Beiträge von Rutger Severus

    Rutger ließ sich nicht beirren. Es war ganz eindeutig: Flavius Aquilius hatte ihn verflucht.
    "Doch! Doch, ich bin mir ganz sicher!" protestierte er stur, ließ sich aber von Arrecina auf die Decke drängen.
    "Hast du nicht den Adler gesehen, gerade?" fragte er sie mit gedämpfter Stimme, und wies auf die Felsen. "Der Aar, aquila, das steht für Aquilius, ganz sicher." Mit fiebrig glänzenden Augen sah er zu ihr auf und flüsterte: "Alle Zeichen weisen darauf hin...- Aber was ist denn das... du hast ja Sterne in den Augen, kleine Römerin..."
    Er hob die Hand, als ob er danach greifen wollte, und strich Arrecina mit den Fingerspitzen sanft über die Augenbrauen. "Schön."


    Als sie den Verband löste, richtete er sich schmerzgeplagt wieder auf die Ellbogen auf.
    "Ein Medicus? Aber nein... das wird schon wieder. Bitte, Arrecina, du mußt mir einen Eschenzweig bringen - aber ich habe hier keine gesehen... - zur Not auch von einer Birke. Ich muß Ansuz ritzen und Nauthiz, denke ich..."
    Er legte sich zurück, schloß die Augen, und biss sich fest auf die Lippen, während Arrecina an der Verletzung zugange war. Unwillkürlich wanderte eine Hand zu seiner Brust, umschloß die Schwanenfibel, und zog das bisher unter der Tunika verborgene Schmuckstück hervor. Die Erschöpfung übermannte ihn, und als die Schmerzen der Wundversorgung nachließen, murmelte er noch ganz leise: "Wäre doch Jorun hier...", und sank fast sofort in einen unruhigen Schlaf . Dabei lösten sich langsam die um die Fibel herum zur Faust geballten Finger, und die verschlungenen Muster glänzten geheimnisvoll im roten Feuerschein.

    "Ja, das ist genug. Ich mach erst mal Feuer. Magst du was essen?"
    Rutger schob Arrecina den Proviant herüber und griff nach den Hölzern, die sie gesammelt hatte. Verwundert legte er einen belaubten Ast zur Seite, und suchte einige trockenen Stöcke heraus. Er brach sie in Stücke, schichtete sie wie eine kleine Pyramide, und schob etwas trockene Rinde und Flechten darunter.
    Mit Feuerstein und Stahl schlug er dann Funken, mehrmals hintereinander, bis ein kleines bläuliches Flämmchen auf einem Stück Rinde Fuß faste. Mit trockenem Moos gefüttert, und sorgsam angefacht, wuchs es bald, tanzte an einem dürren Zweig entlang, und breitete sich dann weiter aus. Es knisterte, rauchte, und kleine Harztropfen verzischten in den Flammen, die jetzt einen rötlich flackernden Schein über ihr Lager hinweg warfen - heimelig einerseits, andererseits wirkte der Wald jenseits des Feuerscheins nun um so schwärzer.


    Rutger legte noch einige größere Äste nach, und lehnte sich auf seiner Decke zurück. Ihm war viel zu heiß. Er trank etwas Wasser, wischte sich wieder über die feuchte Stirn, und zwang sich, ein Stück Trockenfleisch zu kauen. Über ihm warf das Feuer verzerrte Schatten an die Felswand, schemenhaft huschten Gestalten darüber hinweg. Rutger sah da einen Adler herabstoßen, dann eine lachende Fratze, und eine gebückt lauernde Form, die plötzlich nach ihm zu greifen schien - gebannt starrte er auf das Schattenspiel, und schlug dann schnell das Zeichen von Donars Hammer. Die Geister dieses Landes waren ihm nicht wohlgesonnen, kein Wunder.


    Er streckte die Beine von sich, und sah ärgerlich auf die verletzte Stelle. Durch den Verband hatte es rot und gelblich durchgeschlagen.
    "Schaust du es dir nochmal an?" fragte er Arrecina schicksalsergeben, und biss wieder mannhaft die Zähne zusammen. Aber dann kam ihm ein schlimmer Verdacht, und er sah Arrecina ganz bestürzt an.
    "Ich weiß warum das passiert ist! Flavius Aquilius hat mir einen Fluch hinterher geschickt! Er ist doch Gode, ähm, Priester, von eurem Kriegsgott. Deshalb hatte ich dieses Pech im Kampf, und jetzt lässt er die Wunde schwären! Frowe Hulda und alle Idisen, steht mir bei!"


    Rutger bekam wirklich Angst. Ein Feind, dem man mit der Waffe in der Hand gegenüber treten konnte war das eine, aber so ein heimtückischer Fluch, was sollte man da machen! Wie dumm von ihm, daß er nicht die anderen Tuniken, die er getragen hatte, die schwarze und die rote, mitgenommen hatte, oder verbrannt hatte. Aber die lagen nach dieser so spontanen Flucht natürlich noch immer auf seinem Lager in der stinkenden Sklavenunterkunft herum, so daß jeder, der ihn mit einem Schadenszauber belegen wollte, sich nur zu bedienen brauchte! Was für ein dummer Fehler! Rutger spürte förmlich, wie der bösartige Fluch ihn in seine Bande schlug, und wie es ihm gleich schlechter ging.

    Rutger hatte den Verdacht, daß die berückende kleine Ne-fahr-thyrri ihn irgendwie mißverstanden hatte - aber wie sollte er das in einer fremden Sprache einer noch viel fremderen Frau deutlich machen? Er fand es jedenfalls sehr nett wie sie versuchte ihn aufzumuntern. Überrascht blinzelnd ließ sich der große Germane dann an der Hand nehmen, und kam folgsam mit der zarten Ägypterin - ein seltsames Bild.


    Am Ziel angekommen ließ er sich auf eine Bank sinken, und stützte matt den Kopf in die Hände. Wo er nun das Essen schon riechen konnte, begann sein Magen, der in der letzten Zeit sehr genügsam geworden war, sich wieder zu Wort zu melden, und knurrte hungrig. Rutger lächelte schief und nickte.
    "Hmmhmm, gerne. Fisch, ja, den mag ich auch sehr."
    Er lehnte sich zurück und beobachtete Nefertiri schläfrig bei dem, was sie tat.
    "Von wo bist du, Ne-fahr-thyrri? Du mußt aus der Nähe von Muspelheim stammen, oder? Haben dir die Feuer von da die Haut so dunkel gebrannt, oder die Sonne?" Hoffentlich war die Frage keine Beleidigung für sie. Schnell fügte er noch hinzu: "Es sieht sehr schön aus. So jemanden wie dich habe ich noch nie gesehen."


    Die Sonne versank schnell hinter dem Horizont, der Abend zog mit blauen Schwingen herauf, und es wurde schlagartig kühl.
    Rutger lenkte die Stute in den kleinen Wald hinein, und machte schließlich bei einer Gruppe dunkler Zypressen halt, die sich um eine überhängende Felswand scharrten. Hier würden sie gut lagern können, und auch ein kleines Feuer entfachen können, ohne gleich alle Verfolger auf dem Hals zu haben.
    Mit einem Gefühl seltsamer Überwachheit und Leichtigkeit nahm Rutger die malerische Szenerie in sich auf - die Bäume erschienen ihm wie erstarrte schwarze Flammen, und in den Rissen im schroffen Fels sah er Tiere und Gesichter. Ganz leise raunten die Bäume, sonst war da nur die majestätische Stille der Bergeinsamkeit.


    Ein Windstoß ließ ihn frösteln. Seine Stirn fühlte sich heiß an. Die Verletzung brannte und pochte schon seit Stunden immer heftiger.
    "Arrecina," sagte er leise, um sie aus ihrem Dösen aufzuwecken. "Arrecina, wir lagern hier."
    Vorsichtig half er ihr hinunter, rutschte dann selber vom Pferderücken, knickte erschrocken ein, als er mit dem verletzten Bein auf dem Boden aufkam, und stieß einen rauhen Fluch aus. Er hielt sich am Sattel fest, und richtete sich verbissen wieder auf.
    "Kannst du etwas Holz suchen, bitte?"
    Er wischte sich das Haar aus der schweißigen Stirn, nahm Phaidra ihre Last ab, und begann die erschöpfte Stute zu versorgen. Dann richtete er eine kleine Feuerstelle, nahe der Felswand und schön abgeschirmt. Aus dem großen Bündel förderte er eine Decke für Arrecina und eine für sich zutage, dann auch etwas Trockenfleisch, Käse, und einen Lederschlauch mit Schafsmilch.

    Mit Mühe stieg Rutger hinter ihr auf, rückte das Gepäck noch etwas zurecht, und nahm die Zügel.
    "Der Tod ist uns allen sicher, irgendwann." bemerkte er philosophisch, während er die Stute auf einen kleinen Trampelpfad lenkte, der sich auf der anderen Talseite im Zickzack emporschwang, um dann zwischen zerklüftete Felsen einzubiegen.
    "Es kommt darauf an, wie wir ihm begegnen - feige oder kühn - kriechend wie ein Wurm, oder aufrecht und ohne Furcht..."
    Dann lächelte er still, und verstummte. Dieses Thema war nichts für ein zartes, behütetes, und erschüttertes römisches Mädchen. Schon fast fürsorglich legte er einen Arm um Arrecina herum, um ihr Halt zu geben, als sie weiter ritten.
    "Lehn dich ruhig an."
    Das Haus des Unholds wurde kleiner und kleiner hinter ihnen. Ein paar Schafe säumten den Pfad, kauten das Gras, und glotzten stumpfsinnig, als die Reiter an ihnen vorüberzogen, und schließlich zwischen den Felsen verschwanden.

    "Umkehren?" Rutger sah Arrecina verwundert an. "Gewiss nicht! Wegen so einem Kratzer gebe ich mich doch nicht geschlagen! Ich habe wirklich schon schlimmeres überstanden."
    "Das ist ja nett, daß du für mich sprechen willst," - 'wenn es nicht bloß eine süße Lüge ist' dachte er bei sich - "aber selbst wenn sie mich nicht töten würden: ich wäre doch wieder ein Sklave."
    Rutger sah weit über die Berge hinweg, sog die Sommerluft ein, und lächelte verwegen.
    "Arrecina, ich bin freier Chatte, ich bin ein Hallvardunge, ich unterwerfe mich keinem Römer, das wäre schimpflich für mich und meine ganze Sippe. Für die Freiheit meines Volkes habe ich immer gekämpft, und auch um meine eigene werde ich ringen bis zum letzten Atemzug!
    Ach, und erzähl mir doch keinen Unsinn, dein Onkel ist genau wie die anderen."

    Rutger fuhr sich finster mit dem Handrücken über einen roten Striemen, der sich schräg über Schläfe und Wange zog, und auf der anderen Seite ein fast symmetrisches Gegenstück hatte.
    Er band das Pferd los und ordnete die Zügel, grinste dann wieder unbekümmert, und fügte hinzu:
    "Im übrigen glaube ich nicht, daß sie mich erwischen. Komm, steig auf."
    Er bot Arrecina die verschränkten Hände, um ihr auf Phaidras Rücken zu helfen.

    Mit gemessenen Schritten überquerte Rutger den Hof und kehrte zum Stall zurück. Sein Gesicht war wie eine Maske aus Stein, und auch in ihm fühlte sich alles hart und kalt an. Er griff nach einer Schaufel und begann mechanisch zu arbeiten. Irgendwann fiel ihm auf, daß er schon blutige Blasen an den Händen hatte. Er hatte es gar nicht bemerkt.


    Er hielt inne, und sah über den Hof hinweg. Es wurde schon dunkel. In der Villa entzündeten sie die ersten Lichter. Die Erstarrung löste sich langsam, und eine dumpfe Traurigkeit stieg in ihm auf. Er spürte die Spuren der Gerte in seinem Gesicht brennen, und noch viel tiefer hatte sie natürlich seinen Stolz verletzt. Er dachte daran, daß er sich an Flavius Aquilius rächen würde, rächen mußte - so wie an Flavius Aristides und an Finn - aber dieser Gedanke hatte nichts tröstliches.
    Seit der Mann ihm die Ketten abgenommen hatte, hatte Rutger, ohne es sich wirklich selbst einzugestehen, das vage Gefühl gehabt, er wäre vielleicht nicht so wie die anderen Römer - vielleicht jemand, den man nicht hassen mußte - vielleicht sogar jemand mit dem man sich, unter völlig anderen Umständen natürlich, hätte anfreunden können.
    'Unsinn!' sagte er sich dann - es war doch klar, daß ihm jeder andere, der ihn von den furchtbaren Eisen erlöst hätte, ebenso als Lichtgestalt erschienen wäre. Das war kein Grund in irgendeiner Form sentimental zu werden.


    Und Rutger schwor sich, sich nicht zu beugen, und wenn er auch in der Knochenmühle enden würde. Es gab wichtigeres, als nur zu überleben - wenn er eigentlich auch sehr gerne lebte. Knochen-Mühle... ein häßliches Wort. Aber ein Hallvardunge unterwarf sich nicht. Niemals.
    "Niemals." flüsterte Rutger rau, und erntete einen kopfschüttelnden Blick von einer älteren Sklavin, die gerade mit einem Korb voll dampfender Wäsche quer über den Hof an ihm vorbei ging.
    Ohne sie zu beachten legte er den Kopf in den Nacken und hielt nach Sternen Ausschau. Die Stadt war so hell, daß sie nur ganz blass erschienen, aber er entdeckte doch Freyas Spinnrocken und Wodans Wagen - und daneben den Nordstern.

    Rutger wurde weiß vor Zorn - um so deutlicher zeichneten sich die roten Striemen ab. Mörderische Wut flammte in seinen Augen auf, er packte die Gerte, entriss sie Aquilius' Händen, und brach sie krachend entzwei. Ein roter Nebel war um ihn, und alles in ihm schrie danach, dem Römer die Kehle mit den Zähnen herauszureißen, koste es was es wolle - jede Faser in ihm war bis zum Bersten gespannt, und wie ein Raubtier setzte er an, sich tobsüchtig auf den Feind zu stürzen - und beherrschte sich.


    Der blinde, rasende Zorn in seinen Zügen wich dem kalten Hass. Ganz langsam entkrampfte er die zu Fäusten geballten Hände, stand einen Moment so da, wie versteinert, und blickte Aquilius unverwandt an.
    "Bei Ziu. Das hättest du nicht tun sollen."
    Seine Stimme war schneidend kalt. Jäh wandte er sich um und verließ den Raum.

    Rutger zuckte die Schultern, und warf die Stiefel in die Ecke.
    "Sicher kann ich reiten." Er hatte ja keine Wahl.
    Da schien es dem Mädchen auf einmal doch zu viel zu werden. Rutger sah betreten hinter ihr her. Hatte er was falsches gesagt? Er schleifte sein Bündel vor die Hütte, belud Phaidra damit, und verteilte das Gewicht möglichst gleichmäßig, schließlich musste die Stute schon genug tragen. Proviant hatten sie jetzt für ein paar Tage. Er füllte einen Lederschlauch mit Wasser auf, und überlegte ob er nicht noch schnell ein Schaf schlachten sollte, aber dann entschied er sich dagegen. Keine Zeit. Vielleicht waren sie ihm schon dicht auf den Fersen.
    Verstohlen sah er immer mal wieder zu Arrecina hinüber, ob es ihr schon besser ging. Sicher wollte sie nicht, daß er sie so elend sah. Schließlich, als alles fertig verstaut war, nahm er ein Tuch vom Plündergut, feuchtete es in der Tränke an und hinkte dann doch zu ihr hinüber. Etwas befangen bot er ihr das nasse Stück Stoff an.
    "Geht es wieder? Wir müssen mal weiter."

    Rutgers Unmut wuchs während er zuhörte, und als Aquilius endete, kochte er innerlich schon wieder. Jeder Gedanke sich zu arrangieren, wurde von einer Woge von Zorn hinweggespült. Er krallte die Finger fest um die Wachstafel, und stand langsam auf.
    "Du erzählst mir doch das Blaue vom Himmel herunter! Ich habe gelernt, euch keinen Glauben zu schenken, aus Erfahrung! Schon Flavius Aristides hat mich heimtückisch belogen, versprach mir mich gehen zu lassen und lieferte mich dann dem Händler aus! Also versprich mir nicht irgendwas, das du nicht gedenkst einzuhalten - ich glaube dir kein Wort!"


    Rutgers Worte wurden immer lauter, als der erbitterte Groll unaufhaltsam aus ihm hervorbrach. Die Wachstafel zerbrach in seinen Händen, und die Bruchstücke landeten mit einem Knall auf dem Boden.
    "Du fürchtest, ich könnte deinem Namen schaden, deinem Ansehen? Wie furchtbar! Dann lass mich eben frei, wenn dir das solche Angst macht! Ich bin niemandes Eigentum, wie fest auch immer du dir einredest, mich zu besitzen. Was denkt ihr euch eigentlich? Ihr überzieht uns mit Krieg, giert nach unserem Land, verachtet und beschimpft uns, nur Tiere sind wir in euren Augen! Und du denkst wirklich, daß ich, nachdem ihr mich gefangen habt, durch einen Betrug, und nachdem ich auf dem Weg hierher durch die Hölle gegangen bin, daß ich mich da jetzt fügen werde, glücklich und zufrieden ein 'ruhiges Leben' zu haben, und dir deine römischen Füße küsse, nur für - vielleicht, je nach Laune - weniger Schläge? Für noch mehr Lügen? Oder damit du mich auch mal an deine Metze ranlässt?! Glaubst du das wirklich?!"
    Rutger starrte Aquilius bebend vor Zorn an, stützte die Hände auf die Tischplatte, und beugte sich ganz nah an ihn heran.
    "Es gibt eine einfache Lösung für uns beide. Gib mir die Freiheit zurück. Jetzt. Und wir ersparen uns beide viel Ärger."

    "Wir gehen zusammen." Rutger zog sich am Türrahmen hoch, versuchte den stechenden Schmerz auszublenden, und ging hinkend, fahl, aber fest entschlossen, langsam neben Arrecina her.
    So hilfsbereit sie im Moment auch erschien, wollte er doch nicht seine einzige Chance zur Flucht in ihre Hände legen. Sie mußte ja nur das Pferd losbinden und wegjagen, und dann könnte er hier in der Hütte sitzen und gemütlich auf die Verfolger warten.
    Schon von weitem hörten sie die Stute unruhig stampfen. Phaidra schien von dem Wiedersehen fast ebenso erfreut wie Rutger, sie beruhigte sich sofort, und schnoberte lebhaft an den beiden herum.
    Er band sie los, schwang sich beschwerlich auf ihren Rücken, und überließ Arrecina die Zügel zum zurückführen. Phaidra strebte gleich auf eine kleine Schaftränke im Pferch neben der Hütte zu, und trank sich satt. Dort rutschte Rutger wieder von ihrem Rücken hinunter, ganz vorsichtig kam er auf dem Boden auf, und löschte ebenfalls seinen Durst, außerdem wusch er das Blut von sich. Es sickerte noch immer ein wenig nach, aber nur langsam.


    "Lass uns mal schauen, was wir aus der Hütte gebrauchen können." meinte er zu Arrecina, und wartete bis sie mitkam, um sie nicht mit dem Pferd alleine zu lassen. Hemmungslos plünderte er dann alles was ihm nützlich erschien und nicht zu schwer war, und packte es in eine grobe Wolldecke, die er von der Lagerstatt des Hirten zog. Er nahm dem Toten den Gürtel mit der Dolchscheide ab, freute sich, als er Feuerstein und Stahl bei ihm fand, entschied sich gegen den stinkenden Fellumhang, und zog ihm schließlich auch noch die Schuhe aus - es waren etwas festere Halbstiefel. Für Rutger waren sie zu klein, aber er bot sie höflich Arrecina an.
    "Magst du die haben? Sind sicher wärmer als die dünnen Sandalen. Du kannst sie ja ein bisschen ausstopfen." Zuletzt hängte er den Kessel über dem Feuer ab, in dem es noch immer friedlich vor sich hinköchelte.
    "Wir reiten erst mal noch ein Stück weiter. Hier können wir nicht bleiben. Aber dann machen wir eine Pause. In Ordnung, Arrecina?"

    Rutger nickte, und ließ Arrecina die Wunde freilegen. Sie schien ihm tatsächlich helfen zu wollen. Irgendwie war in den letzten Augenblicken viel durcheinander geraten. Schon tapfer, diese kleine Römerin.
    Die Verletzung war ein schräger Schnitt, dessen Ränder weit auseinanderklafften und das nasse rote Fleisch zeigten.
    "Das wird schon so gehen." meinte Rutger. "Sonst können wir es immer noch ausbrennen."
    Er lehnte sich etwas zurück, und überließ Arrecina sein Bein. Sie schien ja zu wissen was sie tat. Und Frauen waren für so etwas sowieso begabter. Trotzdem sah er ihr genau auf die Hände. Rutger war ein tapferer Patient, er hatte das so gelernt, und kein Schmerzenslaut kam ihm über die Lippen, nur daß er mal schärfer atmete, und noch blasser um die Nase herum wurde. Kleine Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, und verbissen sah er dann doch weg, und starrte auf einen ebenmäßig geschwungenen Hügel in der Ferne. An irgendwas erinnerte der ihn... Rutger grinste schmerzverzerrt - an Ne-fahr-thyrris wunderbare Brüste. Wie kam er jetzt bloß darauf? Schade, daß er diese betörende Frau wohl nicht mehr wiedersehen würde, dachte er bei sich, und guckte wieder was Arrecina tat.
    "Mach es ruhig noch fester."
    Er hoffte nur, daß er kein Wundfieber bekam, das wäre jetzt fatal. Überhaupt, was für ein Pech!
    "Was ist mit dem Pferd?" fragte er Arrecina plötzlich beunruhigt. Der Gedanke, daß er ohne Phaidra verloren wäre, jagte ihm einen gewaltigen Schrecken ein. "Sie ist doch noch da, oder?"

    Frowe Hulda hilf! Rutger hielt die schluchzende Tochter des Römers, den er am meisten hasste, in den Armen. Er schluckte, strich ihr völlig überfordert ein bisschen über den Rücken, hatte schon wieder den Duft ihres Haars in der Nase, und war heilfroh, als sie ihre Beherrschung wieder erlangte.
    "Es ist nur eine Fleischwunde."
    Rutger übersah Arrecinas Hand, stand etwas unsicher alleine wieder auf, und wurde dabei plötzlich ganz blass.
    "Geht schon." presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und hinkte zu Türe, vergass dabei auch nicht, dem Toten seinen Dolch aus den gekrümmten Fingern zu nehmen.
    Am Türrahmen hielt er sich erst mal fest, und atmete tief ein und aus. Es schmerzte höllisch, und sein Bein war ganz in Blut gebadet. Er presste die Hand auf den durchweichten Verbandsfetzen.
    "Kannst du mir... etwas Stoff bringen... bitte?" bat er abgehackt, und ließ sich langsam auf die steinerne Türschwelle niedersinken, das verletzte Bein gerade von sich gestreckt.


    Vor ihm erstreckte sich das idyllische, sonnendurchglühte Tal. Eine Windbö fuhr von den Bergen herunter, und ließ die hohen Gräser in Wellen weich auf und nieder wogen. Verstreute graue Felsen lagen wie Inseln in dem Grasmeer. Es roch noch immer nach Sommer, doch das Laub der Bäume an den Hängen färbte sich schon rot und golden. Rutger fragte sich, ob er bis zum Winter zu Hause sein würde.
    Stetig quoll frisches Blut aus der Wunde und tropfte in den Staub. Kleine rote Kreise blühten dort auf wie Blumen, vereinten sich zu einem Rinnsal, dann zu einem dunkel glitzernden Fleck, der immer weiter wuchs. Rutger sah benebelt auf diesen Fleck... da wurde ihm auf einmal blitzartig bewußt, daß er der Römerin, da hinter ihm in der Hütte, gerade viel zu sorglos den Rücken zuwandte - hastig drehte er sich halb um, um sie wachsam im Auge zu behalten, falls sie sich entschließen sollte, seine Schwäche auszunutzen.

    Rutger war so unendlich müde. Die Gedanken entglitten ihm. Leer starrte er auf eine Wasserlache am Boden, deren Form ihn irgendwie an einen Vogel erinnerte... unfrei geboren... schlimm... war sie deshalb so schreckhaft? Ein ruhiges Leben... keine grundlosen Schläge...'nicht schlecht'... wie unterwürfig, wie erbärmlich das doch klang! Und dabei hatte sie so einen stolzen Gang... merkwürdig... Wegfliegen können wäre jetzt gut... hoch in die Lüfte schwingen... wo war die Fibel nochmal...?
    Abwesend kratzte er sich am Sonnenbrand, und konzentrierte sich mit Mühe auf Nefertiris Worte.
    "Ja, da hat Caesar recht. Ich habe schon immer dafür gekämpft, seit ich wehrhaft bin. Für die Freiheit meines Volkes." Rutger sprach leise, und tonlos, mehr zu sich selbst, fügte er hinzu: "Nun habe ich meine eigene verloren..."
    Er bückte sich und hob seine Sachen auf, umschloss die Fibel schmerzhaft fest mit der Faust, und straffte sich. Selbstmitleid war etwas für die Schwachen. Und es führte zu gar nichts. Er war noch am Leben. Und er würde kämpfen. Wenn er sich ausgeschlafen hatte.
    "Etwas essen würde ich gerne noch." bat Rutger todmüde. "Und ich danke dir, Ne-fahr-thyrri. Du hast mir sehr gut getan."

    Der Hirte lag gefällt auf dem Boden. Rutger schlug sicherheitshalber noch mal zu, gezielt ins Genick, es knackte, und mit Ennius war es endgültig aus.
    Mit verbissener Miene stützte Rutger sich auf den Tisch, ließ die Hacke los, und besah sich den heftig blutenden Schnitt an der Außenseite seines Oberschenkels.
    "Arrecina, bist du verletzt? War er allein, oder sind da noch andere?" fragte er gepresst, riss jetzt auch von seiner Tunika einen Fetzen ab, und band ihn fest um sein Bein herum. Schnell hinkte er zu Tür, und warf einen Blick hinaus. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß wohl niemand sonst in der Nähe war, stieß er die Türe weit auf. Etwas Licht fiel nun hinein, auf den Toten, die Verwüstung durch den Kampf, dazu noch eine schmutzige Lagerstatt aus Fellen, eine Korbtruhe, ein Regal mit einigen Krügen und Tontöpfen... und Rutger sah jetzt auch ganz deutlich Arrecina auf dem Boden kauern, tränenüberströmt, zitternd, völlig aufgelöst - so gar nicht mehr die boshafte junge Herrin.
    "Komm, Arrecina, lass uns nach draussen gehen, an die frische Luft. Dann essen wir erst mal was, und trinken was, und ruhen uns ein bisschen aus. Na komm. Wir haben jetzt sogar was warmes. Wird uns guttun."
    Mit zusammengebissenen Zähnen ging er neben ihr auf ein Knie herunter, und wollte ihr aufhelfen.

    "Jetzt reichts!" Ennius fasste sich wütend an die Wange. Die war ja eine richtige Wildkatze. Aber das machte ihn gerade scharf.
    "Stillhalten jetzt oder es setzt was!" drohte er, grabschte mit der einen Hand nach Arrecinas Brust, packte mit der anderen grob ihr Haar und riss sie zu sich heran.
    Ein Schwall seines übelriechenden Atems erreichte sie voll, seine gierigen Lippen kamen immer näher... als plötzlich ein Luftzug ihre Wange streifte, in Ennius' Rücken richtete sich jemand auf, und mit brutaler Wucht fuhr eine solide Hacke auf den Kopf des Mannes hernieder - ein dumpfer Aufprall, ein trockenes Bersten, Ennius' Finger krampften sich fest in Arrecinas Haar, verloren dann ihren Halt, er ließ sie los und sackte mit lautem Poltern von der Bank - doch Ennius war, eben wie ein Bär, auch verwundet noch immer gefährlich: noch im Fallen stieß er seinen Dolch nach hinten, und traf auf Fleisch. Zufrieden grunzte er auf, und krachte auch schon benommen auf den Boden, den blutigen Hirschfänger in der Faust.


    Und hier wechseln wir wieder die Perspektive - Ennius hat sich in den letzten Minuten als Unhold entpuppt, wer möchte da noch mit seinen Augen sehen? Also zurück zu Rutger (als Entführer zwar auch eine ambivalente Figur, aber doch mit deutlich mehr Sympathiebonus):


    Der hatte sich vorsichtig an die Hütte herangepirscht, und da er keinen Menschen hatte ausmachen können, war er hineingetreten. Gerade hatte er sich ein bisschen nach brauchbaren Sachen umgesehen und kurz von dem Getreidebrei probiert, als er Arrecinas Hilferuf hörte. Er griff sich das nächstbeste was als Waffe taugte - eine große erdverkrustete Hacke - spähte aus der Türe, sah den Hirten mit seiner Beute und seinem langen Dolch, und beschloß, ihm in der Hütte aufzulauern. So verbarg er sich in der dunklen Nische neben dem Kamin, um im rechten Moment hervor zu treten, und den Mann zu erschlagen - nur daß der sich erstaunlich zäh zu Wehr setzte!
    Rutger zuckte zusammen, als er den heißen Stich in seinem Oberschenkel spürte, und wie es warm an seinem Bein hinunterrann. Weitausholend schwang er die Hacke erneut, und schmetterte den Mann, der sich gerade taumelnd wieder aufrappelte, mit einem brutalen Hieb vor die Brust zu Boden - beinahe wäre das Scheusal im Kaminfeuer gelandet, doch gerade noch warf es sich herum, und prallte statt dessen knapp daneben bäuchlings vor der Bank auf, direkt vor Arrecina.

    "Nun sei mal nicht so zickig, meine Hübsche!" polterte Ennius, und hob das unwillige Weib kurzerhand hoch, legte sie sich über die Schultern, und marschierte zügig zu seiner Hütte zurück.
    "Was?" Ein Rivale? "Wo ist der Kerl!?" Blutgierig zückte er wieder seinen Dolch, und drehte sich auf dem staubigen Vorplatz der Hütte einmal im Kreis, so daß Arrecina nur so herumgewirbelt wurde.
    "Den stech ich ab! Hackfleisch mach ich aus dem! Zeig dich, du Lumpenhund!" Die blutige Herausforderung hallte von den Wänden des Tals wieder zurück: "Hund...hund...und..."
    Kein Rivale in Sicht. Ennius grübelte.
    "Jaja, den hast du dir doch ausgedacht! Versuchst mich zu täuschen, aber ich bin nicht auf den Kopf gefallen!" Er schüttelte Arrecina ein bisschen, damit sie sowas in Zukunft lassen würde, drückte die grobe Holztür nach innen auf, und trat gebückt in den Innenraum. Es war düster, muffig, und furchtbar unordentlich darin, durch die kleinen Fensterlöcher fiel kaum ein Sonnenstrahl, nur ein kleines Feuer brannte in einem primitiven Kamin und auch das spendete mehr Rauch als Licht. Ein rußgeschwärzter Kessel hing darüber, in dem braunes Getreidemus blubberte. Davor stand eine Bank aus einem grob behauenen Baumstamm, und ein klobiger Tisch, bedeckt mit Essensresten, einer großen Schere an der noch die Wollflusen klebten, schmutzigem Geschirr, und einer wimmelnden Ameisenstraße. Ja, Ennius' Behausung hätte wirklich mal einen Hausputz vertragen können. Sonst war wenig in der Dunkelheit auszumachen.
    "Da wärn wir." Ennius ließ sich schwer auf die Bank plumpsen, und zog Arrecina von seinen Schultern direkt auf seinen Schoß. "So, kleines Weib, jetzt sei mal ein bißchen nett zu mir, und hör endlich auf zu keifen!" verlangte er gebieterisch, drückte Arrecina eng an sich, umfasste mit den großen Pranken kräftig ihren Po, und wölbte die Lippen inmitten des wilden Bartgestrüpps erwartungsvoll vor.

    Wenig war so gut dazu geeignet, Rutger wieder mit der Welt zu versöhnen, wie das Lächeln einer schönen Frau. Etwas widerwillig hoben sich auch seine Mundwinkel ein wenig, und seine Augen verfolgten gebannt den Weg des Linnens über Medeias ansehnlichen Schenkel.
    Ihre nächsten Worte ließen ihn dann verblüfft blinzeln. Zum einen: es schien sie in keinster Weise zu stören, daß er ein Sklave war. Zum anderen: sie sagte ganz offen heraus, daß sie ihn "gutaussehend" fand. Rutger war über diese Freimütigkeit schon fast schockiert. So redete keine anständige Frau. Andererseits - sie war ganz offensichtlich keine anständige Frau, sondern eine verruchtes, mannstolles Weib. Und sie schien gerade nach Ersatz für den verschwundenen Fußliebhaber zu suchen. Ob sie... sie sah so verschmitzt zwischen Rutger und Aquilius hin und her... ob sie es gar auf sie beide abgesehen hatte?
    Reserviert setzte er sich. "Dein Fest war sehr schön." sagte er artig zu Medeia. "Vor allem die Lieder. Ein Zauber wohnte ihnen inne."
    Er nahm den Becher entgegen, setzte ihn an die Lippen, und leerte ihn in einem Zug.

    "Lanth-par-thi? Was ist denn das?"
    Rutger grub probeweise die Spitze des Stilus in das Wachs und zog ein paar Linien - gerade, geschwungene, verschnörkelte - aus denen sich dann vage der Umriss der Zypresse vor dem Fenster herausschälte.
    Irgend etwas war doch seltsam hier. Er konnte sein Gegenüber überhaupt nicht einschätzen. Der Neiding hatte gesagt, Rutger würde wie Dreck unter der Schuhsohle behandelt werden, aber das war in diesem Haus nicht passiert - abgesehen davon, daß man in ihm eben als unfrei ansah. Niemand hatte ihn gequält oder gepeitscht. War das Berechnung, wollte man ihn einlullen, seinen Kampfgeist einschläfern, um ihn später um so grausamer niederzuschmettern, oder war das... vielleicht... Freundlichkeit? Ach, Unsinn! Trotzig hob Rutger das Kinn.


    "Regeln? Ich mag es nun mal nicht, herumgescheucht zu werden wie ein Tier, denn das bin ich nicht. Ich stamme aus einer edlen Familie und zähle viele Helden zu meinen Ahnen. Letztendlich, Flavius Aquilius, unterscheidet uns, abgesehen von der Herkunft, vor allem ein kleines Detail: Ich hatte Pech! Ich wurde gefangen. Mein Schicksalslos ist so gefallen, und es scheint, daß ich dir eine Zeitlang..." - nur mühsam kam es ihm über die Lippen - "...dienen muß. Aber demütige mich nicht. Das würde ich dir nachtragen."
    Mit Stolz, und einer gewissen Würde sprach Rutger diese Worte, dabei richtete er seinen Blick auf Aquilius, und sah ihm ruhig direkt in die Augen.

    Was hatte die Kleine nur? Ennius trat näher und bleckte seine großen gelben Zähne zu einem breiten Grinsen. Aus der Nähe verbreitete er den durchdringenden Geruch von schlechtgegerbtem Leder und von Mist.
    "Komm Hübsche, mußt keine Angst haben!" Da hob sie ihre Hände, und er sah mit tumber Miene auf die Fesseln. "Aber warum bist du denn angebunden?" Flugs zog er seinen Hirschfänger aus der Lederscheide am Gürtel: ein schmaler Dolch, fast eine Elle lang und ein wenig schartig.
    "Ich will, daß du mein Weib wirst." antwortete Ennius bereitwillig. "Und die Götter wollen das auch, sonst wärst du nämlich nicht hier." Mit seinen großen Pranken griff er nach Arrecinas Händen, hob den Dolch, und in einer schnellen Bewegung durchtrennte die Klinge die Fesseln.
    "Aber jetzt mußt du nicht mehr angebunden sein." Er bückte sich, und zerschnitt auch den Riemen, der ihre Füße verband, dann packte er Arrecina, und hob sie, so mühelos als wäre sie ein Kleinkind, vom Pferd herunter.
    "Komm mit, kleines Weib, wir gehen zu meinem Haus. Gleich da vorn. Ich hab es selbst gebaut." Der Schafhirte nahm seine Beute bei der Hand, und zog sie einfach mit sich.
    "Dein Pferd holen wir später." beschloß er. "Oder kehrt es dahin zurück, wo du hergekommen bist?"
    Er musterte Arrecina kritisch, und fasste ihr prüfend an den Po.
    "Ein bißchen mager bist du," bemängelte er, "aber das wird schon noch. Ich mache sehr guten Käse. Und deine Hüften sind auch zu schmal. Naja, was solls. Du scheust dich doch nicht anzupacken, oder? Es gibt nämlich einiges zu tun. Zuerst muß mal das Haus geputzt werden. Und ich hoffe doch, du kannst melken?"