Es war nicht gut, die Gedanken derart abschweifen zu lassen, doch Asnys Verstand hatte schon immer die große Gabe der Verselbständigung besessen und zumeist war diese Eigenart vorteilhaft gewesen. Aber zu diesem Zeitpunkt nicht. Nun galt es vordergründig die Reaktionen des Körpers zu beachten, gewiss würden sich später noch andere Gelegenheiten ergeben, die Arbeit ihres Kopfes unter solch erschwerten Bedingungen zu kontrollieren. Mit Sicherheit bliebe dies nicht der einzige armselige Versuch, sie mittels Gewalt in die beschränkte kleine Welt ihres werten Herrn zu pressen. Doch neue, unbekannte Werkzeuge benötigten immer ein Weilchen, bis man sich an den Umgang mit ihnen gewöhnt hatte und sie für präzise Arbeiten zu besserem Nutzen führen konnte. Dennoch würde aus einem Schmiedehammer keine Nähnadel werden können, und wenn man ihn noch so gut beherrschte. Es war in der Tat möglich, dass Aristides schlicht zu grobschlächtig war, um im erwünschten Maße dienlich sein zu können. Nicht einmal ihr Rücken lag augenblicklich dermaßen schutzlos und verletzlich da wie sein Seelenleben. Und er wusste, dass sie dies wusste. Denn sie machte keinen Hehl daraus, weder aus ihrem Wissen noch aus ihrer Absicht, dieses vollkommen schonungslos auszunutzen.
Natürlich war es ebenfalls interessant zu verfolgen, wie lange der Flavier bis zu der Erkenntnis brauchen würde, dass er nichts würde tun können, um seine Ansprüche als angeblich höherstehende Persönlichkeit bei ihr durchzubringen. Zumal es einfach nicht die gewünschte Wirkung erzielte, wenn man anderen befahl, in seinem Namen eine gefesselte Person mit einer Peitsche zu schlagen. Die erwünschte Befriedigung würde ausbleiben. Es war zu seinem eigenen Besten, wenn sie es ihm nicht derart einfach machte, doch Asny bezweifelte, dass er eine solche Einsicht jemals aus eigenen Kräften würde erlangen können. Wo wäre er, hätte er aus eigenen Kräften und ohne die Grundvoraussetzung seiner reichen und einflussreichen Familie seinen Weg gehen müssen? Wäre er überhaupt noch am Leben? Hatte er jemals darüber nachgedacht? Nun, sein Verstand hätte ihm gewiss keinen steinigen Weg geebnet. Insofern hätte alle Verantwortung auf dem Körper geruht, den die blonde Sklavin sogar als recht brauchbar deklarierte, wenigstens vor der Beinverletzung und dem daraus resultierenden Humpeln. Früher, zu anderen Zeiten, mochte er eindrucksvoll gewesen und Mars zu Ehren große Kämpfe bestritten haben. Doch vielleicht bildete sie sich dies auch nur ein, um jenen Klotz an ihrem Knöchel nicht im Vorfeld bereits zu Grabe zu tragen und als absolut nichtswürdig zu betrachten. Dennoch sah die Zukunft düster aus. Sie würde ihn ordentlich triezen müssen, um ein brauchbares Ergebnis erwarten zu können.
Als Aristides sie zwang, ihn anzublicken, wurde diese Meinung nurmehr bestätigt. Wenigstens ersparte ihr die Tränenflüssigkeit ein deutliches Bild seiner angeblich edlen Züge und auch seine Stimme besaß in ihren Ohren einen seltsamen Nachhall. Sie lächelte ihn an, nein, vielmehr belächelte sie ihn und seine Äußerungen, die doch nur seine Verständnisschwierigkeiten laut herausschrien. Asny hasste solche Menschen, welche auf eigenes Gutdünken und mit ihren beschränkten Horizonten versuchten, sie zu verstehen. Ein Vorhaben, das ihnen nicht gelingen konnte, weil sie schlicht nichts von ihr wussten. Warum wagte sich dieser Mann auf ungesichertes Terrain, auf welchem er zwangsläufig stürzen musste? Der flavische Stolz? Die Dummheit eines Kriegers? Warum nur war nicht Gracchus ihr Herr? Mit dem hätte sie wenigstens gute, lehrreiche Konversationen führen und sich die Lektionen, welche sie zweifellos halten musste, ersparen können. Kämpfe mit anderen Menschen waren so zäh und langwierig, von dem enormen Zeitaufwand ganz zu schweigen. Gerade wenn die Erfolgsaussichten sich derart in den tiefsten Katakomben tummelten wie bei Aristides. Wenn er sie zu Tode strafte, barg dies seine Niederlage. Diese Gleichung würde sie ihm sehr bald zukommen lassen.
Die folgenden Schläge waren tatsächlich gleichmäßiger in ihrer wütend beißenden Härte. Menschen waren so leicht zu manipulieren. Wiederum schloss Asny die Augen und presste die Kiefer aufeinander, die sich am Liebsten erneut zu einem Schrei geöffnet hatten. Hier half nichts als eiserne Disziplin. Ihre Grenzen waren noch längst nicht erreicht, nicht aufgrund solch unspektakulärer Ereignisse. Schließlich war sie nicht irgendwer. Sie war besser als dieser komplette Haufen Pöbel, der dort stand und glotzte, zusammengenommen. Allesamt waren sie zu unbedeutend, als dass in ihr auch nur das Bedürfnis geweckt werden konnte, ihnen ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Es gab nur sie, ihren Körper, und den Schmerz, welchen sie annehmen und auskosten musste.
Ihre Wahrnehmung begann zu verschwimmen. Unter einem unterdrückten Keuchen zwang Asny ihre Lider auf und merkte, dass ihr Sichtfeld unter dunklen Schatten zusammenschmolz, als fiele sie in einen nachtschwarzen Brunnen hinab. Ungehalten ob dieses schamlosen Fluchtversuches ihres Körpers biss sie die Zähne so fest aufeinander, dass sie leise knirschten und schlug ihre Stirn einmal kräftig gegen das dunkle Holz des Kreuzes. Sie würde hier garantiert nicht das Bewusstsein verlieren, sie nicht. Alles wäre umsonst gewesen, wenn sie möglicherweise für längere Zeit von ihrer Umgebung und besonders sich selbst nichts mitbekam und nichts beobachten konnte. Ihre Fingernägel krallten sich Halt suchend in die harte, faserige Oberfläche, während sie sich weiterhin dazu zwang, die Augen offen zu halten und um ein wenig freie Sicht zu blinzeln. Laut und schnell spürte sie ihren Herzschlag, den Blutfluss in ihrer Haut und mindestens fünf verschiedene Arten von Schmerz, die sich jedes Mal, wenn ihre Aufmerksamkeit nachzulassen drohte, zu einem einzigen, unkontrollierbaren Brüllen vereinten. Aber sie triumphierte. Sie war wach, sie spürte jeden Windhauch, der über ihre Haut kroch, und sie würde den Schmerz aushalten. Es gab nichts, das diese Menschen ihr antun und sie nicht ertragen könnte.
Man hätte sie alleine zu diesem Loch gehen lassen sollen. Es wäre ihr gelungen, auch wenn sie womöglich ein wenig mehr Zeit dazu benötigt hätte. Diese kleine Kammer war genau das, was sie nun brauchte. Ohne die Beeinflussung der störenden Außenwelt existierte nur sie dort, und was gab es Erstrebenswerteres? Das Draußen hatte sie noch nie benötigt, es hatte sich ihr lediglich immer wieder aufgedrängt und sie hatte es benutzt und ausgeschlachtet, wie es ihr eben nützlich war. Dort drinnen in der engen Dunkelheit würde sie nichts von ihrem Körper und den Schmerzen ablenken, sie konnte sich ihnen ganz und gar hingeben und daran wachsen. Dass die Meute um sie herum dieses Loch als scheinbar höchste aller Strafen betrachteten, überzeugte nur einmal mehr von ihrer Beschränktheit. Glaubten sie tatsächlich, dass Asny ihre Welt zum Überleben benötigte, das sie wahnsinnig würde, wenn man ihr den Zutritt verwehrte? Wie vermessen, wie kurzsichtig. Und vor allem bemitleidenswert. Ohne es zu wollen oder zu ahnen brachten sie ihr Erleichterung. Und am Ende unterstützten sie sie nur, in dem sie ihre Wunden beispielsweise unbehandelt ließen. Ihr Körper musste selbst für eine Stoppung des Blutflusses sorgen, ohne Verbände, ohne Waschung oder Salben. Schließlich war er ihr Körper, der sich dem Geist anzupassen hatte. Wenn sie diese Prüfung überstand, würde sie stärker denn je sein. Und es herrschte kein Zweifel daran, dass sie diese Prüfung überstehen würde.
Endlich umgab sie Dunkelheit und die Geräusche der Außenwelt verstummten wenigstens so weit, dass Asny sie über ihren leise keuchenden Atem nicht mehr zu hören vermochte. Mit langsamen, aber kontrollierten Bewegungen brachte sie sich in eine knieende Position, ohne auf die stützende Hilfe der Wände angewiesen zu sein. Kein halbtotes Liegen in einer Ecke für sie, kein Aufrechthalten nur mit der Hilfe einer dreckigen Mauer. Ihre Muskeln zuckten und zitterten und mehr als einmal drohte ihr Gleichgewichtssinn zu versagen, doch sie fing sich und brachte sich geduldig wieder in eine aufrechte Position. Ruhe, sie musste ruhiger werden, ihrem Körper die Panik nehmen. Nur die Panik, denn nicht einmal die Tränenspuren wischte sie von ihren Wangen. So wie es war musste es bleiben, bis sie sich wieder vollkommen unter Kontrolle wusste.
Endlich schien ihre Position sicher genug, um wiederum die Augen zu schließen ohne Gefahr zu laufen, zur Seite zu fallen wie ein schwerer Sack Gerste. Locker legte sie die immer noch zitternden Hände auf ihren Oberschenkeln ineinander, senkte das Kinn auf die Brust und fokussierte sich auf ihr Inneres; eine tiefe, gleichmäßige Atmung und das fortwährende Aufbranden der glühenden Wunden. Nach einer Weile war sie dazu übergegangen, bei jedem Ausatmen einen dunklen, gleichmäßigen Ton aus ihrer Kehle entstehen zu lassen, dessen sachte Vibrationen jede Faser ihres Leibes zu berühren schien und sie daran hinderte, taub und starr zu werden. Es war immer dieselbe Tonlage, ähnlich einem langgezogenen Summen, von dem alles ausging und zu dem alles zurückströmte. Jeder Muskel, jeder Nerv, jeder kleine Hautfetzen sollte spüren, dass sie ihn bewusst wahrnahm, jene in Schmerz, doch auch jene, die nur die Kühle der Dunkelheit und die Härte des Steins spürten, die Schweißtröpfchen auf ihrer Stirn und ihren Atem auf der Haut. Sie stellte sich vor, wie sie ganz und gar in ihrem Körper versank, mit dem Blut zu ihrem Herzen floss, mit der Luft zu ihren Lungen und bis in die Finger- und Zehenspitzen hinein. Trotz aller körperlicher Ertüchtigung hatte sie ihre Physis noch nie derart wahrgenommen, wie sie es nun tat. Die Schmerzen blieben selbstredend, es war keine Verringerung fühlbar, dennoch schien sich ihr Organismus langsam zu beruhigen. Das raue Keuchen in ihrer Atmung ließ nach und die Muskeln lockerten sich nach und nach ein wenig aus ihrer Verbissenheit. Es war seltsam, nicht zu denken und dennoch so weit entfernt von allem anderen zu sein, doch zu Asnys eigener Verwunderung stieg eine undefinierbare, aber irgendwie doch angenehme Empfindung in ihr auf, je länger sie auf diese Weise atmete und summte. Beinahe fürchtete sie schon, zurückkehren zu müssen, weil sie im Begriff war, einzuschlafen durch diese gleichmäßige Monotonie oder doch wieder das Bewusstsein zu verlieren. Es war... anders. Nicht kontrolliert, aber auch nicht unberechenbar. Womöglich war sie gestorben und hatte es gar nicht mitbekommen. Doch dies hätte ihr Asa zweifelsohne sehr rasch und sehr deutlich mitgeteilt. Falls sie sich irgendwann noch einmal bei ihrer Schwester blicken ließe.