Domitilla begriff recht schnell, dass der Anlass für den Besuch ihres Neffen von gewichtiger Natur war. Es bedurfte lediglich einen Blick in das Gesicht des jungen Flavius, um dies ablesen zu können. Sein gesamtes Auftreten unterschied sich erheblich von dem, wie sie es von ihm gewohnt war. Allerdings konnte sie sich vorerst keinen Reim darauf machen. Doch das sollte sich recht schnell ändern. Eines musste man ihrem Neffen schon lassen, er redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern kam schwindelerregend schnell auf den Punkt.
Ein wohlwollendes Lächeln hatte sie aufgelegt, als er sich setzte und sich bei ihr bedankte, ihn empfangen zu haben. Für ihn hatte sie doch immer Zeit! Das wusste er sicher auch, denn obwohl sich Neffe und Tante erst seit recht kurzer Zeit kannten, war doch zwischen ihnen ein besonderes familiäres Band entstanden. Domitilla sah in dem fast gleichaltrigen Neffen inzwischen eher einen Bruder. Vielleicht sogar einen Ersatz für Piso, den sie erst in ihrem dreizehnten Lebensjahr kennengelernt hatte und der wenig später in der Blüte seines Lebens aus dieser Welt gerissen worden.
Doch was der Neffe ihr nun eröffnete, ließ ihr Gesicht förmlich einfrieren. Er hatte eine Vereinbarung getroffen! Mit Tiberius Lepidus! Ausgerechnet mit dem Tiberius, der zwar in religiösen Dingen ein unterhaltsamer Fachmann war, in anderer Hinsicht aber auf sie wie ein kalter Fisch gewirkt hatte. Der Flavia wurde heiß und kalt zugleich. Der Aurelia hatte sie von dem Tiberius vorgeschwärmt, um vor ihr nicht mit leeren Händen da zustehen. Hatte sie etwa ihre Finger mit in diesem Spiel? Und selbst wenn, dann tat sie es nicht aus einer bösen Absicht heraus. Diese Geister hatte selbst herbei gerufen und sie schienen sie nun auf solch infame Weise heimsuchen zu wollen. Ein Schauder, nein ein Schwindel überfiel sie. Zum Wohl unserer Familien also… Alleine diese Worte banden ihre Hände mit unsichtbaren Fesseln.
Auf diesen Schreck hin brauchte sie unbedingt etwas Wein. Etwas Wein? Nein, am besten die ganze Kanne!
„Candace, Wein!“,sagte sie mit erstickender Stimme. Die Sklavin hatte den Ernst der Lage erfasst und gehorchte sofort. Sie reichte ihrer Herrin einen Becher, den diese mit einem Zug leerte.
„Nun, was soll ich sagen…?“ Eigentlich war sie sprachlos. Nein, sie war empört darüber, dass ausgerechnet er sie verkauft hatte. „Weiß der Tiberius bereits davon…. und Manius Gracchus… weiß er davon? Und was ist… was ist mit meinem Vater?“