Erst als Manius Minor aus dem Officium seines Vaters war getreten und die Türe geschlossen hatte, wagte er es seinen blutenden Finger zu inspizieren, dessen er bisherig überhaupt nicht war gewahr geworden. Nun jedoch, da er das Blut über seine Fingerglieder, die Handfläche und schließlich den Arm rinnen sah, verspürte auch er einen sanften Schwindel, der ihm ein klägliches
"Patrokolos!"
, entfleuchen ließ. Selbstredend stand der Sklave, welcher für gewöhnlich im Servitricium mit seinesgleichen speiste, nicht sogleich parat, sodass umnebelt von Opium und vehementen Emotionen er durch die Gänge der Villa Flavia Felix wandelte, bis zufällig ein Sklave ihn erblickte, erschrocken ihm zu Hilfe eilte, seine Serviette als provisorischen Verband ihm reichte und ihn final in sein Cubiculum bugsierte, um endlich seinen Leibdiener zu holen.
Kaum hatte der namenlose Lakai den Raum verlassen, eilte der junge Flavius zu jener Truhe, in welcher er seinen Vorrat an Opium aufzubewahren pflegte, griff mit zitternden Händen nach einem darin befindlichen Fläschlein, leerte es mit einem einzigen gewaltigen Zug, ohne sich mit Nihilitäten wie der stilvollen Bereitung des Morpheus-Trunkes in dem hierfür bereitstehenden Becher, welcher von Reliefs mit den Heldentaten des Achilleus war geziert, aufzuhalten. Der vertraute Gustus jener milchigen Substanz allein bereitete dem Jüngling bereits erste Linderung seines Schmerzes und hastig schluckte er den bitteren Trank hinab, begierig, seine Wirkung zu verspüren: jenes erquickliche Gefühl der Leichtigkeit, welches alltäglich sämtliche Sorgen seines gramvollen Lebens wie unter einer weichen, warmen Decke verbarg, um dem süßen Nichts Raum zu gewähren, in welchem er nur allzu gerne verweilte, die Ruhe genüsslich verkostend und jedwede Disturbation ignorierend.
Obschon er sich bereits vor dem Gespräch einen Schluck hatte genehmigt, bedurfte er jetzt noch sehr viel dringlicher jenes fluiden Glückes, das seine Droge allein ihm zu gewähren vermochte. Er wollte entfliehen vor jener greuelichen Welt: vor der Verantwortung für seine Familia, welche niemals er sich hatte erkoren und die nichts als Last tagein tagaus ihm war gewesen; vor der infantilen Furcht seiner Privilegien verlustig zu gehen, würde er es wagen den Weg des Epikur mit ultimativer Konsequenz zu folgen; vor dem Wahnsinn seines Vaters, der augenscheinlich beständig neue Wege ersann, wie er seinen Sohn durch sein Verhalten zu torquieren imstande war. Sein Vater.
"Va'e'"
, lallte er den Grund seines Laborierens, da die Motorik seines Mundes bereits vom Opium war betäubt, während sein Geist noch immer höchst lebendig um die Drohungen Manius Maiors kreiste: Wortwörtlich hatte er prophezeit, nicht nur das Leben seines Erstgeborenen, sondern auch das seines jüngsten Sohnes zu destruieren! Warum hatte sein Vater nun auch den unschuldigen Titus in ihren Machtkampf involviert? Warum nur hasste sein Vater ihn so sehr, dass nichts mehr von Bedeutung war als ihm Schmerz zu bereiten? Hatte er nicht seit seiner Bekehrung beständig nur versucht, mit den Menschen in Frieden zu leben, um eben derartige Animositäten zu verhindern? Wie nur war es dennoch dazu gekommen?
Uneingedenk des Umstandes, dass auch seine Beine inzwischen ihren Dienst hatten quittiert, sodass er gleich einem nassen Sack in sich zusammengesunken am Rande der Truhe kauerte, griff er erneut nach deren Interieur und zog ein weiteres Fläschlein empor, entkorkte es nach mehreren Versuchen seiner tauben Finger und nahm noch ein wenig mehr von dem bitteren Trunke.
Nun endlich dämmerten langsam seine blendend hellen Gedanken, stumpften Furcht, Selbstmitleid und Irritation, ja sämtliche Emotionen weiter ab. Sein Atem kalmierte sich. Dem Schmerz wich die Gleichmut. Er begann zu schweben.
~~~
Langsam stieg er empor, immer klarer seinen eigenen Leib erblickend, welcher noch immer in völliger Relaxation neben der Opium-Truhe darnieder lag. Anstatt jedoch an der Kassettendecke seines Cubiculum Einhalt zu erhalten, schwebte er immer weiter, über das Dach der Villa Flavia Felix, über den Quirinal und sämtliche der sieben Hügel Roms hinauf in die Lüfte.
Doch anstatt Icarus gleich unermüdlich der Sonne zuzustreben, verschwand selbige mit einem Male und hinterließ finstre Nacht, ja infinite Dunkelheit. Derangiert verharrte er, nunmehr wieder auf einem Boden sich erfindend, blickte um sich und erkannte endlich ein Licht in weiter Distanz.
Zaghaft wandte er sich der Quelle ihres bescheidenen Scheines zu, setzte endlich einen Fuß vor den anderen und begann so, sich jenem mysteriösen Lichte zu approximieren, welches so verheißungsvoll das Dunkel durchbrach.
Eiliger und eiliger ward sein Schritt, strahlender und strahlender, ja immer voluminöser ward der gleißende Schein, bis links und rechts er ihn vernehmlich umgab und zugleich erfüllte, ja ihm offenbarte, dass er in einem Tunnel sich befand und Satz um Satz dem Eingang (oder mochte es ein Ausgang sein?) zustrebte.
Freude befiel ihn, motivierte ihn noch hurtiger sich zu bewegen, da doch Glückseligkeit es musste sein, was jenen begehrenswerten Glanz mochte entfalten. Vehementer wurde diese Hypothese mit jedem Digitus der Approximation, steigerte sich zur Gewissheit, als schlussendlich er das Ziel hatte erreicht und aus dem Schatten jener schwarzen Röhre hinaus ins Licht trat...