Beiträge von Claudia Antonia

    Ganz gleich, wie prüde, schamhaft und verklemmt Antonia sein mochte - und sie war es in einem enormen Maße - sie wusste, was in der Welt vor sich ging. Und sie wusste, dass eine Frau ihres Standes sich für gewöhnlich wenigstens einen Liebhaber hielt, sei es ein Standesgenosse oder einfach nur ein Gladiator. So fiel es ihr keineswegs schwer, sich das von Celerina geschilderte Szenario vor Augen zu rufen. Doch vermochte auch die Abstrahierung des Problems nicht davon abzulenken, dass die Verwandte zweifellos von sich selbst sprach. Daher nickte Antonia verständig und betont langsam, während im Hintergrund bereits abertausende Szenen vor ihrem geistigen Auge erschienen, in welchen sie darüber sinnierte wann und wie dieses Missgeschick zustande gekommen sein mochte. Seit Wochen hatte die Flavia schließlich das Haus nicht mehr verlassen, nicht seit..
    Glücklicherweise hatte Celerina bereits verschämt die Augen gesenkt, hätte sie doch ansonsten einen Blick Antonias gesehen, der finsterer und rachsüchtiger nicht hätte sein können. Nicht allein, dass man die Ärmste entführt hatte, nein, offenbar hatte man ihr auch noch Unaussprechliches angetan. Eine andere Möglichkeit sah die Claudia nicht, war die Flavia nach ihrer Entführung doch kaum in der Lage gewesen, einen solchen.. Akt über sich ergehen zu lassen und davor.. nun, wäre es davor geschehen, hätte sie gewiss nicht derartige Hemmungen, sich zu offenbaren. Der finstere Blick verschwand wieder, stattdessen senkte nun auch Antonia die Augen. Wut wich Angst, Zorn wich Hilflosigkeit. Was sollte sie ihr nur sagen?
    Als sie endlich bemerkte, dass sie den Atem angehalten hatte, schnappte sie schließlich nach Luft, erhob sich, entließ Celerinas Hand aus ihrer Umklammerung und ging stattdessen einige Schritte durch den Raum. Für gewöhnlich war Antonia nicht diejenige, die große Stärke in Notzeiten zeigte, jedenfalls nicht in ihren eigenen Augen. Und doch bat Celerina sie, ausgerechnet sie, um Hilfe. Es galt nun, sich dieses Vertrauensbeweises auch als würdig zu erweisen. Ohnehin schon hatte sie, kaum war die Schilderung gehört worden, bereits gewusst, welchen Rat sie der Flavia geben würde.
    "Du musst es los werden.", sagte sie, so schlicht, als spräche sie von einem alten Kleidungsstück. Und für sie war es wohl kaum mehr. Das Kind eines Verbrechers, gar ein Verbrechen selbst, ein Bastard, nicht würdig, in eine patrizische Familie geboren zu werden. Mit einem Ruck wandte sie sich um, schritt auf Celerina zu und ging schließlich vor ihr in die Hocke, abermals mit beiden Händen die der Freundin umfassend. "Dir ist Schreckliches zugestoßen, Celerina. Und ich kann dir nicht sagen, wie sehr es mir Leid tut, dass du all das ertragen musstest. Aber.. du kannst es unmöglich behalten. Unmöglich, dieses.. Du kannst Corvinus kein fremdes Kind unterschieben.. schon gar nicht ein solches."
    Die Mühe, nach wie vor von einer theoretischen Annahme auszugehen, machte die Claudia sich erst gar nicht. Wozu sollte die Flavia eine derartige Frage stellen, wenn sie rein hypothetisch wäre?


    Einziges Problem war - Antonia gab zwar den unmissverständlichen Rat, ja Befehl, einer Abtreibung, hatte jedoch selbst keine Ahnung, wie so etwas vonstatten ging. Allerdings fand sich hierfür gewiss fachkundiger Rat.. allein in ihrem eigenen Freundeskreis hatte sie einige "Kandidatinnen" hierfür.

    Heiss und durchdringend fühlte Antonia Celerinas Blick auf sich liegen. Spürte förmlich, wie sich ihre dunklen Augen durch die ungeschützte helle Haut der Claudia bohrten, die schützende Schale wegätzten.. erst als die Flavia das Wort wieder an sie richtete, bemerkte Antonia, dass sie sich in einem Tagtraum verloren hatte. So schrak sie ein wenig zusammen, als sie die unerwartete Stimme hörte, richtete ihren Blick auf die andere Frau, wie das Reh, das vom Jäger gestellt wurde. Peinlich berührt über ihre eigene Ungeschicklichkeit und Unaufmerksamkeit zuckten ihre Mundwinkel einen Moment nach oben, ein laienhaftes Lächeln formend um doch gleich wieder zum emotionslosen Strich zu verkommen. Celerinas Versicherung, es ginge ihr gut, vermochte für einen Moment die Nervosität Antonias zu legen, erlaubte ihr sich einige Augenblicke der Illusion hinzugeben, man könne nun, da das Eis gebrochen war, dazu übergehen wie früher über Mode und den aktuellen Klatsch zu sprechen.
    Doch noch ehe sie 'Das freut mich zu hören' formulieren konnte, wandelte sich Celerinas Miene. Alle aufgesetzte Fröhlichkeit wich, unaufhaltsam wie die Sonne dem Mond wich, ließ nur eine Celerina zurück, die für Antonia nicht angsteinflößender hätte sein können.
    "Meine Hilfe?", krächzte die Claudia, die eindeutig auf dem falschen Fuß erwischt worden war. Sicher, innerlich hatte sie sich auf fast alles vorbereitet.. jedoch nicht darauf, dass Celerina sie, augenscheinlich verzweifelt, um Beistand bitten würde. Sie schalt sich in Gedanken bereits eine dumme Gans. Wie oft hatte man ihr in diesem Hause geholfen, wie oft hatte es eine Schulter zum anlehnen, ein Verwandter zum Trost ihr geboten. Und wie oft hatte sie an den Gitterstäben gerüttelt..
    Sie fasste sich ein Herz, überwand den Fluchtreflex, der ihr bereits seit sie den Raum betreten hatte unaufhörlich einflüsterte, es sei Zeit zu gehen, und rutschte auf ihrem Sessel nach vorne, mit ihrer Hand die Celerinas ergreifend.
    "Natürlich.. natürlich werde ich dir helfen. Was ist denn nur los?"

    Mit Argusaugen überwachte Antonia die Schreibarbeit ihres Sohnes, dem, wie allen Anfängern in diesem Metier, die scheinbar so simplen Linien keineswegs einfach von der Hand gehen wollten. Antonia wäre jedoch nicht Antonia, sähe sie in den krummen Strichen nicht eine vollendete Kunst, die perfekteste Art, jene Buchstaben zu formen. So kam es, dass sie, als Minor den Stylus wieder absetzte, zufrieden nickte und sich ein feines Lächeln gestattete, während ihr Kinn sich ein wenig nach vorn reckte. "Hervorragend.", lobte sie.


    Die so unschuldig formulierte Frage des jungen Flavius entlockte der Claudia schließlich doch ein Kichern, welches sie, um den Sohn nicht zu hemmen, umgehend wieder ersterben ließ. "Hm.. ", brummte sie stattdessen, den Kopf schieflegend, wie sie es oft tat, wenn sie nachdachte. Kennst du das Geheimnis eines guten Buchs, Minimus?, fragte sie und legte eine rhetorische Pause ein, um mit einem Zwinkern schließlich fortzufahren. "Es baut Spannung auf. Es verrät nicht sofort das Ende. Und genau so sollten wir es bei deinem Brief auch machen."
    Gewiss, Gracchus würde sofort sehen, dass ein ungeübter Schreiber die Zeilen verfasst hatte. Und es war unumgänglich, dass er auf Anhieb Rückschlüsse ziehen würde, dass er zweifellos augenblicklich auf die Idee kommen musste, dass sein Sohn Verfasser jenes Schreibens war.. im wortwörtlichen Sinne, denn dass sein Sohn ihm schrieb ließ sich zwangsläufig bereits aus der Anrede schließen. Vielleicht las er den Brief auch gar nicht selbst? Dunkel erinnerte sich Antonia, dass Gracchus nach seinem ersten Anfall kaum mehr der Artikulation, geschweigedenn des eigenständigen Lesens mächtig war, wie mochte es dieses Mal sein? Wie schrecklich wäre es, könnte er die erste Epistel seines Sprosses gar nicht selbst entziffern.
    "Du könntest dich beispielsweise erst einmal nach seinem Befinden erkundigen.", schlug sie schließlich vor, den Bogen von ihren Gedanken zum eigentlichen Thema schlagend. "Anschließend bestünde die Möglichkeit, eine Frage zustellen.. wie 'Rate, was ich nun schon kann.'. Den Zwischenraum von Frage und Antwort füllst du schließlich mit einigen anderen Dingen, die du getan hast, seit er.. aufbrechen musste, um am Ende dann zu offenbaren, dass du es selbst warst, der diesen Brief geschrieben hat."


    Die Versicherung des Knaben, es sei ihm keineswegs zu heiß, quittierte die Claudia abermals mit einem "Hm.", war sie sich doch nicht gänzlich sicher, ob Minor selbst bereits bestimmen konnte, wann es zu warm für ihn war. Doch da der Sklave bereits seine schweisstreibende Arbeit des Abkühlens begann, beschloss sie, es vorerst dabei zu belassen.

    Dass ihre Wort in Minor, wie auch bereits so oft in ihrem Gatten, ein gewisses Unwohlsein auslösten, entging Antonia selbstverständlich. Niemals hätte sie absichtlich Zweifel in ihrem Sohn hervorrufen wollen und hätte sie geahnt, dass sie Selbiges stets tat, sie würde wohl den Rest des Lebens schweigend verbringen.
    Noch ehe sie anschließend die Frage nach der Schreibart eines ‚L’s beantworten konnte, sprudelten bereits die Ideen und Erlebnisse aus dem kleinen Jungen, die nun strukturiert in ein Schreiben gepresst werden wollten. Geduldig wartete sie, bis der erste Impuls abebbte und sie diesen mit einem Nicken quittieren konnte. Doch zunächst seine Frage beantwortend ergriff die Claudia tatsächlich den Stylus und drehte die Wachstafel zu sich. “Ein ‚L‘.“, intonierte sie und ritzte den entsprechenden Buchstaben in eine untere Ecke des Wachses, um dem Sohn das entsprechende Beispiel zu geben. “Hier. Siehst du, es ist ganz leicht.“, versprach die Mutter und reichte mit aufmunterndem Nicken das Schreibgerät an den Sohn zurück.
    “Dann berichten wir deinem Vater am besten zunächst von deinen großen Fortschritten beim Lesen und Schreiben. Was glaubst du wie stolz er sein wird, wenn er davon liest.. umso mehr, wenn du es selbst geschrieben hast.“
    Wie gerne würde sie selbst Gracchus‘ Reaktion sehen, wenn er die kindliche Schrift mit seinem eigenen Sohn verband. Doch zunächst musste der Brief noch mit Inhalt gefüllt werden, weshalb sich Antonia derlei Tagträumereien erst einmal wieder verbat und die Aufmerksamkeit für einen Moment gen Himmel richtete, von welchem unbarmherzig die Sonne brannte.
    “Ist dir zu warm hier draußen, mein Herz?“
    Eine Antwort gar nicht erst abwartend schnippte sie nach einem nahen Sklaven, der mit einem Palmwedel bereit stand und sich nun hinter dem jungen Flavius platzierte, um diesem kühlere Luft zuzufächern. “Du sagst es, wenn du hinein gehen möchtest, ja?“
    Sie selbst griff nach einem mittlerweile gefüllten Glas, in dem sich der obligatorische Fruchtsaft befand.

    Zufrieden mit dem Anblick ihres Sohnes, gestattete Antonia sich einen genügsamen Gesichtsausdruck. Die Hand Minors ergreifend, ging sie gemäßigten Schrittes ins kleine Triclinium, erwartete sie zum einen noch keine Gesellschaft seitens der restlichen Familie beim Essen und andererseits verspürte sie keinerlei Bedürfnis bereits jetzt über die plötzliche Abreise ihres Gatten zu sprechen. Zumal sie selbst alles andere als ausreichend über seinen derzeitigen Zustand informiert war. So wurde es ein eher intimes und recht kurzes Mahl, denn wenn sie auch viele Angewohnheiten seit Minors Geburt abgelegt hatte, die Tatsache, dass sie ein eher spärlicher Esser war, würde wohl auf ewig so bleiben.

    Celerina dachte nicht daran, Antonia vor einer peinlichen Situation zu bewahren, im Gegenteil, sie bat sie herein, freute sich offensichtlich gar über ihr Erscheinen. Das eigene Unbehagen zum Wohle der armen Flavia hintan stellend trat sie also ein, in jenen Raum, in dem zunächst noch die Dunkelheit herrschte. Die Claudia kannte Phasen, in denen man jegliches Licht und jeden Menschen aus seiner Umgebung verbannte nur zu gut, vor Jahren hatte sie sich selbst dergestalt eingesperrt und vor der Welt verborgen. Doch weniger aufgrund traumatischer Erlebnisse und vielmehr aus Selbstzweifeln und Angst. So sagte sie nichts weiter hierzu, nickte lediglich, scheinbar verständig, als Celerina die Sklaven beschuldigte.
    Den angebotenen Platz dankbar annehmend, wusste sie auf diese Art doch wenigstens einen Ort für ihre Hände, setzte sich die Claudia hin, bemüht Celerina nicht zu direkt anzusehen. Schließlich wollte sie sie nicht in Verlegenheit bringen. Wer konnte schließlich sagen, wie schlimm die Verletzungen noch waren. Antonia zumindest wollte es nicht zu genau wissen.
    Stille drohte sich über die beiden Frauen zu senken, weshalb die Claudia sich genötigt sah, nun doch die unausweichliche Frage zu stellen.
    “Wie geht es dir denn, meine Liebe? Sorgt man gut für dich?“

    Die Selbstverständlichkeit, mit der Minor sich in der Mitte des Raumes, einem Rituale gleich, platzierte, ließ Antonia schmunzeln. Völlig selbstredend stand er dort mit erhobenen Armen und wartete geduldig auf die Sklaven, die, wie er wusste, früher oder später kommen würden, um ihren kleinen Herrn auszustaffieren.
    Ebenso selbstverständlich war es für die Claudia, dass nicht sie selbst Hand anlegen würde, um den Sohn aus seinem Nachtgewand zu befreien und ihn stattdessen in eine Tunika zu stecken. Ein solcher Gedanke war ihr derartig fern, dass sie wohl nicht einmal daran gedacht hätte, wäre ihr nicht bewusst, dass gleich vor der Tür wenigstens ein oder zwei Sklaven warten mussten. Und tatsächlich erschien auf einen kurzen Ruf hin einer von unzähligen flavischen Haushaltsgegenständen und ging nach einem Fingerzeig Antonias seiner Pflicht nach. Einem weiteren trug die frisch gebackene Strohwitwe auf, für sich und ihren Sohn ein Frühstück zubereiten zu lassen, woraufhin Sklave 2 in Richtung Küche entschwand.
    “Fertig?“, fragte sie letztlich den Sohn und nicht den Sklaven, streckte ihm eine Hand entgegen und ging bereits einige Schritte zur Tür hin. “Dann komm, Minimus.“

    “Salve, Papa.“, wiederholte Antonia die schlichte Grußformel. In ihr begann es umgehend zu rumoren. Sie selbst hätte sich gewiss über jeden Brief ihres Sohnes gefreut, wäre sie an Gracchus‘ Stelle, ganz gleich ob dieser nun mit „Salve Mama“ oder „Geliebte Mutter, ich sende dir diesen Brief aus der Heimat“ begann. Doch bei ihrem Gatten war die Claudia sich unsicher. Eine solch vollkommene Gestalt, ein tadelloser und perfekter Römer, konnte man einen Brief an ihn derart salopp beginnen? Wie mochten seine Briefe ausgesehen haben, als er in Minors Alter gewesen war? In Antonias Vorstellung war bislang kein Platz für einen jungen Gracchus gewesen. Stets hatte sie nur den Erwachsenen gesehen, den Senator, den Pontifex, die überlebensgroße und idealisierte Figur des vollkommenen Römers. Sie ertappte sich bei einem Schmunzeln beim Gedanken daran, dass auch ihr Gemahl einst ein kleiner Lausejunge gewesen sein mochte, obgleich sie sich sicher war, dass Gracchus seit jeher die Verkörperung von Dignitas und Gravitas gewesen war.
    “Salve, Papa.“, erklang es abermals aus ihrer Kehle, als wollte sie Ton um Ton, Silbe um Silbe auf ihren Klang hin überprüfen. Keinesfalls wollte sie, dass Gracchus sich um die Erziehung seines Sohnes sorgte, gar fürchten musste, seine Mutter würde den Jungen herumlungern lassen und völlig die Regeln des Anstands außen vor lassen. “Gut.“, entschied sie schließlich. “Dann schreib ‚Salve, Papa‘. Du kennst die Buchstaben, ja?“
    Gewiss, später würde Minor schlicht seinem Sklaven eine Antwort diktieren, selbst den Stilus in die Hand nehmen würde er wohl selten, doch im Moment war jedes Wort, das er selbst schrieb, willkommene Übung, wie Antonia fand. Ganz abgesehen davon, dass Gracchus sich über selbst geschriebene Worte seines Sohnes sicher mehr freute, als die ungleich wohlgeformteren Schnörkel eines Scriba.
    “Hast du dir denn bereits Gedanken darüber gemacht, was du deinem Vater berichten möchtest? Was möchtest du ihn wissen lassen, was hast du in der Zeit erlebt, in der er nicht hier war?“

    Für einen Moment gab sich Antonia der Hoffnung hin, ihr zaghaftes Klopfen sei entweder überhört worden, oder aber Celerina gerade ohnehin nicht im Raume, da zunächst keine Geräusche aus dem Inneren an ihr Ohr drangen. So angestrengt lauschte sie, dass sie wohl eine Feder hätte fallen hören und so entging es ihr nicht, dass sich schließlich doch Schritte in Richtung Tür bewegten.
    Kurz war sie versucht, schnell ihre Tunika zu raffen und hinter der nächsten Ecke zu verschwinden, ehe sie sich des völligen Verlusts der eigenen Dignitas gewahr wurde, den eine solche Aktion nach sich ziehen würde.
    Als die Tür, die bislang noch schützend die Claudia vom Rauminneren trennte, plötzlich und wenig sachte aufgerissen wurde, wich Antonia erschrocken zurück. Doch statt der erwarteten Ausgeburt des Tartaros stand lediglich Celerina im Türrahmen. Sogar lächelnd. Verdutzt benötigte die Claudia einige Momente, um sich erneut zu sammeln, um zu verarbeiten, was die Verwandte sagte und endlich ein Lächeln als Erwiderung auf die Lippen zu zaubern.
    “Celerina.. “, kam es also zunächst krächzend aus ihrer Kehle. Ein Räuspern schuf Abhilfe.
    “Entschuldige. Ich wollte dich nicht stören.. nur einmal wieder nach dir sehen. Doch wenn es dir im Moment nicht passt.. ?“

    Erfreut stellte Antonia fest, dass Minors Wissensdurst nach wie vor ungebrochen, er gegenteilig von Tag zu Tag anzuwachsen schien. Wie neugierig er alles studierte, wie aufmerksam er die Utensilien betrachtete..
    Ihre Frage indes schien ihn auf falschem Fuße zu erwischen. Natürlich - natürlich - schalt sie sich bereits beim Aufflackern einer Irritation in den Augen ihres Sohnes einen Dummkopf. Zu schwer die Frage, falsch formuliert, wie könnte ein Kind etwas Derartiges wissen? Nur unsicher würde die Frage ihn machen, nur aus dem Konzept bringen, wie jede ihrer Äußerungen auch stets seinen Vater in arge Bedrängnis zu stürzen schien. Die Unterlippe zwischen die Zähne ziehend, senkte Antonia für einen Moment den Blick, suchte die Situation erneut auf das Ziel des Briefe schreibens zu lenken, doch Minor kam ihr zuvor.
    "Nun.. das ist das Zweitwichtigste.", entgegnete sie so sanft und wenig wertend wie es ihr nur möglich war. So glaubte sie wenigstens.
    "Die Grußformel ist es."
    Vielleicht half eine ausführliche Erklärung bereits über Misere hinweg? So sprach die Claudia schnell weiter. "Sie zeigt sofort, ob der Schreiber dem Empfänger nahe steht, oder ob es ein förmliches Schreiben ist. Sie zeigt dem Empfänger, dass allein er für wichtig genug gehalten wird, ein Schreiben eines Flavius zu empfangen."
    Lächelnd strich sie ihrem Sohn übers Haar, wie sie es am Tag wohl dutzende Male tat.
    "Da wir deinem Vater schreiben, müssen wir jedoch keine allzu förmliche Grußformel wählen. Wie hast du deinen Vater denn begrüßt, als er noch hier bei uns war?"

    Förmlich sehen konnte Antonia, wie Buchstabe um Buchstabe, Ton für Ton das Erkennen in die Augen ihres Sohnes kroch. Die ungeheure Intelligenz, die dem Knaben inne wohnte, war spätestens mit dem Ausspruch des gesuchten Wortes nicht mehr leugbar, nicht für Antonia und schon bald, dessen war sie sich bereits seit Langem sicher, auch nicht für den Rest der Welt. Es war indes ein widerstreitender Stolz, der sich der Mutter bemächtigte, suchte sie doch einerseits Minor von allem abzuschirmen, um ihn andererseits ins Rampenlicht schieben zu wollen. Jene Schizophrenie war ihr selbst jedoch nicht bewusst, als sie freudestrahlend bejahte.
    "Richtig, Minimus. Minor."
    So glücklich, wie sie an diesem Tag, nach dem Erhalt der Nachricht von Gracchus' Abreise, sicher nicht erwartet hatte zu sein, gab sie ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn.
    "Hervorragend. Du bist außerordentlich talentiert, mein Herz."
    Und da so viel Stolz alle Unsicherheit vorerst davonwischte, die Antonias Blick bislang vernebelt hatte, fiel der Claudia nun zum ersten Mal auf, dass sie selbst, wie auch Minor, sich noch im Nachtgewand befanden, dass um sie herum die Villa langsam zu erwachen begann und es wohl an der Zeit war, dem Kinde etwas zu essen bringen zu lassen. Welch ein Versäumnis, der arme Junge musste ja umkommen vor Hunger. Was für eine Mutter vergaß nur ihr Kind mit dem Grundlegenden zu versorgen? Erstaunt und zugleich enttäuscht von sich selbst erhob sie sich, noch ehe ein weiteres Wort hätte erlernt werden können.
    "Schau nur, wie hoch die Sonne schon steht.", sagte sie und wies zum Fenster. "Komm, ziehen wir dich an. Deine Studien setzen wir später fort."

    Bei mir kommt das Semester auch in die heiße Phase, sprich bis in zwei Wochen ist bei mir (vermutlich) erstmal Read-Only angesagt. Ich bitte meine beiden Mitschreiber also gnädigst um Vergebung :)

    Es war ein sonniger und sehr warmer Tag, als eine Gruppe von Sklaven geschäftig im Garten umherwuselte, Stühle, einen Tisch sowie Sonnenschutz und Erfrischungen anrichtete. Sie hatten keinerlei Blick für die summenden Bienen, die nicht minder geschäftig dabei waren farbenprächtige Blumen zu bestäuben, sahen nicht die fröhlich zwitschernden Vögel und schenkten auch dem kleinen Springbrunnen keine Beachtung.
    Nach und nach zerstreuten sie sich, suchten sich eine andere Beschäftigung, derer es im flavischen Haushalt zahlreiche gab. Lediglich zwei blieben zurück, um den in Kürze erscheinenden Herrschaften zu Diensten zu sein. Diese erschienen wie aufs Stichwort nur Augenblicke später, eine davon, Antonia, in ein fliederfarbenes Gewand gehüllt und mit einem undeutbaren Lächeln im Gesicht. Die zweite ging neben ihr, war ungleich kleiner und nahm eine ihrer Hände in Beschlag. In der anderen hielt die Claudia einen Brief, zweifellos der Grund für jenes Lächeln.
    An dem Freilufttablinum angekommen entließ Antonia ihren Sohn aus ihrer Hand, bedeutete ihm sich zu setzen und nahm selbst direkt daneben Platz, sodass sie auf der gleichen Seite des Tisches saßen. Sie hatte ihm bereits ein wenig aus der Nachricht seines Vaters vorgelesen, um sogleich den Vorschlag anzuhängen, nun, da er schreiben lerne, könne er doch eine Antwort an Gracchus verfassen – wenngleich sie selbst es sich nicht nehmen lassen würde, ebenfalls einige Zeilen an den im fernen Achaia verweilenden Gatten zu richten. Zumal der Junge erst seit Kurzem in die Geheimnisse der Schriftkunst eingeführt wurde – von ihr selbst, nach wie vor, denn ein angemessener Lehrer war äußerst schwer zu finden, wenn man Ansprüche hatte wie Antonia.


    Ihre Hand wanderte zu einer der bereitliegenden Wachstafeln, welche sie vor Minor schob.
    “So, Minimus, weißt du, was das Wichtigste beim Briefe schreiben ist?“, fragte sie, die bereits wusste, dass sie ihrem Sohn wohl des Öfteren an diesem Tage den Griffel würde führen müssen. Nichtsdestotrotz war sich die Claudia sicher, dass ihr Gemahl sich über selbstgeschriebene Worte Minors freuen würde, wie krakelig und unvollkommen sie auch noch sein mochten.. ohnehin war sie sich einer Sache sicher: Kein Kind hatte jemals schneller und eifriger gelernt, als Minor.

    Ein unbewusstes Zucken ergriff Besitz von Antonias Lippen, als sie die zunehmende Ratlosigkeit in den Augen ihres Sohnes erkannte. Was hatte sie falsch gemacht?
    Ausweichend sah sie auf den Brief, rief sich abermals ihre erste Lehrstunde ins Gedächtnis, die sie freilich längst vergessen hatte. War es nicht so gewesen? Hatte sie nicht Wort um Wort auswendig lernen, sich die Höhen und Tiefen der Buchstaben, des Schriftbilds einprägen müssen? Oder musste man etwa mit bestimmten Worten anfangen, die der Schüler auswendig lernte, waren „Mutter“ und „Vater“ am Ende ungeeignet für den Anfang? Oder lag es vielmehr, wie so oft, an ihr selbst? Erklärte sie es nicht richtig, war sie etwa selbst nicht gut genug, um ihr Kind zu unterrichten? Was lag näher, in ihrer Unvollkommenheit musste sie etwas nicht bedacht haben. Doch.. ohnehin fehlte etwas Essentielles, wie ihr auffiel. Die Claudia wandte sich an die anwesende Sklavin. “Hol eine Wachstafel und einen Griffel.“, ordnete sie an, um sich sogleich Minor wieder zuzuwenden.
    Was hätte sie für einen Blick in seine Gedanken gegeben – wie so oft. Doch langsam wurde eine Reaktion fällig, eine Erklärung des Gesagten, als der Sohn die quälende Stille, die Antonia bereits endlos lange vorkam, mit einer helfenden Frage durchbrach. Sie folgte dem kleinen Finger, erwiderte fast automatisch „E“. M. F. E. Ob es so gehen würde? Nicht die gesamten Worte, sondern zunächst die einzelnen Buchstaben ihm beibringen? Es schien ihr abwegig, doch war Minor ein besonderes Kind. Und ein besonderes Kind erforderte eine besondere Lehrmethode. Ein Versuch konnte kaum schädlich sein..


    Endlich kehrte die Sklavin mit dem Geforderten zurück, übergab es ihrer Herrin, welche sogleich eine Buchstabenfolge ins Wachs ritzte. Keinesfalls so schön anzusehen wie die Schriftzeichen in Gracchus‘ Brief, wie sie fand, stattdessen nüchterne und klare Linien, ohne Schnörkel, ohne ablenkende Elemente. Einfache Linien, für eine einfache Übung.
    “Schau her.“, forderte sie sanft und wies mit der Rückseite des vergoldeten Schreibwerkzeugs auf das Geschriebene. “Diesen Buchstaben kennst du bereits. M. Der nächste ist ein I, der hier ein N, das hier ist ein O und der letzte ein R. Versuche einmal die Buchstaben zusammen zu setzen. Kannst du dir denken, was ich geschrieben habe? M.. i.. “
    Hoffnungsvoll wartete sie auf seine Antwort.

    Geduldig wartete Antonia, dass ihr Spross kund tat, was er vom Brief seines Vaters verstand. M. F. Nunja, es war immerhin ein Anfang, wenngleich die Claudia eine wunderkindartige Entwicklung erwartet hatte.
    “Richtig, Minimus.“, freute sie sich dann jedoch überschwänglich, als er das Wort „Roma“ korrekt erkannte. Ein Zeichen, zweifellos. Ihr Sohn war zu Hohem bestimmt, wenn das erste Wort, das er lesen konnte, Roma war. Ein Konsul, mindestens, wenn nicht gar noch Zensor, oder, sie wagte es kaum zu denken, Kaiser. Was läge näher? Er, der das Blut zweier ehemals kaiserlicher Familien in sich vereinte, er, der das Talent seines Vaters in sich trug. Niemand war geeigneter als Minor. Für einen Moment drohten ihre Augen von feuchtem Nass überzogen zu werden, doch Antonia wäre nicht Antonia, hätte sie nicht rechtzeitig die Tränen des Stolzes weggeblinzelt. Stattdessen strich sie ehrsinnig über seine Wange und nickte zustimmend. “Roma.“


    Sie selbst hatte lesen gelernt, indem sie Wort um Wort auswendig lernen und reproduzieren musste. Da ihr keine bessere Methode bekannt war, würde wohl vorerst auch Minor es auf diese Art und Weise lernen müssen. “Gut, dann sehen wir einmal, welche Worte noch interessant für dich sein könnten.. “
    Einem Adler gleich flogen die dunklen Augen Antonias über die Nachricht, suchten nach einem geeigneten Übungsobjekt, bis ihr schmaler Zeigefinger auf einen Absatz zeigte. “Hier.“, verkündete sie und zeigte bezeichnenderweise auf das Wort „Mutter“. “Es bedeutet Mutter, Minimus. Versuche es dir einzuprägen. Und das hier“, ihr Finger verharrte auf dem letzten Wort des Briefes, “heißt Vater.“
    Sie hielt inne, um Minor anzublicken und zu prüfen, ob jene beiden Worte den Jungen bereits verwirrten und sie mit Kürzeren beginnen sollte. Nicht, dass sie dergleichen erwartete. Minor war ein überaus aufgewecktes Kind, klug wie sein Vater, gewiss konnte er bereits nach einigen Stunden ganze Sätze lesen.

    Zitat

    Original von Manius Flavius Gracchus
    Man möge Gracchus bitte für einen ersten, zögerlichen Versuch der Rückkehr reaktivieren.
    Danke sehr. =)


    *vor Glück zum ersten Mal in Ohnmacht fällt*
    =) Herzlich willkommen zurück :)

    Auch bis zu Antonia war es vorgedrungen, dass ein, laut wörtlichem Zitat, wichtiger Besucher in der Villa weilte. Ein Name ließ sich dem Sklavenfunk nicht entlocken und so musste die Claudia wohl oder übel die Gesellschaft ihres Sohnes mit der Gesellschaft der restlichen Familie tauschen. Einfach ignorieren, dass ein womöglich Fremder im Hause weilte, konnte sie als besorgte Mutter schließlich nicht. Zu lebhaft war ihre Phantasie, zu grausam all die Szenarien, die sich vor ihrem inneren Auge abspielten. Nein, sie musste sich selbst davon überzeugen, dass jener geheimnisumwitterte Besucher keinen schädlichen Einfluss auf ihren Minimus würde ausüben. Umso mehr, da ihr Gatte fernab von Rom weilte.


    So durchquerte sie die Villa, wie stets seit der Geburt ihres Sohnes eher schlicht denn herausgeputzt, bis sie am Ziel ihrer kleinen Odysse ankam. Lediglich ihre Ohrringe klingelten ein wenig, als sie das Triclinium betrat und abrupt inne hielt. Zwei junge Gesichter – eines musste sicher Flavius Piso sein, von dem sie bereits das ein oder andere gehört hatte – sowie zwei.. etwas.. reifere. Aristides, natürlich, wenn auch nicht am erwarteten Platz und.. Furianus. Dies war in der Tat eine Überraschung. Für einen Moment die Irritation ob seines Platzes auf der Kline des Hausherrn fortwischend, stand Antonia die Erleichterung über einen Verwandtschaftsbesuch mit einem Lächeln ins Gesicht geschrieben. Soweit waren also keine moralischen Gefahren für Minor zu erwarten. Schließlich hatte der Flavius, wie sie wusste, nach seinen jungen, wilden Jahren die eher unkonventiell verlaufen waren, noch die Kurve bekommen und war in die Fußstapfen seiner Ahnen getreten. Während sie bereits grübelte, wann sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, trat sie näher.
    „Furianus! Bei Iuno, welch eine schöne Überraschung. Willkommen zurück in Rom.“
    Die grauen Haare, an die sich die Claudia eindeutig nicht erinnerte, riefen ihr schmerzlich ins Gedächtnis, dass auch sie selbst seit dem letzten Zusammentreffen nicht jünger geworden war.
    Sich die guten Manieren ins Gedächtnis rufend, wandte sie sich endlich auch an die drei anderen Anwesenden, von denen Aristides wie selbstverständlich das wärmste Lächeln erntete. Es fiel ernstlich schwer, seine joviale Art nicht zu mögen.
    “Doch entschuldigt meine Unaufmerksamkeit. Salvete, wir kennen uns wohl noch nicht. Ich bin Claudia Antonia, Gemahlin von Flavius Gracchus.“

    Schon viel zu lange hatte Antonia jenen Besuch vor sich hergeschoben, hatte Tag um Tag vermieden, Celerina gegenüber zu treten, hatte allein den Gedanken an sie verdrängt. Zu sehr würde ihr Anblick die Claudia verstören, wie sie fürchtete. Stets war die Flavia ihr so stolz, so schön, so erhaben erschienen. Jene Entführung hatte ihr die Wahrheit schmerzlich vor Augen geführt. Auch Celerina war nur ein Mensch. Ein Mensch wie sie selbst, der vor Schicksalsschlägen nicht gewappnet war. Und mit einem Mal waren all die kleinen Sorgen und Problemchen, über die sie sich selbst in letzter Zeit so geärgert hatte, ihr lächerlich erschienen im Vergleich zur Vorstellung, von barbarischem Pack verschleppt zu werden.
    Unbewusst nahm sie in dieser Sekunde eine Pose ein, die ihr Gatte Gracchus schon so oft vor ihrem eigenen Cubiculum eingenommen hatte. Unfähig die Hand zu heben, um zu klopfen, stand sie da, starrte die feine Holzmaserung der Türe an und wäre am liebsten davon gelaufen. Celerina gebrochen zu sehen würde sie selbst aus der Bahn werfen, wie sie glaubte. Wie sollte eine schmale Birke bestehen, wenn schon eine stolze Eiche entwurzelt worden war? Doch vielleicht täuschte sie sich. Celerina war gewiss stärker, als sie selbst es in einer vergleichbaren Situation wäre. Sicher, so musste es sein. Endlich fasste die Claudia sich ein Herz und klopfte, wenn auch leise, an.