[Vestibulum | Ubizwo] Das Haupttor und die große Halle

  • Tariq hatte Cimber beim Abschied am Tor noch müde zugewinkt – ihn würde er, wenn alles gut lief, spätestens bei der Ala irgendwann wiedersehen – und war Hadamar dann auf die Straßen Mogontiacums gefolgt. Sein Blick folgte gelegentlich der Hand seines Freundes, wenn dieser ihn auf etwas hinwies, aber so richtig aufnehmen konnte er es nicht. Was ihm auffiel, denn das war nun mal etwas, das man schlecht ignorieren konnte, war die Andersartigkeit der Behausungen … und natürlich die der Bewohner. Sehr viele waren größer als er selbst, sogar einige der Frauen, und auch, wenn es durchaus dunkelhaarige Menschen gab, sah er doch viele, die goldenes Haar hatten. Dies hatte er auf der Reise hierher ein ums andere Mal gesehen, in seiner Heimat jedoch nie, weshalb er immer noch staunend stehenblieb, um die Haarpracht des einen oder anderen Stadtbewohners oder insbesondere der einen oder andere Stadtbewohnerin zu betrachten. Er fragte sich, was der thrakische Händler Viridomarus zu einer solchen Haarfarbe sagen würde! Dass er seinerseits von den Menschen angestarrt wurde, weil sein Äußeres hier wiederum eine Seltenheit war, nahm er gar nicht so richtig wahr. Zu überwältigt war er von all den neuen Eindrücken und zu müde von der langen Reise.


    Irgendwann ließen sie die Häuser der Stadt hinter sich und kamen zu einem Anwesen, das etwas abseits auf einer Hügelkuppe lag. Als ihm klar wurde, dass das das Anwesen von Hadamars Familie sein musste, wäre Tariq am liebsten stehengeblieben. Er tat es auch kurz, musste aber dann fast laufen, weil Hadamar der Anblick offenbar neue Energie gab und er noch schneller ausschritt als vorher. Tariq hingegen war überrascht. Gut, er hatte gewusst, dass Hadamar aus einer ziemlich wohlhabenden Familie stammte, aber etwas theoretisch zu wissen und jetzt dieses Haus mit umliegenden Ländereien zu sehen, war dann doch noch mal etwas Anderes. Zumal er Hadamar nicht als reichen Sohn kennengelernt und ihn auch später selten so erlebt hatte. Es hatte maximal in einige Gesprächen durchgeschienen, und er hatte eine entsprechende Bildung besessen, von der Tariq als sein Zögling ebenfalls profitierte, aber vom Verhalten her war Hadamar sehr … na ja, nicht so, wie er sich einen reichen Sohn vorstellte.


    Während sie über das familieneigene Land schritten, sah Tariq sich neugierig um. Um diese Jahreszeit wirkte alles etwas trist – die Bäume, die ihre kahlen Äste in den grauen Himmel reckten, das braune Erdreich, das selbst in seinem aktuell schlummernden Zustand verriet, dass es fruchtbar sein musste. Zumindest im Vergleich zu allem, das Tariq von Zuhause gewohnt war. Auf einem der Äcker lief ein einsames Huhn herum, das offensichtlich ausgebüchst war. In Caesarea früher hätte er sich über die praktische Mahlzeit gefreut, aber die Zeiten, in denen er sich selbst um sein Essen hatte kümmern müssen, waren auch in Kappadokien längst vorbei gewesen.


    Hadamar klopfte an eine Tür, die ebenfalls äußerst beeindruckend war. Auf der einen Seite war ein fremdländisch gekleideter Mann zu sehen, offensichtlich in einheimischer Tracht, nach allem, was er bisher gesehen hatte, der einem Römer auf dem anderen Türflügel die Hand reichte. Ehe er sich aber in die Details der Türschnitzereien oder der ebenfalls aufwändigen Verzierungen der vorgestellten Säulen vertiefen konnte, öffnete sich die Tür. Eine junge Frau stand dort und fragte nach ihrem Begehr. Er musterte sie kurz neugierig und nickte ihr dann zur Begrüßung zu, als Hadamar ihn vorstellte. Er war ein bisschen überrascht, dass Hadamar nicht erkannt wurde, aber andererseits war er schon sehr lange nicht mehr hier gewesen. Viele Jahre, wenn Tariq sich recht entsann.

  • Die junge Germanin lächelte als der Besucher mit ihr Germanisch sprach. „Heilsa,“ erwiderte sie also noch mal und lächelte ein wenig mehr. „Seid Willkommen Hadamar und Tariq,“ sie blickte zu dem jungen Mann, der hinter dem Familienmitglied stand. „Ich bin Ilda und ich arbeite seid etwa einem Jahr hier.“ Das Lächeln des Familienmitglieds war ansteckend und so wurde ihr Lächeln etwas breiter. Gerade wollte sie die beiden Besucher hineinbitten als sie Dagmar auf die Eingangstür zukommen sah. „Dort kommt deine Verwandte,“ erklärte die junge Germanin und deutete hinter die beiden Männer.



    Auch wenn der Herbst schon weit vorangeschritten war und die Bäume ihr Laub verloren hatten, mochte Dagmar es spazieren zu gehen, Zeit in der Natur zu verbringen und die Freiheit zu genießen, die sich ihr dabei bot. Viel zu oft verbrachte sie Zeit in engen Räumen und mit Menschen, die sie mal mehr und mal weniger mochte. Draußen in der Natur konnte sie ihren Geist frei sein lassen und ihre Gedanken ziehen lassen. Sie hatte sich ein Tuch eng um die Schultern gezogen, da es ihr ein wenig frisch war. Sie hatte ihren Schritt etwas beschleunigt als sie zwei Männer vor sich gehen hatte sehen. So hatte sie es geschafft etwas aufzuholen, sie aber nicht einzuholen. Die wenigen letzten Schritte waren gemacht und Dagmar kam nun ebenfalls auf die Porta zu. „Hadamar,“ rief sie aus und umarmte ihren Verwandten herzlich. „Es ist so schön dich zu sehen.“ Dann schenkte sie dem Begleiter ihres Verwandten ihre Aufmerksamkeit. „Wen hast du denn da mitgebracht?“

  • Hadamar bemerkte, dass Tariq... nun ja, zumindest überrascht schien von der Villa Duccia. Er zog es allerdings vor, das zu ignorieren. Gegenüber ihm, dem Straßenjungen, war es ihm fast sogar ein bisschen peinlich – auch wenn er selbst nicht ganz so aufgewachsen war, wie man es beim Anblick dieser Villa vermuten könnte. Weil die Wolfrikssöhne damals, als er noch klein gewesen war, das alles erst am Aufbauen gewesen waren. Auch die Rus vor den Toren Mogontiacums, wo seine Familie gelebt hatte, war noch nicht so weitläufig gewesen in seiner Kindheit wie dann später, aber bereits am Wachsen. Letztlich hatte sich seine Familie all das, was sie hier hatten, im Lauf der letzten ein, zwei Generationen erst erarbeitet, als Peregrini über weite Strecken, und das hatte er als Kind schon noch mitbekommen. Dass ihnen das nicht geschenkt worden war. Wie viel Anstrengung dahinter steckte. Und dass es ganz früher manchmal auch noch hart gewesen war, dass sie in manchen Phasen nach wie vor nur knapp über die Runden gekommen waren, weil alles, was die Familie besaß, irgendwie irgendwo in irgendwelchen Investitionen steckte. Das hatte er als Kind durchaus noch erlebt, und das war die Einstellung, mit der die Wolfrikssöhne auch später ihre Kinder großgezogen hatten, als es immer besser lief. Darauf hatten sie Wert gelegt: dass die Jungen wussten, dass man sich so etwas erarbeitete. Dass einem nichts in den Schoß fiel, sondern man es sich verdienen musste. Natürlich hatte er es trotzdem wesentlich leichter gehabt als viele andere, aber verwöhnt worden war er trotzdem nicht, genauso wenig wie seine Geschwister.


    Die junge Frau, die ihnen öffnete, verfiel ebenfalls ins Germanische, und Hadamar lächelte gewinnend. „Freut mich dich kennenzulernen, Ilda“, erwiderte er, und wollte gerade fragen, wer daheim war, als sie schon auf eine Verwandte verwies – hinter ihm. Hadamar drehte sich um und sah Dagmar auf sich zukommen. „Dagmar.“ Er erwiderte die Umarmung kurz, aber kräftig, und grinste jetzt übers ganze Gesicht. „Gleichfalls. Das ist Tariq, ein Freund, den ich aus Cappadocia mitgebracht habe. Tariq, das ist Dagmar, eine Tante von mir.“ Er nickte zum Haus hin. „Wer ist noch daheim gerade?“

  • Während Dagmar einen Spaziergang gemacht hatte, sah Octavena sich im Inneren der Villa mit einer neuen Ausgabe elterlichen Chaos konfrontiert. Doch statt ihrer Tochter, die gerade wahrscheinlich irgendwo auf dem Gelände herumsprang und sich nicht um das kühle Herbstwetter kümmerte, war es an diesem Tag ihr Sohn, der dieses Chaos stiftete und beschlossen hatte, sich den Wünschen seiner Mutter zu widersetzen.


    "Farold." Octavena warf ihm einen warnenden Blick zu. "Umziehen. Jetzt."


    Der Leim, den sie ihm auf Adalheidis' Anraten hin besorgt hatte, war zu gleichen Teilen eine grandiose und eine katastrophale Idee gewesen. Grandios deswegen, weil Farold absolut begeistert von dem Geschenk gewesen war und seitdem ständig dabei war, irgendwelche Holzstücke zusammenzukleben, was ihn auch bei schlechtem Wetter beschäftigt hatte, und katastrophal deswegen, weil er damit auch mehr oder weniger dauerhaft eine Sauerei nach der anderen anrichtete. Und die Sauerei des Tages war, dass es ihm irgendwie gelungen war, zumindest seine Kleidung von oben bis unten mit großen und kleinen Leimkleksen zu bedecken.


    "Neeein!"
    , krakeelte er gut gelaunt und lief den Gang entlang und weg von seiner Mutter, die langsam, aber sicher genervt von dieser Diskussion war. Es war ein mittelmäßiger Albtraum, solche Leimreste wieder auszuwaschen, sobald sie einmal richtig eingetrocknet waren - sowohl bei Stoff als auch bei verklebten Kinderhaaren, auch wenn letztere dieses Mal verschont geblieben zu sein schienen - und sie hielt eigentlich nichts davon, wenn Farold das anderen ganz selbstverständlich aufbürdete nur, weil er nicht aufpasste.


    "Farold"
    , sagte sie noch einmal, dieses Mal in einem schärferen Tonfall, der dem Jungen vermitteln sollte, dass er kurz davor war, tatsächlich in Schwierigkeiten zu geraten. "Ich will mich nicht wiederholen."

    Doch Farold lief nur weiterhin gut gelaunt den Flur entlang, offenbar, um durch die Haustür nach draußen zu entwischen und sich wahrscheinlich in irgendeines der Verstecke wegzuducken, in die seine Schwester sich für gewöhnlich zum Schmollen zurückzog und von denen beide Kinder ausgingen, dass Octavena sie nicht kannte oder ihnen in der Regel nicht dorthin folgte. Octavena dagegen ging mit zügigen Schritten hinter ihm her in der Hoffnung, ihn entweder an der Tür noch selbst abfangen zu können oder dass irgendwer von den anderen Hausbewohnern seinen Weg kreuzte und ihn aufhielt. Tatsächlich kam ihr Sohn im nächsten Moment zu einem jähen Halt im Hauseingang, aber das hatte nichts mit der Diskussion mit seiner Mutter oder einer plötzlichen Einsicht zu tun, sondern viel mehr damit, dass er beinahe mit den Erwachsenen dort zusammengestoßen wäre.


    "Oh", sagte er und riss überrascht die Augen auf, während sein Blick zwischen seiner Tante und den Fremden hin und her sprang.


    Hinter dem Jungen tauchte nun auch Octavena auf, deren genervter Gesichtsausdruck genauso plötzlich in Verwunderung umschlug, als sie zumindest einen der Gäste erkannte. "Na, das ist ja einmal eine Überraschung", sagte die dann und lächelte. "Salve, Hadamar. Ich dachte, du steckst noch immer in Cappadocia."

  • Stumm lag der Weiher da. Die Wasseroberfläche schimmerte schiefergrau, ein Spiegel des bedeckten Himmels, der einmal mehr vom nahenden Regen kündete. Nicht mehr lange, und es würde schneien – und der Weiher würde zufrieren. Dagny schlang den dunkelblauen Mantel, den sie trug, enger um sich. Sobald die erste zarte Eisschicht ein stehendes Gewässer bedeckte, hatte sie herausgewollt, damals, als sie noch klein gewesen war. Eldrid hatte sie immer zurückhalten müssen, so lange, bis das Eis dick genug war und sie warm eingepackt darüber schlittern konnte. Im Alter von vier oder fünf Jahren war sie einmal eingebrochen, an einem anderen See. Da hatte sie schmerzhaft erfahren müssen, wie kalt Wasser im Winter sein kann – aber seltsamerweise hatte das ihre Liebe zu besagtem Element und auch zu vereisten Seen und Weihern nie schmälern können. Sie war kein vorsichtiges Kind gewesen, eher vorwitzig, und bestimmt nicht ganz unanstrengend für eine ältere Schwester, die oft mit der Aufgabe betraut worden war, auf sie aufzupassen. „Ach Eldrid …“, murmelte Dagny fast unhörbar. Sie konnte immer noch nicht recht fassen, dass ihre Schwester wirklich tot war.


    Dagny hatte sich mehr als einmal von ihr verabschiedet. Zum ersten Mal bereits vor vielen Jahren, als Eldrid von dem Landgut der Duccier hierher in die Stadt gezogen war. Dagny war noch ein kleines Kind gewesen, damals, und hatte sich von der Person, die stets ihr Fels gewesen war, als ihre Mutter es nicht sein konnte, zurückgelassen gefühlt. Der zweite Abschied war ein noch tieferer Schnitt gewesen, als Eldrid ein paar Jahre zuvor nach Rom gezogen war, um dort zu heiraten. Dagny hatte damals bereits auf der Schwelle des Erwachsenwerdens gestanden und nicht mit dem kindlichen Trotz ihrer frühen Jahre reagieren können, aber es war eine weitere aufgezwungene Trennung gewesen, die sie nicht gewollt hatte. Die negativen Emotionen hatten sich nach und nach verflüchtigt, aber das enge Band, das die Schwestern einst miteinander verbunden hatte, lockerte die Distanz mehr und mehr. Eldrid war nie nach Mogontiacum zurückgekehrt und Dagny wusste im Grunde nicht, wie ihr Verhältnis gewesen wäre, hätten sie sich irgendwann als erwachsene Frauen gegenübergestanden. Sie hatte an Samhain ein weiteres Mal Abschied genommen – obwohl Abschied nicht wirklich das richtige Wort war. Niemand verschwand vollständig solange es noch jemanden gab, der sich an einen erinnerte. Eldrid würde immer in dem Anblick des Wassers, das bald vom Eis überzogen wurde, weiterleben … so wie in allen anderen Erinnerungen, die Dagny mit ihr verband.


    Sie lehnte sich an einen Baumstamm und schloss die Augen. Sie war erst seit wenigen Tagen wieder in der Villa ihrer Familie, vorher war sie auf dem Landgut gewesen, um ihre Mutter zu besuchen. Seitdem Witjon nicht mehr war, hatte sie sich verändert, brauchte oft Zeit für sich, nach der es ihr früher nie verlangt hatte. Früher hatte sie nie allein sein können, jetzt gab es Momente, in denen sie die Gegenwart anderer zu erdrücken schien. Es war einfach zu viel gewesen in letzter Zeit. Zuerst Eldrid, dann Audaod, dann Witjon. Nela auch noch. Und dann die Sache mit Vala. Sie wusste gar nicht, wie sie anfangen sollte, all das zu verarbeiten.


    „DAGNYYY!“ Ihr Bruder Rhaban. Wer sonst? Sie ignorierte ihn, in der Hoffnung, er würde gehen, aber nachdem er mehrfach nach ihr gerufen hatte, ging sie ihm ein paar Schritte entgegen. „Dagny! Hadamar ist hier!“ Dagny erstarrte. Was? Sie sah Rhaban dastehen und ihr mit einer Geste bedeuten, herzukommen. Sie beschleunigte ihre Schritte und als sie neben ihrem Bruder angekommen war, setzte auch dieser sich in Bewegungen Richtung Porta.


    „Hadamar? Seit wann?“

    „Seit grad eben. Er steht vor der Tür.“

    „Bist du dir sicher? Oder willst du mich verschaukeln?

    „Leif hat's mir gesagt, der hat ihn gesehen.“

    „Wehe, das stimmt nicht!“

    „Natürlich stimmt das, Leif ist meine beste Quelle.“

    Dagny schnaubte leicht. Beste Quelle. Klar. Aber sie traute Leif zu, Hadamar zu erkennen.

    „Außerdem hat er wen mitgebracht, einen fremdländischen Jungen.“


    Die beiden Geschwister bogen um die Ecke … und tatsächlich. Da standen Dagmar, Octavena und Farold, der mit großen Augen schaute, ein dunkelhäutiger junger Mann und … „Hadamar!“ Dagny vergaß ihre gute Erziehung und warf sich ihrem Bruder in die Arme. Endlich mal ein Wiedersehen und Willkommen – und kein weiterer Abschied!

  • Tariq entspannte sich, als Ilda ihn so nett willkommen hieß, und lächelte ihr ebenfalls zu. Er drehte sich um, als sie auf eine Person wies, die offenbar hinter ihnen stand. Er ging ein paar Schritte auf die Frau zu, neigte leicht zur Begrüßung den Kopf, als Hadamar ihn vorstellte, und sagte: „Freut mich, Dagmar.“ Neugierig fragte er sich, ob das wohl die Tante war, für die er den Schmuck hatte kaufen sollen. Dann ging es plötzlich Schlag auf Schlag, als weitere Verwandte von Hadamar auftauchten und ihn mehr oder weniger enthusiastisch begrüßten. Tariq war etwas überfordert. Einmal, weil plötzlich so viele Frauen da waren, reiche Frauen aus gutem Hause, mit denen er sonst nie etwas zu tun hatte, und bei denen er ehrlich gesagt auch nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Und zweitens, weil er Angst hatte, dass … na ja, nicht, dass Hadamar ihn nicht mehr brauchte, aber ... In Kappadokien hatte Hadamar immer gesagt, dass er wie Familie für ihn sei und ihn auch so behandelt. Aber jetzt war hier seine richtige Familie und Tariq wurde bewusst, dass er eigentlich ein Fremder war und nicht dazugehörte. Zum ersten Mal in seinem Leben und tatsächlich auch zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch aus Satala verspürte er Heimweh.


    Das überraschte ihn selbst ein wenig, denn er war der Meinung gewesen, dort gebe es nichts für ihn. Aber zum ersten Mal spürte er eine Verbindung zu dem Ort seiner Geburt, eine Verbindung jenseits von bestimmten Personen, die er nie wahrgenommen hatte, als er noch in Kappadokien gewesen war. Vielleicht war es doch so, wie einer der Geschichtenerzähler am Lagerfeuer mal gesagt hatte – jeder ist Teil seiner Heimat und trägt sie stets mit sich, egal wohin er geht. Damals hatte er das nicht verstanden, jetzt begann nach und nach eine Ahnung in ihm zu keimen, wie das gemeint gewesen war. Auch glaubte er jetzt besser zu verstehen, wieso der Händler Viridomarus damals so über Thrakien gesprochen hatte, wie er es getan hatte. Vielleicht begann man die Vorzüge erst dann zu verstehen und zu schätzen zu wissen, wenn man fort war.


    Tariqs Blick fiel auf den einzigen Anwesenden, der außer ihm auch leicht überfordert mit der Situation wirkte: der kleine Junge. Kinder waren Kinder, egal wo man war, und Tariq fühlte sich in dessen Gegenwart nicht zumindest nicht eingeschüchtert. Er lächelte ihm zu und hoffte, dass der Kleine keine Angst vor ihm hatte. Er hockte sich hin, damit er quasi auf Augenhöhe mit dem Jungen war und sagte auf Germanisch, da das hier alle zu sprechen schienen: „Heilsa, wie heißt du denn? Ich bin Tariq.“ Im Gegensatz zum Lateinischen und dem Koine, die er von klein auf gesprochen hatte, schwang in seinem Germanisch ein Akzent mit.

  • Kaum hatte er Dagmar begrüßt und Tariq vorgestellt, kam ein kleiner Junge mit Klamotten um die Ecke geflitzt, auf denen irgendwas herumgeschmiert war – und blieb wie erstarrt stehen, als er die beiden Besucher sah. Konnte eigentlich nur Farold sein, und Hadamar meinte in seinen Zügen durchaus etwas von Witjon erkennen zu können. Er grinste ihm zu und wollte ihn gerade auch begrüßen, als hinter dem Jungen Octavena auftauchte. Und das führte dazu, dass Hadamar für einen winzigen Moment innehielt. Er wusste noch sehr genau, wie sie sich kennen gelernt hatten – damals auf dem Markt, sie war damals ziemlich neu in Mogontiacum. Und er hatte geflirtet was das Zeug hielt, hatte sich Hoffnungen gemacht sie ins Bett zu kriegen. Sie hatten sich danach noch mal wieder gesehen, auf einem Frühlingsfest, aber auch da war er noch nicht erfolgreich gewesen – und dann war der Bürgerkrieg gekommen, und er hatte Mogontiacum verlassen. Als er sie das nächste Mal getroffen hatte, war sie Witjons Frau gewesen, und seitdem... nun ja: seitdem war es für ihn jedes Mal, wenn er sie sah, zumindest im ersten Augenblick... merkwürdig. Weil er sie gewollt hatte, weil sie die war, die er nicht gekriegt hatte, weil sie Witjons Frau war und sich das alles damit sowieso so was von überhaupt nicht gehörte, aber nun mal leider passiert war, bevor Witjon sie überhaupt kennen gelernt hatte.


    Meistens hatte sich dieser merkwürdige erste Augenblick jedes Aufeinandertreffens immer relativ schnell erledigt – indem er es schlicht ignorierte und tat als wäre nichts, was er ziemlich gut konnte. Aber der erste Augenblick, der war immer so gewesen, und daran hatten, ganz offensichtlich, auch die letzten Jahre der Abwesenheit nichts ändern können. Er sah sie für einen winzigen Moment länger an, als normal war ohne etwas zu sagen, dann gab er sich einen Ruck. „Heilsa, Octavena.“ Er lächelte zurück. „Ja, wir sind gerade erst ange-“ In dem Moment wurde er unterbrochen von einem Ausruf und jemandem, der ihm um den Hals fiel. Dagny. Jetzt breitete sich ein noch strahlenderes Grinsen über seinem ganzen Gesicht aus, während er sie fest in die Arme schloss, erst recht als er hinter ihr Rhaban erkennen konnte, den er kurzerhand ebenfalls für einen Moment an sich zog und mit umarmte, bevor er zumindest letzteren wieder losließ. Bei Dagny... war er sich gerade nicht so sicher, ob sie ihn schon loslassen würde. „Lass mir noch nen bisschen Luft zum Atmen“, meinte er verschmitzt.

  • Octavena registrierte sehr genau, wie Hadamar sie nur einen kurzen Moment länger als zu erwarten gewesen wäre ansah. Ganz so wie sie diesen Blick immer bemerkt hatte, der sie jedes Mal, wenn sie sich begegneten, so kurz streifte, dass er wahrscheinlich niemandem sonst auffiel. Vermutlich wäre er Octavena selbst nicht aufgefallen, wenn sie nicht grundsätzlich auf solche Details geachtet hätte, selbst wenn sie sie dann doch für sich behielt. Und auch jetzt überging sie die Reaktion wieder einmal geflissentlich mit einem Lächeln, auch wenn sie ihre Vermutung hatte, woher dieser Blick rührte. Aber wenn sie mit dieser Vermutung richtig lag, dann war der Grund dafür sowieso so lange her, dass da gefühlt ein ganzes Leben zwischen dem Mädchen, das Octavena damals gewesen war, und der Frau lag, die sie heute war. Ein ganzes Leben mit mehr Veränderungen als sie zählen konnte, inklusive ihrer Ehe mit Witjon. Witjon, dessen Tod nach wie vor irgendwo tief in Octavenas Brust wehtat, auch wenn sie meistens so tat, als ob es anders wäre.


    Sie schob den Gedanken eilig bei Seite, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Dagny auf ihren Bruder zuflog und damit die nächste Runde Begrüßungen begann. Während Octavena aber die sich nun entfaltende Szene ihrerseits gut gelaunt beobachtete, blieb ihr Sohn mit der allgemeinen Aufregung eher überfordert. Farold begriff vage, dass es sich zumindest bei einem der beiden Fremden um Verwandtschaft handeln musste, so wie die Erwachsenen ihn begrüßten, blieb aber verunsichert davon, dass er ihn trotzdem nicht richtig zuordnen konnte. Kurz sah er in Richtung seiner Mutter und überlegte, ob er besser an ihre Seite verschwinden sollte, auch wenn er damit seine gerade erst halbwegs gelungene Flucht direkt wieder zunichtemachte. Aber dann wandte sich der Jüngere der beiden Fremden ihm zu und seine Überforderung schlug in Neugier um. Das Germanisch des Fremden klang anders als das, das der Junge von seinen Verwandten und den Hausangestellten kannte, und er sah auch ganz anders aus. Beides weckte Farolds Aufmerksamkeit und so drehte er sich um und blickte Tariq neugierig an.


    "Heilsa. Ich bin Farold", antwortete er auf die Frage nach seinem Namen und wippte kurz etwas hin und her, jetzt doch etwas unsicher, was er sagen sollte und was vor allem ihm am Ende keinen Ärger mit seiner Mutter einbringen würde, weil sie wieder fand, dass er sich nicht gut genug benahm. Und er ahnte, dass sie es wahrscheinlich nicht für gutes Benehmen halten würde, wenn er Tariq rundheraus fragte, warum sein Germanisch so ungewohnt klang. Andererseits wusste Farold auch, dass seine Mutter bei Gesprächen auf Germanisch in der Regel nicht ganz so gut darin war, auf jedes Detail zu hören, das er sagte. Ganz besonders, wenn sie abgelenkt war, so wie jetzt, also war die Gefahr für Ärger gerade wahrscheinlich verhältnismäßig gering. Trotzdem entschied er, auf Nummer sicher zu gehen - man konnte schließlich auch nie wissen, wann vielleicht doch irgendwer von seinen anderen Verwandten genauer zuhörte - und seine Neugier vorsichtig zu formulieren. "Du klingst … anders."

  • Der Kleine drehte sich um und blickte Tariq an. Er stellte sich vor, was er wohl nicht tun würde, wenn er Angst hätte. „Freut mich, Farold“, antwortete er. Der Junge rang mit sich und wollte etwas sagen – und als er schließlich mit der Sprache herausrückte, musste Tariq grinsen. „Ja stimmt“, erwiderte er gut gelaunt. „Ich komme aus Cappadocia, das ist weit weg. Da musst du viele Tage reiten, bis du da bist. Und mit dem Schiff fahren.“ Bei dem Gedanken daran wurde ihm wieder etwas flau im Magen. Er hoffte inständig, dass er in nächster Zeit keins mehr betreten musste. „Da spreche ich andere Sprachen. Germanisch hat Hadamar mir beigebracht.“ Er wies mit dem Daumen auf Hadamar, der eine junge Frau umarmte – vermutlich die Schwester, von der sie dereinst gesprochen hatten.


    „Wie alt bist du?“ fragte er den Kleinen. Er wollte ihn jetzt nicht zutexten, aber es fiel ihm tatsächlich leichter, mit dem kleinen Jungen zu sprechen, der offensichtlich einfach nur neugierig war – so wie die meisten Kinder. Tariq fand ihn im Vergleich zu den Kindern, die er aus seiner Heimat kannte, sogar recht zurückhaltend. Aber zugegebenermaßen kannte er hauptsächlich Straßenkinder, die keine gute bzw. überhaupt keine Erziehung genossen hatten. Kurz huschte sein Blick zu der Frau, die in der Nähe von Farold stand und von der er vermutete, dass sie die Mutter war. Hoffentlich störte es sie nicht, wenn er mit ihrem Sohn sprach … einige reiche Frauen in Caesarea hatten ihn verscheucht, wenn er es gewagt hatte, mit deren Kindern zu reden. Andererseits war er damals auch ein ausgemergeltes Straßenkind gewesen … und das war jetzt auch wieder ein paar Jahre her. Seine Zeit mit Hadamar und Soufian hatte ihn ziemlich aufgepäppelt.

  • Dagny klammerte sich an Hadamar fest, als würde es ihren Untergang bedeuten, wenn sie losließe. Sie ignorierte Rhaban, der sich kurz dazugesellte und seinen Bruder ebenfalls zur Begrüßung umarmte. Sie war zu beschäftigt damit, ihre Fassung zurückzugewinnen. Wie viele Jahre hatte sie ihren Bruder jetzt nicht gesehen? Er war fortgegangen, als sie ein kleines Kind gewesen war und hatte bis auf ein kurzes Zwischenspiel bei der Legio hier immer irgendwo anders in der Welt gelebt. Ihre postalische Korrespondenz war in der Regel eher kurz geblieben – sie waren beide keine passionierten Schreiber. In ihren Briefen hatte sie meist Neuigkeiten aus Mogontiacum oder von der Familie mitgeteilt, persönliche Themen hatten kaum eine Rolle gespielt. Das Leben eines heranwachsenden Mädchens und das eines Soldaten hatten nun einmal wenige Berührungspunkte.


    Erst als Hadamar sie ansprach, ließ sie schließlich los. Tränen schimmerten in ihren Augen, eine löste sich und kullerte über ihre Wange nach unten. Gleichzeitig zierte jedoch ein strahlendes Lächeln ihr Gesicht. „Das bist du selbst Schuld. Wieso sagst du uns nicht, dass du kommst? Seit wann bist du hier? Bist du versetzt worden?“ Vermutlich war das so, denn Hadamar trug seine Uniform und keine zivile Kleidung. Sie konnte sich ihren Bruder auch nur als Soldaten vorstellen. Er hatte sich zur Armee gemeldet, als er sechzehn gewesen war, und nach allem, was sie wusste – aus seinen kurzen Briefen beispielsweise – hatte er die Entscheidung nie bereut. Er würde überrascht sein, wenn er hörte, wer jetzt hier war. Vielleicht wusste er es auch schon. Wahrscheinlich wusste er mehr als sie. Dagny biss sich bewusst auf die Zunge, um ihren Bruder nicht mit einem veritablen Wortschwall zu überschütten. Sie wollte ihm so viel erzählen und so viel wissen, aber dann würden sie nie von der Schwelle der Porta wegkommen. Sie warf dem Fremden, der mit Hadamar angekommen war und nun mit dem kleinen Farold redete, einen Seitenblick zu. Weshalb hatte Hadamar ihn mitgebracht? Wer war das überhaupt?


    „Aber vielleicht sollten wir drinnen weiterreden … es sieht so aus, als würd's gleich regnen.“

  • Der Kleine drehte sich um und blickte Tariq an. Er stellte sich vor, was er wohl nicht tun würde, wenn er Angst hätte. „Freut mich, Farold“, antwortete er. Der Junge rang mit sich und wollte etwas sagen – und als er schließlich mit der Sprache herausrückte, musste Tariq grinsen. „Ja stimmt“, erwiderte er gut gelaunt. „Ich komme aus Cappadocia, das ist weit weg. Da musst du viele Tage reiten, bis du da bist. Und mit dem Schiff fahren.“ Bei dem Gedanken daran wurde ihm wieder etwas flau im Magen. Er hoffte inständig, dass er in nächster Zeit keins mehr betreten musste. „Da spreche ich andere Sprachen. Germanisch hat Hadamar mir beigebracht.“ Er wies mit dem Daumen auf Hadamar, der eine junge Frau umarmte – vermutlich die Schwester, von der sie dereinst gesprochen hatten.


    „Wie alt bist du?“ fragte er den Kleinen. Er wollte ihn jetzt nicht zutexten, aber es fiel ihm tatsächlich leichter, mit dem kleinen Jungen zu sprechen, der offensichtlich einfach nur neugierig war – so wie die meisten Kinder. Tariq fand ihn im Vergleich zu den Kindern, die er aus seiner Heimat kannte, sogar recht zurückhaltend. Aber zugegebenermaßen kannte er hauptsächlich Straßenkinder, die keine gute bzw. überhaupt keine Erziehung genossen hatten. Kurz huschte sein Blick zu der Frau, die in der Nähe von Farold stand und von der er vermutete, dass sie die Mutter war. Hoffentlich störte es sie nicht, wenn er mit ihrem Sohn sprach … einige reiche Frauen in Caesarea hatten ihn verscheucht, wenn er es gewagt hatte, mit deren Kindern zu reden. Andererseits war er damals auch ein ausgemergeltes Straßenkind gewesen … und das war jetzt auch wieder ein paar Jahre her. Seine Zeit mit Hadamar und Soufian hatte ihn ziemlich aufgepäppelt.

    Ohne, dass er es wahrscheinlich hätte ahnen können, hatte Tariq Farold genau das richtige Stichwort gegeben. "Cappadocia?", fragte der Junge und seine Augen leuchteten auf. "Wie ist es da? Anders als hier?" Die Aussicht, etwas über einen weit entfernten Ort und damit etwas tatsächlich Neues zu erfahren, ließ ihn aufhorchen. In Farolds Welt waren zwar die meisten Orte außerhalb von Mogontiacum weit weg, aber das führte in Konsequenz auch nur dazu, dass er eben viele Orte interessant fand. Und im Gegensatz zu sonst hatte er jetzt die Chance, jemanden zu befragen, der von einem neuen Ort kam. "Meine Mutter kommt aus Hispania, das ist auch weit weg." Er grinste ein wenig und warf einen verstohlenen Blick in ihre Richtung, um sicher zur gehen, dass Octavena ihm gerade nicht zuhörte. "Deshalb spricht sie auch nicht gut Germanisch. Auch wenn sie alles versteht." Oder wenigstens alles, was Farold so von sich gab, und das war unpraktisch genug, weil er so selbst dann in Schwierigkeiten geraten konnte, wenn er kein Latein sprach. Und anders als seine Schwester, die sich selten irgendetwas sagen ließ, versuchte Farold eigentlich Ärger mit seiner Mutter zu vermeiden. Jedenfalls meistens. "Aber sag ihr besser nicht, dass ich dir das erzählt habe."


    "Ich bin sieben", verkündete er dann auf die Frage nach seinem Alter und streckte den Rücken ein wenig durch, gerade so als wäre sein Alter allein eine Leistung, auf die er ganz besonders stolz war. Er merkte so auch nicht, dass seine Mutter inzwischen wieder zu ihm hinübersah, aber nur still lächelte, als sie merkte, wie begeistert ihr Sohn zu sein schien. Und nachdem Tariq auch nicht so wirkte, als ob Farold ihm damit ernsthaft auf die Nerven ging, beließ sie es dabei, die Szene, die sich ihr hier bot, erst einmal stumm und aus sicherer Entfernung zu beobachten und sich nicht selbst einzumischen. Es reichte, wenn sich eines ihrer Kinder seit dem Tod seines Vaters immer weiter zurückzog, und Farolds oft noch wirklich sehr kindliche Begeisterungsfähigkeit war da eher etwas Gutes. Tatsächlich beruhigte und erleichterte Octavena das immer ein wenig, nicht zuletzt, weil sie sich so daran erinnert fühlte, dass wenigstens Farold noch immer ihr Kleiner war, während Ildrun in letzter Zeit mehr als deutlich machte, dass sie genau das nicht mehr sein wollte. Schon allein deshalb wollte Octavena weder Farold noch sich selbst seine gute Laune in diesem Moment kaputt machen, auch wenn sie sich eigentlich auch fragte, wen Hadamar da angeschleppt hatte.

  • Er hielt Dagny fest im Arm, bis sie von selbst Anstalten machte sich aus der Umarmung zu lösen, und spätestens als er danach die eine Träne sah, die sich über ihre Wange ihren Weg nach unten suchte, wurde ihm klar, dass das wohl richtig so gewesen war. Er wuschelte ihr kurz durchs Haar und erwiderte grinsend ihr Lächeln. „Tut mir leid, ich hätt ja geschrieben bevor ich aufgebrochen bin. Aber nachdem ich den Brief dann gleich selbst hätt mitnehmen können, so wenig Zeit wie der Marschbefehl für unsern Aufbruch gelassen hat, hab ich mir das gespart.“


    Er nickte, als Dagny davon sprach reinzugehen, und sie verlagerten das ganze vom Tor hinein.

  • Diverse Abklärungen und unauffällige Fragen in den Tavernen von Mogontiacum hatten ergeben, dass vermutlich der beste Ort um Petronia Octavena zu finden die Villa Duccia sein könnte.


    Daher begab ich mich zu dieser Villa und klopfte an.

  • Nachdem in letzter Zeit Ilda auffällig oft das Pech gehabt hatte, sich gerade in der Nähe des Eingangs der Villa aufzuhalten, wenn jemand klopfte, war es dieses Mal Octavena selbst, die an der Tür erschien. Eigentlich war sie selbst auf der Suche nach ihrer ewig mürrischen Tochter auf dem Weg nach draußen und dementsprechend eher mittelmäßig gelaunt. Ildrun hatte sich den ganzen Tag schon wieder irgendwo verkrochen, nachdem sie am Morgen kurz aneinander geraten waren, und langsam hatte Octavena mal wieder genug von diesem Theater. Ganz im Allgemeinen, aber auch heute im Speziellen. Sie war aber noch nicht einmal an der Schwelle nach draußen, da hörte sie das Klopfen und hielt überrascht inne. Kurz fragte sie sich, ob sie vergessen hatte, dass irgendwer heute einen Besucher erwartete, konnte sich aber an niemanden erinnern. Das bedeutete, dass sie entweder langsam vergesslicher wurde oder dass es jemand sein musste, der unangemeldet vorbeikam. In jedem Fall stand sie jetzt ohnehin schon vor der Tür, da konnte sie auch aufmachen, obwohl sie das sonst wohl eher irgendwem von den Angestellten überlassen hätte.


    "Salve", grüßte sie und achtete darauf, sich von ihrer eigenen Laune nichts anmerken zu lassen und stattdessen dem Fremden, der da vor ihr stand, mit einer ruhigen Höflichkeit zu begegnen. "Kann ich dir helfen?"

  • Eine Dame öffnete die Tür und grüsste höflich. Gleichzeitig fragte sie auch sofort, ob sie mir helfen konnte. Sie sah nicht aus wie eine Sklavin, dafür die Kleidung und Ausstattung der Dame zu gehoben, also entschied ich mich schnell, sie wie die Domina des Hauses zu behandeln. Im schlimmsten Fall war sie trotzdem eine Sklavin, dann war das vielleicht ungewohnt, aber falsch konnte es nie sein.


    Salve domina, vielleicht kannst du mir wirklich helfen. Mein Name ist Selenus und ich bin aus Roma gekommen, um eine Dame mit Namen Petronia Octavena zu suchen. Senator Lucius Annaeus Florus Minor schickt mich mit einem Auftrag zu genannter Dame. Ich habe die Information erhalten, dass die Dame hier zu sprechen sein könnte.

  • Octavena hob nun doch überrascht die Brauen, als sie das hörte. Was konnte ein Senator in Rom von ihr nur wollen? Noch dazu einer, von dem sie sich nicht einmal entfernt erinnern konnte, jemals auch nur ums Eck mit ihm zu tun gehabt zu haben.


    "Nun, du hast mich gefunden", erwiderte sie an Selenus gewandt und legte erwartungsvoll den Kopf schief. Bei der Vorstellung ging sie ganz automatisch davon aus, dass sie schlicht einen Boten vor sich hatte, der vermutlich auch gleich wieder würde verschwinden wollen, sobald er seine Pflicht getan hatte. "Ich bin Petronia Octavena. Ich nehme an, du hast eine Nachricht für mich?"

  • Der Eindruck hatte also nicht getäuscht. Ich hatte nicht eine Sklavin vor mir, sondern eine Dame aus gehobenem Hause. Wenn die Informationen von Florus korrekt waren, dann gehörte sie sogar dem Ordo Equester an. Entsprechend verhielt ich mich nun also:


    Domina Petronia Octavena. Es freut mich sehr, dich gefunden zu haben. Senator Lucius Annaeus Florus Minor hat mich mit einem Auftrag zu dir geschickt, der nicht durch das Überbringen einer einfachen Nachricht zu erledigen ist. Die Angelegenheit betrifft einige Ländereien deines verstorbenen Mannes, welche an diejenigen des Senators angrenzen. Die dortigen Verwalter haben den Senator gebeten, seine Ressourcen zu mobilisieren, um dich zu kontaktieren, weil es ihnen nach dem Tode deines Mannes nicht gelungen zu sein scheint.


    Sollte meine Anwesenheit heute ungelegen sein, so nenne mir doch bitte einen Termin, wann ich mich mit dir über die Anliegen deiner Verwalter und das Angebot des Senators in Ruhe unterhalten kann.


    Ich erwartete keineswegs, dass man mich so unangemeldet in einer derartigen Angelegenheit sofort empfangen würde. Die Dame wollte sicherlich auch zuerst Erkundigungen anstellen und die Unterlagen zu den betroffenen Grundstücken suchen und sichten, bevor sie sich mit mir unterhielt. Doch es war wichtig, dass sie von Anfang an wusste, dass es um ein grösseres Anliegen ging, nicht bloss um eine Nachricht.

  • Ganz kurz runzelte Octavena die Stirn. Es ging um Land, das an das dieses Senators angrenzte? Und die Verwalter dort hatten den Annaeus um Hilfe gebeten? Das passte alles irgendwie nicht so richtig zusammen. Sie war zwar nach wie vor dabei, sich einen detaillierten Überblick über das Erbe ihres Mannes zu verschaffen, aber diese Stichwörter sagten ihr so gar nichts. Meinte der Fremde etwa Land in Italia? Bei Witjons Besitz hier in Germanien hatte Octavena jedenfalls inzwischen das Gefühl, halbwegs durchzublicken, und da hätte ohnehin kein Verwalter jemals ernsthafte Probleme gehabt, sie zu kontaktieren, nicht einmal in den besonders schweren ersten Monaten nach dem Tod ihres Mannes. Das ergab alles so keinen Sinn.


    Aber ganz egal, worum genau es ging, sie brauchte zuerst ein paar genauere Informationen, um die Angelegenheit überhaupt auch nur ansatzweise einordnen zu können. Also öffnete sie die Tür vollends und trat dann einen Schritt zur Seite, um Selenus zumindest einmal in die große Halle dahinter eintreten zu lassen. "Nein, ich habe jetzt zumindest einen Moment", sagte sie dabei, wobei sie sich immer noch nicht sicher war, was das alles zu bedeuten hatte, und deshalb ihre Antwort mit Bedacht formulierte. Wahrscheinlich hätte sie auch länger als einen Moment Zeit gehabt, aber damit hielt sie sich für alle Fälle die Option offen, zuerst einmal zu erfragen, worum es denn genau ging, und den Fremden im Zweifelsfall erst einmal wieder wegzuschicken, wenn sie auch dann noch nichts mit seinen Beschreibungen anfangen konnte und erst einmal selbst einen Blick in Witjons Unterlagen werfen musste. "Um welche Ländereien geht es genau?", fragte sie, nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte und beobachtete Selenus dabei mit einer gewissen vorsichtigen Neugier. "Und warum schickt dich ein Senator aus Rom deshalb bis nach Mogontiacum, nur um mich zu sprechen?"

  • Was ich nicht erwartet hatte, geschah. Petronia Octavena öffnete die Tür und lud mich ins Haus ein. Ich folgte der Einladung bis in die grosse Halle dahinter. Die Häuser hier waren anders gebaut als jene in Italia, aber das erstaunte kaum jemanden ausser die Ignoranten, welche dachten, dass jeder zivilisierte Mensch automatisch reinrassiger Römer sein musste.


    In der dann folgenden Frage schwebte eine gewisse Portion Unsicherheit mit, doch das war Petronia Octavena nicht zu verdenken. Immerhin war sie gerade von einem "Niemand" überrascht worden. Geduldig setzte ich an, um ihr den Sachverhalt zu erklären.


    Domina, es geht um Ländereien in Italia. Sie liegen alle in der Nachbarschaft der Ländereien des Senators Annaeus Florus Minor. Dies ist sicherlich kein Zufall, denn die Duccii und die Annaei sind durch Heirat verwandt. Duccia Sorana war eine Art Tante des Senators durch die Heirat mit Kaeso Annaeus Modestus. Kaeso Annaeus Modestus war ein Cousin des Lucius Annaeus Florus, Vater des jungen Senators.
    Die familiären Bande spielten nicht nur bei den Römern eine Rolle, sondern noch viel mehr bei den germanischen Stämmen. Daher empfand ich es als wichtig, diese Information gleich am Anfang zu präsentieren. Hier ging es nicht um irgendeinen Senator weit weg in Rom, nein, hier ging es im weitesten Sinne um Familie. Immerhin war auch Petronia Octavena in der Villa Duccia verblieben, nachdem ihr Ehemann verstorben war.


    Der Senator und ich haben bei unserer letzten Kontrolle seiner Ländereien bemerkt, dass die Ländereien deines .... nein, entschuldige, DEINE Ländereien, scheinbar ein Problem haben mit der Wasserzufuhr oder der Anzahl der Arbeitskräfte. Auf jeden Fall war es offensichtlich, dass diese Gebiete nicht den möglichen Ertrag erbrachten. Daher haben wir uns erlaubt, die Verwalter aufzusuchen und nachzufragen, ob wir helfen könnten. So haben wir erfahren, dass es tatsächlich Probleme mit der Wasserversorgung gibt. Da die Gebiete wie gesagt direkt an die des Senators grenzen und familiäre Bande bestehen, kennen sich die Männer schon länger. Der Senator hat mich daher beauftragt, den langen Weg hierher nach Germania zu machen und dich über die Probleme zu informieren.
    Dass ich auch ermächtigt war, der Dame ein Kaufangebot zu unterbreiten, das war hier noch zu früh auszusprechen. Zuerst sollte sie die Möglichkeit haben, sich mit den Begebenheiten vertraut zu machen.

  • Octavena ließ Selenus in Ruhe ausreden und hörte sich einen Moment lang nur an, was er zu sagen hatte. Ein wenig amüsierte sie sich zwar darüber, dass er ihr extra noch einmal die Verbindung zwischen den beiden Familien erklärte, ließ sich aber davon nichts anmerken. Er konnte ja nicht wissen, dass Octavena nach wie vor mit Eldrids Geschwistern unter einem Dach lebte und schon allein deshalb sehr wohl wusste, dass sie einen Annaeus in Rom geheiratet hatte. Und zumindest die Verwandtschaftsverhältnisse auf annaeischer Seite sagten Octavena auch tatsächlich nichts. Aus der Formulierung mit der Tante zog sie aber zumindest einmal, dass der Senator ihrer Schwägerin wohl halbwegs nahe gestanden haben musste. Das machte es immer noch etwas überraschend, dass das für ihn genügte, um jemanden bis nach Mogontiacum zu schicken, nur um die Witwe eines Vetters dieser entfernt angeheirateten Tante zu kontaktieren, aber andererseits wusste Octavena nur zu gut, dass selbst entfernte Verwandtschaftsverhältnisse manchmal zu solchen Konstellationen führen konnten. Sie konnte das ja selbst ihrerseits nachfühlen, auch wenn das mehr an ihrer eigenen Biografie lag, die sie einmal quer durchs Reich und weit weg vom Großteil ihrer eigenen Familie geführt hatte, die sie seitdem ja auch nicht wiedergesehen hatte.


    Die Ländereien dagegen sagten Octavena noch immer nicht nennenswert etwas, was aber natürlich nur zu dem passte, was Selenus beschrieb. Octavena hatte es sowieso lange - zu lange - vermieden, sich überhaupt näher mit dem Erbe ihres Mannes auseinander zu setzen, da überraschte es sie nicht wirklich, dass es noch immer Teile davon gab, die sie nicht richtig überblickte. Was aber nach wie vor keinen Sinn ergab, war die schlechte Pflege, von der Selenus hier durch die Blume sprach. Witjon hatte sich immer gut um seinen Besitz gekümmert, das war überhaupt erst ein Grund gewesen, warum Octavena sich verhältnismäßig konsequenzenlos vor dem Thema hatte drücken können. Auch auf das Land in Italia konnte sie sich noch nicht ganz einen Reim machen. Soweit Octavena wusste hatte Witjon doch immer vor allem Geschäfte in Germanien gemacht. In Rom und Italia waren andere ... Und damit dämmerte es ihr. Audaod. Natürlich. Der Teil von Witjons Unterlagen, den Octavena bisher nicht einmal oberflächlich angesehen hatte, weil darin ohnehin einiges wild durcheinander zu gehen schien - was auch nicht überraschend war, wenn man bedachte, dass Witjon den Tod seines ältesten Sohns nicht gut weggesteckt hatte. Und nachdem Octavena ihrerseits auf eine ähnliche Weise monatelang um die Unterlagen ihres Mannes herumgeschlichen war, hatte dieser Teil nun auch auf ihrer Prioritätenliste ziemlich weit unten gestanden. Vorausgesetzt, ihre Vermutung stimmte. Aber das würde sie alles in Ruhe klären müssen.


    "Ich danke dir dafür, dass du den weiten Weg hierher gemacht hast, um mir Bescheid zu geben", erwiderte sie also, als Selenus geendet hatte, und lächelte freundlich. "Und richte auch dem Senator meinen ehrlichen Dank aus, es ehrt ihn, dass er sich diese Mühe gemacht hat. Mir war nicht klar, dass die Verwalter dort Probleme haben und mich nicht erreichen konnten. Italia ist von hier aus nun einmal weit weg und manchmal ist es doch nicht ganz einfach, Nachrichten hin und her zu schicken." Sie wandte sich in der Annahme, dass die Sache damit erledigt war, wieder der Tür zu. "Ich werde einen Blick in meine Unterlagen werfen und mich dann darum kümmern."

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