Beiträge von Helvetia Severina

    Severina hatte sich während der Abwesenheit Falcos die Zeit mit Lesen totgeschlagen. Die gut bestückte Bibliothek ihres Onkels entdeckte sie auf einer kleinen Expedition durch das Haus und es entglitt ihr beim ersten Anblick ein leiser Aufschrei des Entzückens, als sie die vielen Schriftrollen und Bücher erblickte. Weniger entzückt war sie dann jedoch über die Staubschicht, die sich angesammelt hatte, weil kaum jemand die Bibliothek genutzt hatte. Es schien, als ob Onkel Geminus schon lange nicht mehr hier gewesen war. Kurzerhand beschloss sie daher, den Raum wieder ihrer Bestimmung zurückzuführen, rief einen Sklaven her, der den Raum zumindest grob säubern, und einen zweiten, der ihr etwas Trinkwasser und eine Kleinigkeit zu essen bringen sollte. Die Fenster sollten geöffnet werden, zum einen, damit der aufgewirbelte Staub wenigstens zum Teil nach draussen abziehen konnte, zum anderen, damit frische Luft hereinkäme. Als der Sklave geendigt und die Bibliothek verlassen hatte, griff Severina einfach zu irgendeiner Schriftrolle und blickte in sie hinein. Sie legte diese allerdings gleich wieder weg, denn die Lektüre der Geschäftsordnung des Senates war für sie wahrlich uninteressant. Mit dem zweiten Griff hatte sie mehr Glück, weshalb sie sich nun niedersetzte und zu lesen begann...


    Das Gepolter, das der zurückkehrende Falco mitsamt Onkel Geminus veranstaltete, war nicht zu überhören, weshalb Severina die Bibliothek verliess und sich gleich zu ihrem Vetter begab. "Wie geht es Onkel Geminus? Wie krank ist er? Darf ich zu ihm?" Grusslos schnatterte sie drauflos und erst als sie die letzte Frage gestellt hatte, bemerkte sie ihr Fehlverhalten. Sie errötete leicht, sah zu Boden und räusperte sich leise. "Verzeih."

    "Möge der Proconsul ihn finden." hallte es in ihren Ohren nach. Sie war sich sicher, es war Falco im Grunde egal, ob Gabor auftaucht oder nicht. Es war für ihn sicher nur ein Lippenbekenntnis. Sie selbst konnte jedoch selbst dieses Bekenntnis nicht aussprechen, denn wenn es wahr war, was der Proconsul ihr erzählt hatte, wäre es besser, Gabor würde nicht gefunden werden. Die Schande wäre zu gross.


    Gleich, nachdem Falco das Haus verlassen hatte, war eine Sklavin zu ihr getreten und hatte sie nach ihren Wünschen befragt. Da sie gerade erst spürte, wie gross ihr Durst war, bat sie um einen Becher sehr stark verdünnten Weines, welcher ihr auch gleich gegeben wurde. Schnell war der Becher geleert, aber noch schneller wieder aufgefüllt, doch diesmal war ihr schlimmster Durst gestillt, daher konnte sie sich in Ruhe umsehen und das Atrium begutachten. Es war nach typisch männlichem Geschmack eingerichtet, befand Severina, ein untrügliches Zeichen der Abwesenheit einer Frau, sieht man von den Sklavinnen ab. Vor allem Blumen fehlten, gerade jetzt, wo der Frühling kam, sollten Blumen das Haus verschönern. Doch bevor sie weitere Überlegungen anstellen konnte, kam eine Sklavin zu ihr und führte sie in ihr neues Zimmer.

    Gleich nach dem Gespräch mit Falco kam eine Sklavin auf Severina zu und zeigte ihr ihr Zimmer. Es war für stadtrömische Verhältnisse überraschend hell und freundlich, oder war es die Zukunft, die nun weitaus rosiger erschien? Severina setzte sich auf ihr Bett und testete es auf seine Weichheit, befand es für sehr angenehme und stand gleich wieder auf, um sich ans Fenster zu stellen und die Aussicht und auch den kommenden Frühling ein wenig zu geniessen. Die Sklavin in der Zwischenzeit verstaute alle Habseligkeiten Severinas, wobei sie aber nur wenig zu tun hatte, hatte Severina doch nur wenig Kleidung und Kosmetika dabeigehabt, weil der Grossteil ihres Besitzes auf dem Anwesen ihres Vaters weilte.


    Sie bedankte sich bei der Sklavin und sagte ihr, dass sie jetzt ein wenig allein sein wollte. Sie fühlte sich träge und wollte sich ein wenig hinlegen. Doch dazu kam es nicht, denn schon im nächsten Moment klopfte ein Sklave an und überbrachte ihr einen Brief vom Vigintivir, in dem er ihr in kühlen Worten den Tod ihres Bruders bestätigte.


    Sie weinte nicht, auch kein Schluchzen entkam aus ihrer Kehle, nur ein einzelner Tropfen bildete sich in ihrem Auge, schwoll an und liess sich dann ihre Wange hinunterrollen. Erst als dieser an ihrem Kinn angelangt war, liess sie den Brief sinken, schniefte und wischte mit dem Handballen ihre Träne weg. Innerhalb von wenigen Tagen den Vater, die Mutter und einen Bruder verloren, all ihre anderen Brüder waren verstorben, nur einer lebte, und der verdingte sich als Krimineller, wenn sie den Worten des Proconsuls Glauben schenkte durfte. Ermattet liess sie sich auf das Bett sinken und starrte eine ganze Zeit die Decke an, bevor sie endlich einschlief.

    Severina schüttelte den Kopf. "Ich weiss es nicht." antwortete sie wahrheitsgemäss. "Nur Gabor soll noch in Hispania sein, aber wo er ist, weiss ich nicht. Ich..." Sie stockte, wusste sie doch nicht, wie sie auch das mit Gabor bloss formulieren sollte. Nein, sie konnte es nicht sagen, sonst würde er sie glatt sofort hinausschmeissen. "Ich habe Agrippa gebeten, er möge Gabor irgendwie ausfindig machen. Er weiss ja selber noch nichts von Vaters und Mutters Tod."


    Innerlich frohlockte sie, als sie hörte, sie bekäme ein Zimmer, hier, in diesem Hause. Das bedeutete, sie hatte eine Unterkunft... und auch wieder eine Zukunft, vielleicht. Jedenfalls waren ihre dringendsten Probleme zumindest für den Moment gelöst. "Ich danke dir. Ich werde dir auf ewig dankbar sein." Genauso war dies gemeint. Falco war in ihren Augen sicher kein strahlender Held aufgrund seiner Worte und sicher auch keine Vaterfigur, aber er hatte sie doch in gewissem Sinne gerettet. "Ich werde auf deine Rückkehr und auf die von Onkel Geminus warten."

    Severina konnte nur schwer einen erleichterten Stossseufzer aus ihrer Brust unterdrücken, doch sichtbares Zeichen ihrer Entspannung war nun tatsächlich ein kleines Lächeln, das sich in ihr Gesicht hineinmogelte. Nicht alle Verwandte starben, sie war nicht allein auf dieser Welt. Noch nicht. Denn so überragend toll hörte sich der Zustand ihres Onkels auch nicht an. Wie gut es ihm wohl wirklich ginge? Irgendwie hatte sie das Gefühl, als würde Falco schon die Wahrheit sagen, aber dieses gewisse Timbre in seiner Stimme verunsicherte sie. Das und der Schlagabtausch, den sich die beiden vorhin gegeben hatten. Es stimmte ja, sie hätte den Brief schreiben können, aber sie wollte so schnell wie möglich weg aus Hispania zurück nach Rom, wozu dann einen Brief schreiben?


    "Gleich nach Vaters Beerdigung reiste ich von Hispania ab, ich wollte nicht die Geduld des Proconsuls über Gebühr beanspruchen. Der Proconsul war so nett, mir etwas Geld für die Überfahrt zu leihen, daher kam ich auf direktem Wege nach Rom." Sie seufzte ganz leicht. "Zwischen meiner Ankunft in Rom und meinem Erscheinen hier steht nur der Besuch beim Vigintivir Flavius Gracchus."


    Und ihre dringendsten Fragen waren keineswegs gelöst. Severina wusste zwar nichts von Falcos Gedanken, doch tatsächlich, sie hoffte auf Aufnahme. Und sie schwor sich, niemals wieder in so eine deplorable Lage zu kommen, nie wieder auf finanzielle Unterstützung anderer hoffen zu müssen. Sie hatte zwar noch keine Ahnung, wie sie ihr eigenes Vermögen aufbauen sollte, war ihr doch der Dienst am Volk durch ihr Geschlecht, wirtschaftliche Aktivitäten hingegen durch ihre diesbezüglich mangelnde Bildung und ihre Erziehung verwehrt.

    Severina war erstaunt. Sie selbst war gerade erst in Rom angekommen, und die Familie wusste schon davon? Als sie ihm weiter zuhörte, dämmerte ihr der Grund für deren Wissen, konnte dies doch nur vom Vigintivir ausgegangen worden sein. Den ganz leisen Vorwurf in den Worten Falcos hörte sie heraus, weswegen sie ihren Blick auf eine Ritze im Marmorboden richtete. "Ich habe euch nicht unterrichten lassen, weil wir zu Gast bei Proconsul Matinius waren, als Vater starb. Es wäre sicher nicht schicklich gewesen, Vater solange im Haus des Proconsuls aufgebahrt zu lassen, bis ihr von seinem Tod erfahren hättet und ... bis ihr dann tatsächlich gekommen wärt." Leise sprach sie den letzten Halbsatz. Hätte sie tatsächlich einen Brief hierher schicken sollen, so wie es der Proconsul ihr vorgeschlagen hatte? Wären dann die Verwandten wirklich gekommen? Wer wäre denn gekommen, wenn kaum jemand aus ihrer Verwandtschaft noch am Leben war? Es wäre zum Heulen gewesen, wenn sie nicht schon die letzten Tage hinweg ihre Tränen vergossen hätte.


    "Was Vaters Nachlass angeht... bitte bemühe dich nicht. Ich war bereits beim Vigintivir Flavius Gracchus und habe ihm Vaters Testament ausgehändigt. Er... er hat sein gesamtes Vermögen dem Proconsul hinterlassen." Und da merkte sie, wie ihr die Tränen wieder in die Augen steigen wollten, doch sie zwang sich zu innerer Ruhe. "Deswegen bin ich hier und wollte zu Onkel Geminus. Geht es ihm gut? Bitte, sag, dass es ihm gut geht!" Sie flehte Falco schon fast an, alles wäre ihr recht gewesen, auch wenn er sie eine dumme Gans nennen würde, weil sie daran zweifelte, die Hauptsache war jetzt für sie, dass es ihm gut ginge.

    Severina erschrak, als der ihr unbekannte Mann sie gleich ansprach und ins Atrium vorging, wohl eher eilte. In der Tat, sie folgte ihm zögerlich, hallte doch sein Name in ihrem Kopf. Helvetius Falco, der Sohn von Onkel Geminus, der Prätorianerpräfekt, der verschwunden ist bzw. vielmehr war? Er musste es sein, denn sonst hätte ihn der Ianitor nicht reingelassen, geschweige denn sich so einfach wegscheuchen lassen. Erst nach einigem Nachdenken erkannte sie ihn, er hatte sich sehr verändert, fand sie. Seine Gesichtszüge waren sehr hart geworden, oder waren sie das immer schon gewesen und sie erinnerte sich nur nicht wirklich daran?


    "Vielleicht erinnerst du dich an mich." begann sie. Wahrscheinlich hatte er aber keine Ahnung, wusste sie doch selber nicht wirklich, wann sie sich das letzte Mal gesehen haben. "Ich bin Severina, die Tochter von Tacitus und Longina. Ich... Ich wollte eigentlich zu Onkel Geminus."

    Severina war nach ihrem Besuch beim Vigintivir lange, sehr lange in Rom herum gegangen. Sie begab sich auf die Märkte, verblieb dort jedoch nicht sehr lange. Sie hatte schon seit Wochen keinen richtigen Appetit mehr gehabt, sogar zu den wenigen Bissen, die sie machte, musste sie sich überwinden. Und da sie ohnehin kaum Geld hatte, wollte sie sich auch nicht selber unnötig quälen.


    Sie nutzte die Zeit von den Märkten bis zur Türe der Casa Helvetia um nachzudenken. Gewiss, ihre Situation war nicht hoffnungslos, aber sie war weit entfernt von einem Zustand, der akzeptabel gewesen wäre. In diesem Moment fiel ihr ein Spruch ein, dem sie bisher nur wenig Bedeutung zugestand. "Erhoffe das Beste, doch sei auf das Schlimmste vorbereitet." Jetzt erst verstand sie ihn. Als sie nur mehr wenige Schritte von der Casa Helvetia entfernt war, blieb sie stehen und setzte sie sich auf eine kleine Bank. Wenn sie kein Geld hatte, musste sie welches verdienen, das war ihr mittlerweile klar und damit hatte sie sich auch schon abgefunden. Allerdings hatte sie kaum etwas gelernt, wie man einen Haushalt führt und den sonstigen üblichen Lehrstoff für Töchter aus gutem Hause. Nein, ihre Lage war wirklich nicht rosig. Sie seufzte, stand wieder auf und ging die letzten Schritte zur Casa ihres Onkels, wo sie an die Türe anklopfte.

    Beschämt blickte Severina zu Boden. Was sollte sie bloss auf diese Frage antworten? Soll sie ihm sagen, dass sie keine Ahnung hatte? Dass sie quasi auf der Strasse stand? Nein, unmöglich, diese Demütigung konnte sie nicht ertragen, geschweige denn vorbringen. Fieberhaft überlegte sie nach einer Lösung, die sowohl ihre Peinlichkeit überdecken, gleichzeitig aber wirklich als Zustelladresse gelten sollte. Der Familiensitz in Ostia schied aus, denn sie würde nur mehr ein einziges Mal dorthin kehren um ihre wenigen Habseligkeiten an sich zu nehmen und um die Sklaven von der neuen Situation zu berichten. Sie konnte aber ebensowenig eine Unterbringung nennen, schlicht, weil sie noch keine hatte, sie war ja gerade erst in Rom angekommen und ohne zu zögern zum Vigintivir gegangen.


    Da kam ihr eine Idee. "Ja. Ich werde bei meinem Onkel, Senator Helvetius Geminus, zu erreichen sein." Stolz, weil ihr diese Möglichkeit eingefallen ist, blickte Severina auf und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. In diesem Moment war es ihr egal, ob sie tatsächlich dort wohnen würde. Wenn Onkel Geminus ihr die Bleibe verwehrte, so konnte sie zumindest einen Sklaven mit etwas pekuniärer Hilfe anweisen, ihre Post zu ihrer tatsächlichen Unterkunft zu bringen. "Vielen Dank für deine Mühe, Flavius." sagte sie noch, bevor sie das Zimmer des Vigintivirs und danach die patrizische Villa verliess.

    Nachdem Severina ohnehin gerade in Rom war, wollte sie doch einen Brief an ihren Bruder schreiben und aufgeben. Gar viel Geld hatte sie zwar nicht mehr, aber für etwas Papyrus und den Beförderungsbetrag würde es alle mal reichen. Sie hoffte es zumindest, hatte sie doch keine Ahnung, was denn ein Brief kostete. Aber der freundliche Beamte vor ihr klärte sie über die Kosten diesbezüglich auf, tatsächlich kostete es nicht die Welt. Daher legte sie den Brief vor ihn hin.


    An Gnaeus Helvetius Tranquillus
    Ala II Numidia
    Confluentes, Germania


    Lieber Gnaeus,


    ich hoffe so sehr, dass es dir gut gehen mag. Viel trauriges ist passiert, deswegen schreibe ich dir. Ach, ich weiss gar nicht, wie ich es schreiben soll, aber du sollst, nein, du musst es erfahren. Vater ist tot, er starb vor einigen Tagen in Hispania. Doch damit nicht genug, auch Mutter ging in die elysischen Gefilden. Ich bin schon ganz verzweifelt, auch weil ich Gabor nicht erreichen kann.


    Als ich dann in Rom ankam, musste ich vom Vigintivir erfahren, dass du auch tot wärst. Doch das kann nicht sein, du lebst, nicht wahr? Bitte, schreib mir so schnell wie nur möglich zurück. Ich würde es nicht ertragen, gleich drei Familienmitglieder innerhalb von wenigen Tagen zu verlieren.


    In Liebe, deine Severina


    Sim-Off:

    Gebühr überwiesen.

    Severina erschrak bei dem Laut, der sich mit einem Male durch das Zimmer ausbreitete. Sie brauchte zwar nur einen Blick, um den Grund dieses Lautes zu erfahren, doch kümmerte sie sich noch im gleichen Augenblick nicht mehr darum, sie hatte wahrlich viel grössere Probleme, um die sie sich kümmern musste. Einer davon war, sich um eine Bleibe zu kümmern, ein anderer, einen Brief an ihren Bruder zu schreiben.


    "Ich danke dir, Flavius." sagte sie nach einer kurzen Weile zu ihm, trank noch einen kleinen Schluck ihres Wassers und stand hernach auf. "Dann möchte ich mich gerne zurückziehen. Erlaube mir noch, dich zu benachrichtigen, sobald ich vom Verbleib meines Bruders Tranquillus erfahre?"

    Severina schämte sich und sie hatte von ihrem Standpunkt aus auch allen Grund dazu. Sicherlich hatte er nun Achtung vor ihr verloren, jetzt wo er wusste, dass vor ihm eine arme Tempelmaus sass. An dieses Gefühl musste sie sich nun gewöhnen. Mühsam unterdrückte sie ein Seufzen, als sie etwas umständlich ein Schriftstück hervorkramte.


    "Ja hier." sagte sie und gab ihm den letzten Willen ihres Vaters, aus dem hervorging, dass jeglicher Besitz an den Proconsul übergeben zu sei, mit Ausnahme von 300 Sz., welche an die Schola überwiesen werden solle. "Aber du missverstehst mich. Ich möchte ja den Willen meines Vaters vollstrecken, das bin ich ihm schuldig. Aber... aber ich weiss nicht, wie man so etwas anstellt. Muss ich etwas unterschreiben oder einen Vertrag aufsetzen? Aber ich weiss ja nicht, wie... Die Situation hatte jetzt etwas groteskes, fiel ihr auf. Sie hatte keine Ahnung, wie ihre Zukunft aussah und sorgte sich in diesem Moment jedoch um Formalitäten.

    Severina nahm dankbar das angebotene Glas Wasser an, ihre Kehle fühlte sich trockener an als die Wüste Africas, so glaubte sie jedenfalls. Um aber nicht unangenehm aufzufallen beschränkte sie sich auf kleine Schlucke, sie wollte ja nicht gierig erscheinen. Sie hörte dem Vigintivir nur mit halbem Ohr zu und konnte nur ganz leicht müde lächeln, als er die Sache mit ihrer Emanzipation erwähnte. Derangierend war die Angelegenheit tatsächlich, doch Flavius ahnte nicht, wie sehr.


    "Ich danke dir für dein Mitgefühl, Flavius." begann sie nach einem weiteren kleinen Schluck, der jedoch nur langsam ihre Kehle hinunterfloss und ihren Rachen genauso trocken hinterliess wie die Schlucke zuvor. "Doch bitte bemühe dich nicht. Ich werde selbst meinem Bruder schreiben." Eine kleine Pause entstand. "Mein Weg zu dir war mitnichten umsonst, denn es geht um den letzten Willen meines Vaters."Und jetzt musste sie doch mit der Wahrheit heraus, so schwer es auch war. "Die Angelegenheit ist nämlich die... Mein Vater hat sein gesamtes Vermögen dem Proconsul Matinius Agrippa vermacht. Ich hatte auf deine Hilfe gehofft, denn ich weiss nicht, wie ich dabei genau verfahren soll."

    Eine Verwechslung. Natürlich, das musste es sein. Aber war es das? Wie konnte eine Verwechslung denn passieren? Severina wusste nicht, was sie denken sollte. Unwillkürlich fasste sie sich mit ihrer rechten Hand an die Stirn und schloss die Augen, die letzten Tage und Wochen waren tatsächlich nicht die angenehmsten gewesen und dieser Besuch hier bei Flavius, so nett er auch zu ihr sein mochte, half nicht im geringsten, Ruhe in ihr Seelenleben einzuflössen. Sie atmete tief in ihre Lunge und schüttelte den Kopf. "Ich weiss es nicht. Vater sagte mir, er wäre zuletzt in Confluentes gewesen, bei der Ala. Ich habe ihn seit meiner Rückkehr weder gesehen noch haben wir uns geschrieben." antwortete sie dem Vigintivir tonlos. Sie liess die Hand sinken und blickte ihren Gegenüber wieder an. "Verzeih mir meine fehlende Contenance, die letzten Tage waren sehr ... anstrengend."

    Severina wollte zuerst nicken, doch in diesem Moment bemerkte sie die Veränderung im Gesicht von Flavius, deswegen getraute sie sich nicht, eine einzige auch nur kleine Bewegung zu veranstalten. Sie beobachtete ihn, wie er eine Wachstafel an sich nahm und dort etwas notierte, konnte aber selbstverständlich nicht sehen, was genau er schrieb. Stattdessen versuchte sie den Worten des Flavius zu folgen, so verwirrend die auch waren.


    Schon im zweiten Satz wollte sie ihn unterbrechen, verstand aber zuerst nicht die Ausmasse der Worte des Vigintiviri. Und all die juridischen Bezeichnungen, die er verwandte, liessen sie gänzlich verstummen. Severina wurde zwar über Grundzüge des mos maiorum unterrichtet, so wie es schicklich war für junge Damen ihres Standes, aber folgen konnte sie ihrem Gegenüber deswegen kaum. Erst als Flavius ihr wieder eine Frage stellte, löste sich ihre Starrheit, gezwungen. "Patria potestas? Ja... das heisst, nein... das heisst..." stammelte sie hilflos vor sich hin. "Tranquillus? Nein, Tacitus... Caius Helvetius Tacitus, mein Vater. Tranquillus ist mein Bruder... ich verstehe nicht... Was hat das zu bedeuten?" Ihre Augen wurden grösser, sie ahnte, was nun kommen würde, konnte aber die Ahnung in keine Worte kleiden oder gar von den Göttern das Gegenteil erbitten oder flehen, dass der Vigintivir nur die falschen Worte gewählt hatte.

    Zögerlich war Severina dem Sklaven gefolgt. Selten hatte sie so eine Pracht im Inneren eines Hauses gesehen, nur Onkel Geminus konnte es mit dieser Villa aufnehmen, denn auch sein Haus war kostbar eingerichtet gewesen. Selbstverständlich hatten auch die Eltern von Severina viel Kleingeld in der Hinterhand, aber diese Villa übertraf ihr Elternheim bei weitem. Severina musste ein wenig an sich halten, denn das Interieur, das sich ihr präsentierte, verleitete sie sehr zum Umsehen und Staunen und fast hätte der Sklave sie sogar abgehängt, weil sie nicht anders konnte, als vor einem Bild kurz zu verweilen und die Schönheit zu bestaunen. Doch riss sie sich zusammen und eilte dem Sklaven nach, der sie bereits beim Vigintivir angemeldet hatte. Die Nervosität überkam sie, hatte sie doch nur selten mit hohen Beamten des Reiches zu tun gehabt, mal abgesehen von ihrem Vater und Agrippa, den sie aber erst vor kurzem kennengelernt hatte. Severina zögerte einen ganz kurzen Moment, bevor sie in das Arbeitszimmer eintrat.


    "Salve, Vigintivir." grüsste sie Flavius zurück und nahm auf sein Geheiss Platz. Die ausgesuchte Höflichkeit, mit der Flavius sie bedachte, liess ihre Spannung ein wenig abklingen und sie folgte den Ausführungen des Vigintivirs, wunderte sich aber über das geringe Entgelt, das dieser nannte. So arm waren sie gewesen? Unmöglich, das Haus alleine in Ostia musste mehr wert sein. Verwirrt blickte sie Flavius an. "Aber... mein Vater... nur so wenig?" stammelte sie. War ihr Vater so sorglos mit Geld umgegangen? Hatte er deswegen... "Hatte er Schulden?"

    Severina hatte das Gefühl, dass sie sich nicht geirrt hatte. Der ianitor sah auf sie hinab (was allerdings schon wegen der Körpergrösse kaum anders gehandhabt werden konnte), und sie spürte, dass er in anderen Fällen nicht so zimperlich mit den Besuchern umsprang. Wahrscheinlich war sie für ihn ein Häufchen Elend, dachte sie sich.


    "Helvetia Severina ist mein Name." antwortete Severina brav auf die Frage des ianitors. "Ich komme zu ihm wegen einer Erbschaftsangelegenheit. Er ..." sie stockte, wusste sie doch im ersten Moment nicht, wie sie das zumindest etwas neutral formulieren sollte. "Er hat mich diesbezüglich kontaktiert."

    Severina hätte eigentlich gar nicht überrascht sein sollen, als die Türe aufging, immerhin wollte sie das ja. Aber dennoch konnte sie im ersten Moment kaum einen klaren Gedanken fassen, als der ianitor die Türe öffnete und sie begrüsste. Sie schämte sich, dachte sie doch, dass man ihr ihre verzweifelte Situation anmerken musste, daher konnte sie nicht verhindern, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg.


    "Ähm ja... Salve." begann sie daher und schalt sich gleich selber, weil sie ihre Contenance so sehr aufgab. Sie nutzte einen Atemzug um ihr Anliegen zumindest ein wenig selbstsicherer zu formulieren. "Ich möchte zum Vigintivir Flavius Gracchus. Ist er da?"

    Die Reise war lang und beschwerlich und Severina dachte, dass die Rückkehr nach Italia nie zu Ende gehen würde. Eigentlich wollte sie sofort nach Ostia, aber die Nachricht des Vigintivirs, das sie erreichte, liess sie ihre Pläne ändern. Ein Sklave ihres Vaters hatte sie schon erwartet und ihr davon berichtet. Sie schickte ihn nach Hause und liess ihn dabei im Glauben, dass die Herrschaft nun ihr und ihrem Bruder Gabor gehören würde.


    Mit nichts stand sie vor der Türe, mit nichts und niemanden. Ihr Herz klopfte so laut, sie hatte Angst, jedermann könnte ihr Herz hören oder, was noch schlimmer war, würde bereits wissen, was ihr widerfahren war. Ein unerträglicher Gedanke. Sie klopfte an die porta der flavischen Villa, doch dieses Klopfen war leiser als die ihres Herzens. Wenn nur der Rest der Angelegenheit so leicht zu erledigen wäre wie das Finden des Domizils des Vigintivirs.