Tiberius bewältigte weiterhin ohne Probleme den leichten Aufstieg. Er musste keinerlei Anstrengung aufwenden, er war sehr sportlich. Für sein Alter hatte er eine außerordentlich kräftige Statur, was wohl auf seine Zeit in Athen bei seiner Mutter zurückzuführen ist. So ärgerte er sich teilweise auch über seine dumme Bemerkung, ob die Rediviva ihn stützen würde. Welch Fehltritt. Mit solchen faden Aussagen konnte er Minervina sicher nicht beeindrucken - ganz im Gegenteil. Manchmal gab es leider Situationen, in denen der junge Decimus unbeholfen wirkte, was er eigentlich gar nicht war. Er tat sich nur manchmal schwer sich völlig zu kontrollieren und reagierte oftmals viel zu hektisch.
Als seine Gesprächspartnerin auf das Thema mit den Frauen zu sprechen war, breitete sich in Crassus ein sanftes Lächeln aus. Es war wie ein Spiel. Beide Seiten redeteten genau genommen um den heißen Brei. Mit Anspielungen versuchten die beiden sich immer näher aneinander heranzupirschen. Schnellstmöglich loswerden wollten die beiden den jeweils anderen jetzt wohl nicht mehr. Es war unverkennbar für Tiberius, dass nun auch bei Rediviva Interesse am Gespräch bestand und auch sie versuchte, langsam mehr über den Decimus herauzufinden - wenn auch noch auf recht defensiver Ebene. Als Crassus sich eine angebrachte Antwort überlegte, wurde sein Gesichtsausdruck ernster. Er blickte gen Himmel, als ob er dort eine Antwort erwartete. Schließlich sollte man solche Dinge nicht unüberlegt beantworten. Eine Frau wie Minervina konnte derartiges schnell in den falschen Hals bekommen.
"Sie müssen selbstbewusst und nett sein, aber auch bescheiden und zuvorkommend. Sie müssen hinter dem Mann stehen, ihm vertrauen schenken. Zu guter Letzt müssen sie natürlich auch Sitten zu schätzen wissen. Alles andere ist entweder zweitrangig oder eine Gefahr für die Beziehung. Selbstverständlich ist nicht jeder perfekt - was auch gut so ist. So bilden die genannten Eigenschaften nur das Fundament. Vieles muss man sich erst aneignen. Neues entdecken."
Sowohl an seiner Stimme, als auch an seiner Mimik und Gestik, konnte man eindeutig erkennen, dass er die Wahrheit sprach. Einzig und allein die Wahrheit. Er sagte dies mit vollem Ernst und mit voller Aufmerksamkeit.
Noch immer waren die beiden jungen Erwachsenen auf dem Weg zur Villa Tiberia. Zum ersten Mal machte Tiberius sich darüber Gedanken, wohin er jetzt eigentlich ging. Minervina und sein Begleiter befanden sich auf dem Weg zur Villa einer der angesehensten Patrizierfamilien des Imperiums. Auch wenn er manchen Adeligen nur wenig Ehre zusprach, waren sie doch Römer, denen man besonders viel Respekt entgegenbringen sollte. Von adeliger Abstammung zu sein hatte schließlich nicht nur Vorteile. Man hatte jederlei Pflichten und Crassus wusste, dass - wenn man es auch nicht für Wahr haben wollte - auch die Patrizier viele Zugeständnisse machen mussten. Die junge Rediviva war dafür wohl ein sehr gutes Beispiel, wie Tiberius im Laufe des Gespräches herausfinden durfte. Doch der Decimus verworf seinen Gedankengang für den Moment, um auf Minervina's nächste Bemerkung einzugehen. Tiberius grinste.
"Vielleicht ist es Zufall, vielleicht ist es Schicksal. Ich weiß jedenfalls eines. Es ist keinesfalls unglücklich - zumindest für mich."
Ob Minervina dem vielleicht noch etwas hinzuzufügen hatte, war wohl ihre Entscheidung. Jedenfalls war es wohl die ehrlichste Antwort, die Tiberius liefern konnte. Auch wenn er es für nahezu unmöglich hielt, hoffte er, dass die Rediviva noch etwas ergänzte und auch ihre Freude über diese Situation bekundete.
Dann erreichten sie die prächtige Villa. Auch wenn die Casa seiner Familie keinesfalls schäbig oder dergleichen war, war die Villa Tiberia noch um einige Stücke prächtiger und größer. Wieder erfüllte den Decimus Unsicherheit, als Minervina dem Vestibulum des Hauses immer näher kam. Tiberius blieb stehen.
"Minervina...ich weiß nicht. Ich weiß nicht ob es so gut ist, dass ich mitkomme. Wir kennen uns kaum und ich bin kein Patrizier. Deine Familie wird dies sicherlich nicht gutheißen. Ich will nicht, dass du wegen mir Ärger bekommst."
Crassus klang leicht besorgt, was man ihm wohl nicht verübeln konnte. Er sorgte sich wohl mehr um Minervina. Zwar ahnte er, dass die Rediviva versuchen würde, seine Gefühle schnell zu umgehen, um selbst keine Gefühle zeigen zu müssen. Doch konnte sie der junge Decimus im Anblick der Villa nicht mehr unterdrücken.