    "Hier ist Eure Rechnung. Wolltet Ihr ein Quadrans mehr dafür haben und es darauf ankommen lassen, so täte es mir leid, so nobel gewesen zu sein, und ich zöge Euch einen halben Sesterz ab."
    "Und nun mach mein Bündel auf, Caius"
    , drängte die erste.
    Caius kniete nieder, um bequemer das Bündel öffnen zu können, und nachdem er viele viele Knoten aufgemacht hatte, zog er eine große schwere Rolle von einem dunklen Stoff heraus.
    "Was ist das?"
    , staunte Caius.
    "Bettdecken!"
    "Ja"
    , rief das Weib lachend und sich vorbeugend.
    "Bettdecken!"
    "Du willst doch nicht sagen, Du hättest sie heruntergenommen, wie er dort lag?"
    , sagte Caius.
    "Ich werde doch wahrhaftig meine Hand nicht leer einstecken, wenn ich sie nur auszustrecken brauche, um was zu kriegen, um so eines Mannes willen, wie der war. Wahrhaftig nicht, Caius."
    , sagte das Weib.
    "Er wird auch ohne die nicht frieren, das behaupte ich."
    "Er starb doch nicht etwa an etwas Ansteckendem?"
    , fragte der alte Caius bedenklich, seine Beschäftigung unterbrechend und sie anblickend.
    "Das braucht Ihr nicht zu befürchten"
    , antwortete die Frau.
    "Ich hatte ihn nicht so lieb, daß ich dann bei ihm geblieben wäre um solcher Lumpen willen. Ha, Ihr könnt durch die Tunica gucken, bis Euch Eure Augen weh tun: Ihr findet kein Loch darin und keine dünne Stelle. Es ist das beste, was er hatte, und sein ist's auch. Sie hätten's verdorben, wenn ich nicht gewesen wäre."
    "Was meint Ihr mit Verderben?"
    , fragte der alte Caius.
    "Nun, ihm die Tunica in das Grab mitgeben, was sonst?"
    , erwiderte die Frau lachend.
    "Es war da einer dumm genug, es ihm anzuziehen, aber ich zog's ihm wieder aus. Wenn Wolle zu so etwas nicht gut genug ist, weiß ich nicht, zu was er sonst gut wäre. Er steht einer Leiche ebensogut. Er kann nicht häßlicher aussehen, als er darin aussah."


    Er hörte das Gespräch mit Grausen an. Wie sie da um ihren Raub herum in dem kärglichen Lampenlicht des Alten saßen, betrachtete er sie mit einem Ekel und einem Abscheu, der nicht größer hätte sein können, wenn es scheußliche Dämonen gewesen wären, die um die Leiche selbst feilschten.
    "Geist"
    , sagte er, vom Fuß bis zum Scheitel zitternd.
    "Ich verstehe dich. Das Los dieses Unglücklichen könnte das meinige sein. Mein Leben geht jetzt auf dieses Ziel zu. Gnädiger Himmel, was ist das?"


    ~~~

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Er fuhr entsetzt zurück, denn die Szene hatte sich verändert, und er stand dicht vor einem Bett, einem einsamen, unverhängten Bett, in dem unter einer groben Decke etwas Verhülltes lag, das, obgleich stumm, in einer grauenerregenden Sprache verkündete, was es war.
    Das Zimmer war sehr dunkel, zu dunkel, um etwas sicher erkennen zu können, obgleich er sich, einem geheimen Gefühl folgend, voll Begier umsah, um zu wissen, was für ein Zimmer es sei. Ein bleiches Licht, das von draußen hereinströmte, fiel gerade aufs Bett; und auf diesem, geplündert und beraubt, unbewacht und unbeweint, lag die Leiche dieses Mannes.
    Er blickte die Erscheinung an. Ihre regungslose Hand wies auf das Haupt des Leichnams. Die Decke war so sorglos zurechtgelegt, daß das geringste Verschieben, die leiseste Berührung von seinen Fingern das Antlitz enthüllt hätte. Er dachte daran, empfand, wie leicht es geschehen könnte, und sehnte sich, es zu tun; aber er hatte ebensowenig die Kraft, die Hülle wegzuziehen, wie den Geist von seiner Seite zu entlassen.


    Oh, kalter, starrer, schrecklicher Pluto, hier richte deinen Altar auf und umgib ihn mit den Schrecken, über die du verfügst, denn dies ist dein Reich! Aber dem geliebten und verehrten Haupt kannst du kein Haar krümmen, von ihm kannst du keinen Zug widerlich machen. Auch wenn die Hand schwer ist und herabsinkt, wenn man sie fallen läßt, auch wenn das Herz und der Puls schweigen; die Hand war offen und barmherzig, das Herz war offen und warm und gut und der Puls ein menschlicher. Töte, Schatten, töte! Und sieh, wie seine guten Taten aus der Todeswunde hervorströmen, um in der Welt ein unsterbliches Leben auszusäen!
    Es war nicht etwa eine Stimme, die diese Worte in seine Ohren flüsterte, aber doch hörte er sie, während er auf das Bett starrte. Er dachte, wenn dieser Mann jetzt wieder erweckt werden könnte, was würde wohl sein erster Gedanke sein? Nur Geiz, Hartherzigkeit, habgierige Sorge. – Ein schönes Ende haben sie ihm bereitet!
    Er lag in dem düstern leeren Haus, und kein Mann, kein Weib, kein Kind war da, um zu sagen: 'Er war gütig gegen mich in dem und in jenem, und dieses einen gütigen Wortes gedenkend will ich seiner warten.' Eine Katze kratzte an der Tür, und die Ratten nagten und raschelten unter dem Kamin. Was sie in dem Gemach des Todes wollten und warum sie so unruhig waren, wagte er nicht auszudenken.
    "Geist"
    , sagte er,
    "dies ist ein schrecklicher Ort. Wenn ich ihn verlasse, werde ich nicht seine Lehre vergessen, glaube mir. Laß uns gehen."
    Immer noch wies der Geist mit regungslosem Finger auf das Haupt der Leiche.
    "Ich verstehe dich"
    , antwortete er,
    "und ich täte es, wenn ich könnte. Aber ich habe die Kraft nicht dazu, Geist. Ich habe die Kraft nicht dazu."
    Wieder schien ihn der Geist anzublicken.
    "Wenn irgend jemand in der Stadt ist, der bei dieses Mannes Tod etwas fühlt"
    , bat er ganz erschüttert,
    "so zeige mir ihn, Geist, ich flehe dich an."


    ~~~

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Die Erscheinung breitete ihren dunklen Mantel einen Augenblick vor ihm aus wie einen Fittich; und wie sie ihn wieder wegzog, sah er ein taghelles Zimmer, in dem sich eine Mutter mit ihren Kindern befand.
    Sie wartete auf jemandes Kommen in ängstlicher Hoffnung, denn sie ging im Zimmer auf und ab, erschrak bei jedem Geräusch, sah zum Fenster hinaus, blickte zum Himmel, versuchte umsonst, sich zu beschäftigen und konnte kaum die Stimmen der spielenden Kinder ertragen.


    Endlich vernahm sie das langersehnte Klopfen an der Haustür, und als sie hinausgehen wollte, kam ihr der Gatte entgegen. Sein Gesicht war abgehärmt und bekümmert, obgleich er noch jung war! Es zeigte sich jetzt ein merkwürdiger Ausdruck darin: eine Art ernster Freude, deren er sich schämte und die er zu verbergen bestrebt war.
    Er setzte sich zum Essen nieder, das man ihm aufgehoben hatte; und als die Gattin ihn erst nach langem Schweigen fragte, was er für Nachrichten bringe, schien er um Antwort verlegen zu sein.
    "Sind es gute"
    , fragte sie,
    "oder schlechte?"
    "Schlechte"
    , gab er zur Antwort.
    "Sind wir ganz zugrunde gerichtet?"
    "Nein, noch ist Hoffnung vorhanden, Carbinatia."
    "Wenn er sich erweichen läßt"
    , rief sie erstaunt,
    "dann ist noch Hoffnung da! Nichts ist hoffnungslos, wenn ein solches Wunder geschehen ist."
    "Für ihn ist es zu spät, Erbarmen zu zeigen"
    , sagte der Gatte.
    "Er ist tot."
    Wenn ihr Gesicht Wahrheit sprach, so war sie ein mildes und geduldiges Wesen; aber sie war doch dankbar dafür in ihrem Herzen und sprach es mit gefalteten Händen aus. Doch schon im nächsten Augenblick bat sie Gott, daß er ihr verzeihen möge, und bereute es; aber das erste Gefühl war die Stimme ihres Herzens gewesen.
    "Was mir die halbbetrunkene Frau gestern abend meldete, als ich ihn sprechen und um eine Woche Aufschub bitten wollte, und was ich nur für einen bloßen Vorwand hielt, um mich abzuweisen, erweist sich jetzt als die reine Wahrheit. Er war nicht nur sehr krank, er lag schon im Sterben."
    "Auf wen wird unsere Schuld übergehen?"
    "Ich weiß es nicht. Aber noch vor dieser Zeit werden wir das Geld haben; und selbst, wenn dies nicht einträfe, wär' es fast unwahrscheinlich großes Pech, in seinem Erben einen ebenso unbarmherzigen Gläubiger zu finden. Wir können heut' nacht leichteren Herzens schlafen, Carbinatia."
    Ja, sie mochten es verhehlen, wie sie wollten: ihre Herzen waren leichter. Die Gesichter der Kinder, die sich still um die Eltern drängten, um zu hören, was sie so wenig verstanden, erhellten sich, und alle wurden glücklicher durch dieses Mannes Tod. Das einzige von diesem Ereignis hervorgerufene Gefühl, das ihm der Geist zeigen konnte, war also eins der Freude.


    ~~~

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    "Geist"
    , sprach er,
    "etwas sagt mir, daß wir uns bald trennen werden. Ich weiß es, aber ich weiß nicht wie. Sag mir, wer war es, den wir auf dem Totenbett sahen?"


    Der Geist der zukünftigen Saturnalia führte ihn wie zuvor – doch zu verschiedener Zeit, wie es ihm vorkam, und überhaupt schien in den letzten abwechselnden Gesichtern keine Zeitfolge stattzufinden – an die Zusammenkunftsorte der Geschäftsleute, aber er sah sich selber nicht. Der Geist hielt sich nirgends auf, sondern schwebte immer weiter, wie nach dem Ort zu, wo man die gewünschte Lösung des Rätsels finden würde.
    Nachsinnend, warum und wohin sie gingen, begleitete er die Erscheinung, bis sie das Stadttor erreichten. Er stand still, um sich vor dem Durchtreten umzusehen.
    Davor war ein ein Gräberfeld. Hier also lag der Unglückliche unter der Erde, dessen Namen er noch erfahren sollte. Der Ort war seiner würdig. Rings von hohen Grabmälern umgeben, überwuchert von Unkraut, entsprossen dem Tod, nicht dem Leben der Vegetation, vollgepfropft von zu vielen Leichen, genährt von übersättigtem Genuß.


    Der Geist stand inmitten der Gräber still und deutete auf eins hinab. Er näherte sich ihm bebend. Die Erscheinung war noch ganz so wie früher, aber ihm war es immer, als sähe er eine neue Bedeutung in der düsteren Gestalt.
    "Ehe ich mich dem Stein nähere, den du mir zeigst"
    , sagte er,
    "beantworte mir eine Frage. Sind dies die Schatten der Dinge, die sein werden, oder nur deren, die sein können?"
    Immer noch wies der Geist auf das Grab hin, vor dem sie standen.
    "Die Wege des Menschen tragen ihr Ziel in sich"
    , murmelte er.
    "Aber schlägt er einen andern Weg ein, so ändert sich das Ziel. Sag, ist es so mit dem, was du mir zeigen wirst?"
    Der Geist blieb so unbeweglich wie immer.
    Er näherte sich schlotternd dem Grabe, und wie er der Richtung des Fingers folgte, las er auf dem Stein seinen eigenen Namen.
    "Bin ich es, der auf jenem Bett lag?"
    , rief er, in die Knie sinkend.
    Der Finger zeigte von dem Grabe fort auf ihn und wieder zurück.
    "Nein, Geist, o nein!"
    Der Finger wies unveränderlich dorthin.
    "Geist"
    , rief er, sich fest an sein Gewand klammernd,
    "ich bin nicht mehr der Mensch, der ich ehedem war. Ich will ein anderer Mensch werden, als ich vor diesen Tagen gewesen bin. Warum zeigst du mir dies, wenn alle Hoffnung geschwunden ist?"
    Zum ersten Male schien des Geistes Hand zu zittern.
    "Guter Geist"
    , fuhr er fort,
    "dein eigenes Herz legt bittend für mich ein Wort ein und bedauert mich. Sag mir, daß ich durch ein verändertes Leben die Schattenbilder, die du mir gezeigt hast, ändern kann!"
    Die gütige Hand zitterte.
    "Ich will die Saturnalia in meinem Herzen ehren, ich will versuchen, es zu feiern. Ich will in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft leben. Die Geister von allen dreien sollen in mir lebendig sein. Ich will ihren Lehren mein Herz nicht verschließen. O sage mir, daß ich die Schrift auf diesem Stein tilgen kann!"
    In seiner Angst ergriff er die gespenstige Hand. Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, aber er war stark in seinem Flehen und hielt sie fest. Der Geist, noch stärker, stieß ihn zurück.


    ~~~


    Der junge Flavius rappelte sich auf und erblickte seine Bettdecke, welche soeben noch im Traume bei jenem grässlichen Lumpenhändler für wenige Sesterzen war feilgeboten worden. Schweiß benetzte seine Stirne und augenscheinlich hatte er die letzten Worte des Traumes ausgerufen, denn schon vernahm er Patrokolos' Stimme:
    "Domine? Bist du wohlauf?"
    Sogleich wurde dem Jünging gewahr, dass er in der Tat einem Traume war erlegen, welchen er indessen sogleich als solchen zu identifizieren vermochte.
    "Es war nur ein Traum."
    " Ein Traum von einer Gravur?"
    Manius Minors Lippen kräuselten sich zu einem sublimen Lächeln, als er der Gravur auf dem Grabstein gedachte: 'Ebonisius', welch seltsamer Name! Und welch notable Geschichte, durch welche der Traum ihn hatte geführt: Deutlich sah er vor sich das Schullokal dieser Gestalt, welches ihn der Rednerschule des Quinctius Rhetor ließ gewahren. Das vergnügliche Fest des Fossilius, das gewisse Similitäten zu den Orgien der Myrmidonen hatte aufgewiesen. Die Familia Servorum, die es so viel schlechter mochte getroffen haben als die Sklaven des flavischen Hauses, selbst wenn deren Vilicus Sciurus weitaus abhorreszierlicher mochte erscheinen als der warmherzige Jakobus. Der lahme Knabe Titus, zweifelsohne ein Zerrbild seines schutzbedürftigen Bruders identischer Nomination. Die fröhliche Runde der Saturnaliengäste im Hause des Furius, die similäre Festivitäten in der Villa Flavia Felix an Frohsinn und Esprit hatte übertroffen. Und endlich der Horror der zukünftigen Saturnalia, die ärmlichen Kinder und Bettler, die ignoranten Geldwechsler und Geschäftsmänner vor der Basilica Iulia, die räuberischen Libitinarii, die erlösten Schuldner und das Grab des Ebonisius!
    Zumindest in diesem Punkte verspürte der junge Flavius keinerlei Gefahr, ein similäres Ende zu finden und jener Begierde nach Reichtum zu verfallen, die ihn zum einsamen, geplünderten Leichnam hatte werden lassen. Zumindest in diesem Punkte hatte spätestens Epikur ihn vortrefflich geheilt. Insofern verspürte er nicht die geringste Furcht, die ihn für gewöhnlich bei Träumen von Friedhöfen und Leichen befiel.
    "Nur ein belangloser Traum, Patrokolos. Schlafe weiter."


    Womöglich würde er ja noch erträumen, ob auch Ebonisius von seiner Krankheit noch zur rechten Zeit würde geheilt werden! Immerhin hatte es augenscheinlich auch um dessen Traum gehandelt, den er durchlebte und aus dem nun wohl ein Erwachen ausstand!
    Erwartungsvoll lehnte der junge Flavius sich somit zurück und schloss zufrieden die Augen.


    Obschon am nächsten Morgen in der Tat die Saturnalia wurden zelebriert, vermochte der Jüngling nicht jenen turbulenten Traum zu memorieren. Dennoch war er für die Dauer einer Nacht vortrefflich unterhalten worden.


    Sim-Off:

    Da es sich anschickt, sich gerade zur Weihnachtszeit nicht mit fremden Federn zu zieren, sondern jedem das seine zu vergönnen, möchte ich selbstredend konzedieren, dass jene wohlbekannte Mär nicht meiner, sondern der Feder von Charles Dickens entstammt, dessen Worte lediglich adaptiert, im Übrigen jedoch gänzlich der auf Projekt Gutenberg publizierten Version entsprechen. Dortig lässt sich auch der erfreuliche Ausgang jener Geschichte rekonstruieren ;)

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