Und das war das Pudels Kern – auch wenn diese Wendung erst Jahrhunderte später zu einem geflügelten Wort werden sollte, in diesem Augenblick hätte sie zutreffender nicht sein können. Um was es für sie ging, um was es für ihn ging – bei dieser letztlich so simplen Aktivität. Nicht dass es immer und bei jedem so war, aber in diesem Fall und bei Seiana und Caius war es so. Für sie hieß das Bett mit ihm zu teilen so viel mehr, und sie konnte nicht aus ihrer Haut, nicht einfach so. Nicht, wenn da zusätzlich noch der Fakt hinzukam, dass Seiana trotz oder gerade weil sie das einzige Mädchen unter vier Kindern und darüber hinaus ein Wildfang gewesen war, eine recht strenge Erziehung genossen hatte, sowie der Fakt, dass sie eigentlich wollte, dass ihre Mutter stolz auf sie sein konnte, wenn sie noch leben würde. Nein, Seiana konnte nicht aus ihrer Haut, weder was die Tatsache betraf, dass sie Angst davor hatte sich zu sehr zu öffnen, noch was jene betraf, dass die Traditionen und das Ansehen ihrer Familie ihr so wichtig waren. Es war etwas, woran sie sich festhalten konnte. Was ihrem Leben Halt gab – Halt gegeben hatte, als es keinen anderen gegeben hatte. Als ihre Mutter krank geworden war, als sie sie gepflegt und alles andere hintan gestellt hatte, was ihr eigenes Leben betraf, als sie gestorben war… und sie, Seiana, ganz allein gewesen war – da war all das, was ihre Mutter ihr über die Jahre eingebläut hatte, zu einem Anker geworden für sie. Einem Netz, dass sie aufgefangen hatte. Vermutlich hätte es nicht diese Auswirkungen gehabt, wäre es nicht ein schleichender Prozess gewesen, hätte sich der Gesundheitszustand ihrer Mutter nicht über einen langen Zeitraum stetig verschlechtert, wäre Seiana selbst nicht immer mehr gefordert gewesen. Aber so… konnte sie sich nicht einfach so verabschieden von dem, was ihr Halt gegeben hatte in der schwierigsten Phase ihres Lebens. Was ihr geholfen hatte, weiter zu machen, weiter zu leben…
Sie folgte Caius durch das Haus und hörte ihm zu, versuchte sich zu merken, was er ihr erklärte auf dem Weg, und betrat schließlich den Raum, der für sie gedacht war. Einfach, aber doch angenehm. Sie würde sich hier wohl fühlen, übermäßiger Luxus war nichts für sie. Seiana besah sich das Zimmer einen Augenblick länger, als nötig gewesen wäre, aber dann wandte sie sich doch zu Caius um und versuchte sich ein weiteres Mal an einem Lächeln, das ebenso unverbindlich war wie der Klang seiner Stimme. In diesem Augenblick wünschte sich ein Teil von ihr, sie könnte ihm sagen, was in ihr vorging. Und für den Bruchteil eines Augenblicks drängte dieser Teil an die Oberfläche, und sie wollte ja sagen, wollte ihm sagen, dass sie ihn brauchte, dass er sie einfach in den Arm nehmen sollte, dass es ihr leid tat und dass sie nicht ändern konnte, wie sie war, oder was geschehen war, oder dass ihr das alles so wichtig war. Aber der Moment verging, und Seiana schüttelte mit gespielter Leichtigkeit den Kopf. „Nein, danke. Ich… denke, ich werde auspacken und mich dann ein bisschen ausruhen.“