Rutger brach geistesabwesend kleine Stückchen des Zapfens ab und schnippte sie in das schnell strömende Wasser des Baches, während er Arrecina aufmerksam zuhörte. Wider Willen musste er auch grinsen, als sie so vergnügt erzählte, dass sie ihrer Großmutter entwischt war.
"Zu deiner Frage - ja, natürlich führen wir Krieg, was ist daran schlecht? Wo sonst kann ein Mann seine Tapferkeit zeigen, und sich einen Namen machen? Und im Krieg macht man natürlich auch Gefangene. Soll man die etwa alle gleich umbringen?" fragte er verwundert.
"Der Unterschied ist folgender: wir kämpfen um unser Land, das uns schon lange zu eigen ist, wo wir siedeln und jagen, wo unsere Ahnen in ihren Gräbern wohnen, und unsere Götter in den Hainen und heiligen Stätten. Die Römer dagegen, wollen unsere Land einfach nur haben, damit ihnen alles untertan ist. Sie beklagen sich, wie du gesagt hast, es sei zu dunkel, zu neblig, und überhaupt zu rauh. Trotzdem schlachten sie jeden ab, der sich nicht wehren kann, um ein Land zu beherrschen, das sie gar nicht brauchen, nicht mögen, und das sie nicht willkommen heisst. Ja, es ist wahr, das Land selbst, die Wälder, die Moore, die Geister, ist ihnen feindlich gesonnen, und es wehrt sich gegen die Besatzer - es schickt wilde Tiere oder Unwetter, oder einen Steinschlag, und viele Legionäre sind schon auf ewig im Moor versunken!"
"Und außerdem kämpfen wir ehrlich, Mann gegen Mann, so daß es auf Mannesmut und Kampfesgeschick ankommt. Wir ehren unsere Götter Wodan, Donar und Ziu, wenn wir tapfer kämpfen, und verstecken uns nicht feige hinter Stahl, und ausgeklügelten Formationen, wo es gar nicht auf den einzelnen ankommt. "
Rutger nickte bekräftigend, völlig überzeugt von seinem Standpunkt.
"Zudem halten wir unser gegebenes Wort. Ziu, der Stammvater meiner Sippe, ist der Herr des Eides, und niemals würde ich einen Schwur brechen. Aber die Menge der Lügen, Vertragsbrüche und listigen Betrügereien, die sich die Römer uns gegenüber erlaubt haben, ist ungeheuerlich!
Es ist also ganz und gar nicht das gleiche."
Rutger warf den zerrupften Zapfen in hohem Bogen quer über den Bach.
"Familie? Also, ich habe viele Verwandte, und meine Eltern, und drei von meinen Geschwistern leben noch. Meine Schwester stand kurz vor ihrer Vermählung, als ich in Gefangenschaft geriet... Aber ich habe kein Eheweib. Die, die ich eigentlich.." - er brach ab.
"Ich bin ziemlich weit abgeschweift, glaube ich."
Er fuhr sich etwas fahrig durch die Haare und lächelte gezwungen.
"Ich fang noch mal von vorne an. Also, an jenem Tag, in der Nähe von Colonia, trafen wir auf einen Römer, der sich alleine in unseren Gebiet herumtrieb, wohl um uns auszuspionieren. Ich kämpfte gegen ihn, und bezwang ihn, und wir nahmen ihn gefangen, um ihn später gegen welche von unseren Leuten auszutauschen.
Wir haben ihn gut behandelt, denn wir halten nichts davon, einen besiegten Feind noch weiter zu demütigen!
Er war verwundet, also wurde er gut gepflegt, und versorgt... Aber das hat er uns übel vergolten. Die Heilerin, die sich um ihn gekümmert hat, hat wohl..." - Rutgers Miene wurde hart, und seine Stimme eisig - "...Gefallen an ihm gefunden. Irgendwie hat er sie dazu gebracht, ihr Volk zu verraten. Sie besorgte ihm eine Waffe, und verbarg vor uns, dass er sich gut erholt hatte, und schon wieder auf den Beinen war."
"So gelang es ihm... eines Nachts... ich war nicht darauf gefasst... mich zu überwältigen. Er nahm mich als Geisel. Und dann, als er sie nicht mehr brauchte..." - Rutger sprach jetzt sehr langsam, tonlos, das Gesicht eine Maske aus Stein - "Als er sie nicht mehr brauchte, hat er Gytha die Hände und Füße mit einem Strick zusammengebunden, und sie in einem Zelt auf dem Boden liegen lassen. Das hat er dann angezündet. Und es brannte wie Zunder. Die Wochen davor waren sehr heiß. Das war das letzte was ich von unserem Lager gesehen habe. Das Zelt, in dem Gytha verbrannte."
Starr sah Rutger auf das vorbeirauschende Wasser. Ohne eine Regung zu zeigen, sprach er dann weiter.
"Dieser Römer hat mich Sklavenhändlern übergeben. Die haben mich in eiserne Bande geschlagen, und mein Haar geschoren, und mich mit ihren Peitschen, und... ihren kleinen Spielchen..., über die Alpen geschleift. Wir Gefangenen waren alle aneinandergekettet. Wenn einer starb, dann wurde die Leiche oft noch mitgeschleift, bis sie sie dann irgendwann abnahmen, und in den Straßengraben warfen. Und um mich rum sind die Leute gestorben wie die Fliegen.
Aber ich habe es überlebt. So kam ich nach Rom."
Rutger schwieg.