Beiträge von Marcus Achilleos

    Ein letztes Kapitel würde ich heute noch übersetzen und kommentieren, dann würde ich am nächsten Tag weitermachen. Also nahm ich wieder das Schreibzeug.



    Die Tüchtigen nicht bevorzugen, so macht man, dass das Volk nicht streitet.
    Kostbarkeiten nicht schätzen, so macht man, dass das Volk nicht stiehlt.
    Nichts Begehrenswertes zeigen, so macht man, dass des Volkes Herz nicht wirr wird.


    Darum regiert der Berufene so:
    Er leert ihre Herzen und füllt ihren Leib.
    Er schwächt ihren Willen und stärkt ihre Knochen und macht, dass das Volk ohne Wissen und ohne Wünsche bleibt, und sorgt dafür, dass jene Wissenden nicht zu handeln wagen.
    Er macht das Nichtmachen, so kommt alles in Ordnung.


    Kommentar:
    Wenn nichts Bedeutung hat, wenn es nach nichts zu streben gilt, dann gibt es keinen Neid und keine Mißgunst, und damit auch kein Verbrechen. Wenn das Volk nach nichts strebt und keinen Hunger leidet, ist es zufrieden. Wissen weckt Begehrlichkeiten. Weiß ich, dass es Gold gibt, will ich welches haben. Weiß ich es nicht, habe ich ach nicht den Wunsch danach. Bleibt das Volk ohne Wissen, so entstehen keine Wünsche. Sind die bestehenden Wünsche erfüllt, ist das Volk zufrieden. Wenn das Volk zufrieden ist und der Staat funktioniert, muss nichts verändert werden. Es ist nicht nötig zu handeln. Deshalb bleibt der Staat in Ordnung, wenn er in Ordnung ist. Doch wann immer man handelt, wird die Ordnung durch das Handeln gestört. Es gibt aber noch keinen perfekten Staat, deshalb müssen die Herrschenden handeln.


    Ich legte das Schreibzeug zur Seite und stand von meinem Platz auf. Den Sklaven in meiner Nähe wies ich noch darauf hin, dass niemand etwas von dem Platz entfernen solle, weil ich am nächsten Tag weiterarbeiten würde. Lesen dürfte man dort aber schon. Dann ging ich aus der Bibliothek hinaus.

    Ich sah kurz auf die Hand, dann schüttelte ich sie kurz. Irgendwie war das ungewohnt, wenn man nur Verbeugungen zur Begrüßung kannte. "Ich bin Marcus Achilleos aus Athenae. Das Thema, oder besser gesagt die Themen, der Acroasis sind, wenn ich mich nicht allzu sehr irre, Werte, Sitten und Gebräuche unserer herausragenden hellenistischen Kultur." Ich dachte einen Moment lang nach. "Du bist so eine Art Tourist, sagtest du? Woher kommst du denn?"

    Ich dachte über die Worte nach. Nach meiner Erfahrung in Han kam es vor allem auf das Gesamtbild an. Deshalb wäre eigentlich die komplette Rede sinnvoll gewesen. Ich hatte sie auch mal lernen müssen, aber leider wieder vergessen. Andererseits war mir die Person des Perikles bekannt. Ich erhob nachdenklich meine Stimme.
    "Wenn ich mich kurz fasse, dann geht es darum, dass man durch eine Tat stets die angemessene Ehrung der Tätigen erhalten kann, weil die Tat sichtbar ist. Die Rede jedoch ist es nicht, denn das Geschick oder die Intention des Redners kann die Taten der Geehrten falsch oder unbedeutend erscheinen lassen oder auch glorreich und heldenhaft. Es ist letztlich so, dass Worte selbst aus einer panischen Flucht einen wohlgeordneten taktischen Rückzug machen können oder aus einem Flankenangriff einen feigen Hinterhalt. Deshalb soll man keine Reden für die Gefallenen halten, sondern sie lieber nur durch die Tat des ehrenvollen Begräbnisses ehren. Und vor allem soll man nicht den Redner ehren, wenn es um die Gefallenen geht."

    Ich sah den jungen Mann, der sich gerade hinzugesellt hatte. Er schien, wie ich, kein Ephebe zu sein. Ich ging auf ihn zu.
    "Chaire, du bist auch kein Ephebe, oder?"


    Sim-Off:

    Kein Problem. Etwas Smalltalk kann ja auch nicht schaden. ;)

    Ich beschloss, mich zurückzuhalten. Würde ich stets die Antworten nennen, dann würde ich damit die anderen Schüler letztlich demütigen, indem ich ihnen die Chance nahm ihr Wissen zu zeigen. Da es jedoch darum ging, dass alle ihr Gesicht wahren, sagte ich nichts. Schließlich war ich hier nur Gast.

    Nachdem ich mich kurz zurückgelehnt hatte, übersetzte und kommentierte ich das nächste Kapitel.



    Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen, dann ist dadurch schon das Hässliche gesetzt.
    Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen, dann ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.
    Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander.
    Schwer und Leicht vollenden einander.
    Lang und Kurz gestalten einander.
    Hoc und Tief verkehren einander.
    Stimme und Ton verbinden einander.
    Vorher und Nachher folgen einander.


    So auch der Berufene:
    Er verweilt im Wirken ohne Handeln.
    Er übt Belehrung ohne Reden.
    Alle Wesen treten hervor, und er verweigert sich ihnen nicht.
    Er erzeugt und besitzt nicht.
    Er wirkt und behält nicht.
    Ist das Werk vollbracht, so verharrt er nicht dabei.
    Und eben weil er nicht verharrt, bleibt er nicht verlassen.


    Kommentar:
    Dass sich Gegensätze einander bedingen, wurde bereits im Kommentar zum ersten Kapitel erwähnt und ist nun noch einmal klar ausgedrückt worden. Gleichzeitig ist aber erkennbar, dass sich Gegensätze ergänzen. Nicht ganz offensichtlich, aber doch erkennbar, ist, dass die Gegensätze ihren Ursprung in unserer irdischen Wahrnehmung haben. Die kosmische Ordnung hat keine Gegensätze, weshalb sie auch keinen Namen hat. Denn zu jedem Namen kann man einen Gegen-Namen formulieren.
    Der Berufene ist sich der Bedeutungslosigkeit des Irdischen bewusst, und dennoch wirkt und belehrt er auf Erden. Er bindet sich nur nicht an das Irdische.


    Die Kommentare ware für mich erheblich mehr Arbeit als die Übersetzung. Aber gerade in den Kommentaren sah ich den wesentlichen Inhalt meines Wirkens, weil sie dem hellenistisch Gebildeten einen Zugang zu dieser fremden Philosophie erleichtern würden. Wer aber ohne philosophische Ausbildung war, der würde diese Texte wohl niemals verstehen. Schließlich waren Barbaren dazu nicht fähig.

    Oha, da wurde es schon schwieriger... die vollständige Liste aller Taten des Perikles hatte ich nicht mehr im Kopf. Also versuchte ich, wenigstens die bedeutensten Taten aufzusagen.
    "Ich werde einmal mit den wichtigsten militärischen Aspekten anfangen. Perikles sorgte dafür, dass die Flotte Athens die stärkste Flotte des Meeres blieb und sicherte damit die Vormacht des attischen Bundes und die athens innerhalb des Bundes. Er versetzte der persischen Flotte nach der Seeschlacht bei Salamis auf ihrer Flucht den Todesstoß, bestrafte das aufsässige Samos und zwang es, für die Kosten der Strafaktion aufzukommen. Damit sicherte er auch den Zusammenhalt des Bündnisses. Außerdem befestigte er Piräus mit einer Mauer. Politisch baute er die Vormacht Athens stetig aus. Des weiteren verdankt ihm Athen den Bau des Parthenons, der Propyläen und weiterer Gebäude, die weithin als Zeichen der Macht und Größe meiner Heimatstadt bekannt wurden. Er hat diese Gebäude zwar nicht selbst entworfen, wohl aber die Polis von deren Bau überzeugt. An mehr erinnere ich mich im Moment nicht. Ich denke, dass ich mindestens die Hälfte vergessen habe."

    Mit der Dunkelheit der Nacht kam auch langsam etwas kühlere Luft in das Zimmer. Die Mücken an der Decke waren irgendwie störend, aber dafür war das Bett von einem Netz aus feinem Stoff umgeben. Ich würde also in Ruhe schlafen können. Doch zunächst packte ich meine restlichen Sachen aus dem Reisebeutel. Ein seidenes Gewand, eine weitere Hose aus weißem Stoff, zwei weitere Hemden aus demselben Stoff und noch ein paar weißer Stoffschuhe. Und mein Jian, das viel mehr war als eine Waffe. Es war ein Teil meiner selbst und das Symbol für meinen Beamtenstatus in Han, der nie aufgehoben wurde. Da erblickte ich auch die Schriftrolle, auf deren Papier der Befehl geschrieben war, der mir wohl das Leben gerettet hatte. Ein Gefallen meines Gönners in Han. Zixi De, das war mein Name in Han und bedeutet in etwa der Rechtschaffende aus dem Westen, wurde im Namen des Sohns des Himmels befohlen, in seine Heimat ins Exil zu gehen, bis er andere Befehle erhalten würde. Also war ich hier. Ich verneigte mich tief vor der Schriftrolle, immerhin waren es ja die Worte eines Stellvertreters meines Kaisers und damit quasi ein kaiserlicher Befehl. Dann legte ichs ie auf den Tisch. Das Kästchen mit Pinseln und Tusche stellte ich davor, damit die Rolle nicht herunter fallen konnte. Ich entledigte mich meiner Schuhe und meines Hemdes und legte mich ins Bett, um kurz darauf einzuschlafen.

    Ich hatte mir in eine Ecke der Bibliothek einen Tisch mit einem Stuhl stellen lassen, dazu Feder, Tinte und Pergament. Neben dem Pergament lagen die Schriften, die ich von meiner Reise mitgebracht hatte. Ich nahm die Feder und hielt sie einen Moment lang in meiner Hand. Wie ungewohnt sie sich anfühlte, wenn man Pinsel zum schreiben gewohnt war. Wie lange war das alles her, seit ich zuletzt eine Feder zum Schreiben benutzte. Ich führte einige Male die Bewegungen zum Schreiben des Alphabets aus, ohne die Feder in Tinte zu tauchen. Erst, als ich mir sicher war, dass ich fehlerfrei schreiben würde, nahm ich das erste Blatt Papier des Daodejing und begann, es zu übersetzen.



    Das Dao, das sich aussprechen lässt, ist nicht das ewige Dao.
    Der Name, der sich nennen lässt, ist nicht der ewige Name.
    Nichtsein nenne ich den Anfang von Himmel und Erde.
    Sein nenne ich die Mutter der Einzelwesen.
    Darum führt die Richtung auf das Nichtsein zum Schauen des wunderbaren Wesens,
    die Richtung auf das Sein zum Schauen der Begrenztheit des Raumes.
    Beides ist eins im Ursprung und nur verschieden durch den Namen.
    In seiner Einheit heißt es Geheimnis.
    Des Geheimnisses tieferes Geheimnis ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten.


    Kommentar:
    Das Dao ist allumfassend, deshalb kann es durch unsere Sprache, die begrenzt ist, nicht beschrieben werden. Deshalb hat es keinen Namen, denn auch Dao ist nur ein Begriff, um in den Grenzen unserer Sprache zu beschreiben, was die Sprache nicht beschreiben kann.
    Sein und Nichtsein sind eins. Es kann nur dann etwas sein, wenn gleichzeitig etwas nicht ist, und nur dann etwas nicht sein, wenn gleichzeitig etwas ist. Gegensätze bedingen einander.


    Zufrieden über die Übersetzung des ersten Kapitels und den Kommentar, den ich dazu schrieb, lehnte ich mich zurück. Nicht dur die Übersetzung hatte Zeit gebraucht, sondern auch der Kommentar, denn ich wollte den Lesern der Übersetzung Hilfestellung geben, um den Text einfacher zu verstehen. Ich war auch ein wenig stolz, dass ich nach all den Jahren keinen Tintenklecks verursacht hatte. Mir war nicht aufgefallen, dass ich bereits für dieses kleine Stück Arbeit über eine Stunde gebraucht hatte. Doch was interessierte mich auch Zeit?

    Auch wenn es kein Attisch war, verstand ich doch in etwa die Wegbeschreibung. Große Straße, Porta Lunae. Bei näherer Betrachtung schien mir die junge Dame eher römisch zu sein. "Also da lang der Straße folgen? Und dann zum Mondtor?" fragte ich, diesmal auf Latein, was zwar nicht ganz so fließend war, wie mein Attisch, aber immerhin noch gut genug für einen normalen Römer. So langsam kam die Erinnerung an die Sprachen, die ich einst lernte, wieder zum Vorschein. Und nochmal nachfragen schien mir am sichersten zu sein, weil sie etwas unsicher in ihrem - welcher Dialekt war das eigentlich, den sie da sprach? - egal, sie schien jedenfalls keine Griechin zu sein.

    Eine kleine Auffrischung meiner Kenntnisse konnte nicht schaden. In der Tat hatte ich vieles vergessen. Also hielt ich es für gar nicht mal schlecht, im Gymnasion aufzukreuzen und den Lektionen des Nikolaos auch hier zu folgen. Es wurde Zeit, wieder das ursprüngliche Maß an Zivilisation zu erhalten. Vor allem die Sitten und Gebräuche meiner Vorfahren waren in meinem Gedächtnis reichlich eingerostet. Natürlich trug ich immer noch meine orientalische Kleidung, aber bei Gelegenheit würde ich mir einen Chiton zulegen. Anders war das Klima hier ja kaum auszuhalten!

    Ich hatte es vorgezogen, stehen zu bleiben. Disziplin war immerhin in den letzten Jahren die Grudnlage meines Lebens gewesen. Ich hörte mir die Worte genau an. Es war lange her, dass ich in Athen unterrichtet wurde und die Texte, die mein Lehrer mich lernen ließ waren nicht mehr absolut präsent in meinem Kopf, wohl aber der Stil mancher Autoren. Ich schloss die Augen, um besser nachdenken zu können. Dann glaubte ich, den passenden Namen gefunden zu haben. "Ich denke, dass der Redner Perikles ist. Mit Sicherheit kann ich es aber nicht sagen." Fragend sah ich Nikolaos an.

    "Sehr gerne," antwortete ich höflich, wenn auch ohne Lächeln. Schließlich ging es hie um eine ernste Angelegenheit. "Ich hatte die letzten Jahre in Indien und noch weiter östlich verbracht. Als ich mich vor ein paar Monaten entschlossen habe, wieder zurück in die Heimat zu kommen, habe ich den Landweg eingeschlagen. So kam es, dass ich noch vor gar nicht langer Zeit Mesopotamien durchquerte. Dort, in einer Herberge nahe Assur, hörte ich davon, dass ein ranghoher Römer, angeblich die rechte Hand des Imperators, als Gefangener in der Stadt wäre. Mit der Stadt meine ich Assur. Ich kann zwar nicht sagen, um wen es sich genau handelt, da ich nicht bei der öffentlichen Zurschaustellung des Gefangenen zugegen war. Zu dem Zeitunkt war ich bereits auf der Weiterreise und, ehrlich gesagt, was interessieren mich Gefangene fremder Völker. Doch dann hörte ich von jemandem, dass der Gefangene halb tot gepeitscht wurde, um das Volk zu belustigen. Mal angenommen, dass das der Wahrheit entspricht - die Sache mit der rechten Hand des Imperators halte ich allerdings für übertrieben - ist es dennoch eine äußerst schändliche Tat, einen hohen Beamten eines anderen Reiches so zu demütigen. Deshalb habe ich es für meine Pflicht gehalten, euch davon zu berichten. Ich nehme an, dass ihr bereits nach ihm sucht. Ob er noch in Assur ist, vermag ich nicht zu sagen. Zumindest halte ich es aber für glaubwürdig, dass es sich um einen nicht völlig unbedeutenden Römer handelt. Denn wieso sollten sie einen Fremden, den sie nicht einmal ansatzweise mit dem Imperium Romanum in Verbindung bringen, Lügen auftischen?" Ich holte kurz Luft. "Wie dem auch sei, meine moralische Pflicht habe ich damit erfüllt. Was ich weiß, wisst ihr nun auch." Ich wartete auf ein Zeichen, mich entfernen zu dürfen.

    "Wie wäre es mit dir?" fragte ich höflich. "Dann kannst du entscheiden. Und was mein Schwert anbetrifft, das würde ich selbstverständlich am Tor abgeben, wenn ich denn überhaupt hinein müsste."
    Es war selbstverständlich. In was für einer Gegend war ich denn hier gelandet, dass es nicht selbstverständlich war? Das musste doch jeder wissen, dass man nicht bewaffnet in Paläste durfte!

    Es war später Nachmittag, als ich mich auf den Weg zum Tor des Palastbezirkes machte. Ganz nach der Tradition des Reiches Han hatte ich mich dazu herausgeputzt. Übern der weißen Hose und dem weißen Hemd und den dazu passenden Schuhen trug ich ein seidenes weißes Gewand mit einem roten Seidengürtel, an dem mein Jian (Schwert) befestigt war. Meinen Kopf bedeckte ich mit einer dünnen Stoffmütze und meine weißen Stoffschuhe hatte ich zuvor noch sorgfältig vom Staub gereinigt - was aber inzwischen nicht mehr sichtbar war. Hätte ich geahnt, dass das Seidengewand noch wärmer war als der Seidenmantel, hätte ich es wohl nicht angezogen. Hätte ich mir eigentlich denken können. Natürlich sah ich jetzt noch merkwürdiger aus als sonst, aber an die Blicke war ich gewöhnt.


    Ich ging auf die Torwache zu und verbeugte mich in etwa zehn Schritt Abstand. "Chaire, edle Soldaten des Kaisers. Ich habe auf meiner Reise etwas über einen Gefangenen der Parther gehört, angeblich ein ranghoher Mann aus Rom. Bin ich hier richtig, um zu berichten?"


    Ich hatte lange darüber nachgedacht, ob ich diese Information für mich behalten sollte, schließlich ging es mich eigentlich nichts an. Doch in der Zeit, seit ich davon hörte, kam ich zu der Überzeugung, dass nicht handeln schlimmere Folgen für die kosmische Ordnung hätte als handeln. Nun lag es an den Soldaten. Würden sie mich abweisen, wäre es der Wille der Götter und ich müsste mir keine Gedanken mehr machen. Würden sie mir aber Gehör schenken, müsste und würde ich die Wahrheit sagen. Erst jetzt, wo mir bewusst wurde, welche Gedankengänge mich hierhin führten, wurde mir auch klar, wie sehr mich die Jahre in Han geprägt hatten. Gehörte ich überhaupt noch hierhin?

    "Verzeihung," sagte ich verlegen. Mir wurde sofort klar, dass ich hier einen großen Fehler begangen hatte. Es war nicht nur ein Verstoß gegen die guten Sitten, womit ich die Harmonie vor Ort durcheinander gebracht hatte, nein, viel schlimmer, es war auch ein Fehlverhalten gegenüber den Göttern, womit ich auch die Harmonie zwischen Himmel und Erde gefährdete. Ich steckte das Schwert in die Scheide, doch bevor ich ging, wollte ich mich zumindest noch kurz erklären. "In all den Jahren in der Ferne ist mir das Schwert so sehr ein Teil meiner selbst geworden, dass mir gar nicht mehr in den Sinn gekommen ist, dass es sich dabei eigentlich um eine Waffe handelt. Es wird nicht mehr vorkommen. Ich hoffe, dass ich nach ein paar Wochen die guten attischen Sitten wieder verinnerlicht habe. Bis dahin wäre ich dankbar, wenn ich auf jede Unsitte, egal wie unbedeutend oder geringfügig sie ist, hingewiesen werden. Mit Ausnahme der Kleidung. Das ist mir bewusst und wird bei Gelegenheit geändert."
    Ich verbeugte mich kurz und brachte das Jian ins Gästezimmer. Danach kehrte ich zurück. "Ich bitte erneut um Entschuldigung, diesmal für die Verzögerung." Nach einer kurzen Verbeugung blieb ich stehen. Nicht im Schatten, sondern in der in der an Kraft gewinnenden Sonne. Als Stadtgouverneur hätte ich einen Untergebenen, dem ein ähnliches Missgeschick wie mir unterlaufen wäre, einen ganzen Tag lang in der Sonne stehen lassen. Allerdings war es hier deutlich wärmer, weshalb ich beschloss, dass der ganze Vormittag in der Sonne für mich ausreichend wäre.

    Ich war ebenfalls recht früh aufgestanden. Nachdem ich im Gästezimmer meine tägliche Meditation absolviert hatte und mein Geist dadurch klar und gereinigt war, nahm ich mein Jian und ging in die Gärten des Museions. Den Seidenmantel hatte ich zwar nicht an, wohl aber die weiße Kleidung mit den weißen Schuhen. Ich bemerkte niemanden außer mir, so dass ich das Jian aus seiner Scheide zog und langsame Svhwertkampfübungen machte. Es ging hier nicht um den Kampf, sondern um die Bewegungen, um Körper Geist in perfekten Einklang zu bringen. So übte ich Abwehr- und Angriffschläge in fließenden Bewegungen, wobei ich immer wieder die Richtung änderte und genauestens auf die Beinarbeit achtete. Dabei erhöhte ich immer stetig die Geschwindigkeit, bis ich auf volle Kampfschwindigkeit gekommen war. Die schnellen Bewegungen der Klinge in der Luft führten zu kurzem, scharfen Summen. Ich war so konzentriert, dass mit gar nicht auffiel, dass jemand unter einem Baum saß.

    "Dieses Material?" fragte ich und betrachtete kurz das Papier. "Das wird aus Holz und Pflanzen gemacht. Wie genau, kann ich nicht sagen, aber man löst die Pflanzen und das Holz wohl in Wasser auf und trocknet das Ganze dann wieder. Es ist dem Material sehr ähnlich, aus dem Wespen ihre Nester bauen. Und, ganz nebenbei, sehr gut geeignet, um darauf zu schreiben und zu malen."
    Nachdem Nikolaos mir eine Unterkunft zugesagt hatte und mir Örtlichkeiten für die Übersetzungsarbeit genannt hatte, entschied ich mich recht schnell. "Ich werde mir dann eine Ecke in der Bibliothek einrichten. Es ist der passende Ort. Was die Bücher angeht, nun, das ist durchaus verständlich. Bücher sind Wissen. Wissen ist die Grundlage von Bildung. Bildung veredelt den Menschen. Nur der edle Mensch strebt nach Harmonie. Nur Harmonie beseitigt das Chaos und stellt die Ordnung des Kosmos wieder her. Allerdings: Wissen ohne Denken ist sinnlos, doch Denken ohne Wissen, das ist gefährlich." Zum ersten Mal in diesem Gespräch zeigte ich ein leichtes Lächeln.
    "Ich freue mich bereits auf deinen Unterricht. Die Schriften lasse ich am besten bei dir, da sind sie sicher. Vielleicht finde ich ja mal Gelegenheit, dir die Schrift der Han beizubringen. Auch wenn ich selbst nur etwa zwei Drittel der ungefähr 6000 Zeichen kenne. Da sind aber zumindest alle Zeichen dabei, die in diesen Schriften verwendet werden." Ich verbeugte mich kurz. "Ich bitte, mich zu entschuldigen, aber die Reise war lang und ich möchte mich gerne in ein Gästezimmer zurückziehen und mich reinigen."