Curiatius Tertullinus klammerte. Er klammerte sich an den Baum fest, als ob sein Leben davon abhinge. Nun. Sein Leben hing ja auch davon ab. Unter war ihm grad eine der massivsten Rinderherden vorbei gedonnert, die er je gesehen hatte. Nun. Das hatte nicht unbedingt etwas zu sagen, er war Stadtkind durch und durch und hatte noch nie so wirklich eine Rinderherde gesehen, also keine echte, also keine, die nicht auf dem Markt stand und schön fein säuberlich eingezäunt war. Er war noch recht jung und nicht sonderlich tapfer, er lebte einfach sein Leben und ging seiner Arbeit bei der Acta nach, in der Stadt wohlgemerkt, so wie es sich gehörte für einen Römer, fand er.
Curiatius Tertullinus klammerte also. Aber zugleich, obwohl er klammerte und Schiss um sein Leben hatte, konnte er nicht vergessen, was er gesehen und gehört hatte. Oder besser, gehört und gesehen, denn sein Hörsinn war zuerst auf diese Sache hier aufmerksam geworden. Ein Schrei war erklungen, schrill und durchdringend, und dann, gleich darauf, lautes Wehklagen. Natürlich war er sofort in die Richtung gelaufen, hatte sich an den Rex Nemorensis gehängt, der sich gleich aufgemacht hatte, und etwas hinter ihm, gemeinsam mit einigen anderen Leuten, hatte er es gesehen: da lag ein Mann am Boden, ganz offensichtlich so mausetot wie ein Mann nur sein konnte. Und eine Frau war da, halbnackt, blutverschmiert, so sehr, dass er zuerst fast dachte sie hätte auch was abbekommen. So sehr, dass er im ersten Augenblick gar nicht bewusst realisierte, dass die Frau ihm bekannt vorkam. Und dann war alles drunter und drüber gegangen. Tertullinus war nicht dicht genug rangekommen, um zu verstehen, was da genau gesagt worden war, aber – und hier war sein Sehsinn zum Zug gekommen – er hatte gesehen, dass sie sich unterhalten hatten, und über die Unruhe, die ohnehin herrschte, hatte er zumindest mitbekommen, dass es kein ruhiges Gespräch gewesen war. Allzu lange hatte es auch nicht gedauert, denn ein dumpfes Grollen hatte begonnen – zuerst wie ein Gewitter, das im Anzug war, aber es war immer lauter geworden und lauter, bis Tertullinus voller Schrecken realisiert hatte, dass er nun etwas erleben würde, von dem er weder geglaubt noch gehofft hatte, es je zu erleben: die Rinderherde. Mit einem Satz war er zum nächstbesten Baum gesprungen und hatte sich hochgehangelt, und seitdem hing er dort, in den Ästen, verdeckt von Blättern, klammerte sich fest, während die Rinder unter ihm dahin rasten und alles platt walzten, was nicht bei drei auf den Bäumen war.
Curiatius Tertullinus klammerte also. Er klammerte auch noch, als die Rinder weniger wurden, als nur noch vereinzelt eines hindurch lief. Er klammerte auch dann noch, als andere bereits wieder herunter stiegen. Aber neben dem Klammern sah er sich auch um, und da er immer noch ganz in der Nähe der Vorfälle war, sah er ebenso, wie die Frau, um die sich das Ganze hier offenbar drehte, von einem Baum in der Nähe kippte, einfach so, wie eine reife Frucht vom Ast fiel. Sie rührte sich nicht, aber ein Mann sprang zu ihr und drehte sie um – und in diesem Moment traf es Tertullinus wie ein Schlag, so sehr, so heftig, dass er beinahe aufgehört hätte mit dem Klammern. Das... das war doch... die Frau vom Chef! Vom ehemaligen, aber nichtsdestotrotz seine Frau! Tertullinus war sich sicher – er hatte die beiden ab und zu mal gemeinsam gesehen, und sie war ja auch keine Unbekannte, sie war eine Patrizierin, und der Chef, der ehemalige, war ja nicht nur Acta-Chef, sondern auch sonst noch ein hohes Vieh... Und Tertullinus hatte sie bewundert gehabt, für ihre Schönheit, ihre Eleganz, ihre Ausstrahlung. Und ihn hatte er bewundert für so eine Frau. Und das da, das war sie, auch wenn sie von ihrer Eleganz und Ausstrahlung im Moment einiges eingebüßt hatte. Tertullinus ließ das Klammern nun endgültig sein, aber nicht plötzlich, sondern langsam. Vorsichtig ließ er sich vom Baum herunter, und kaum spürte er den Boden unter den Füßen, da rannte er auch schon los, als seien sämtliche Furien hinter ihm her – schnurstracks in die Stadt.