Na also, so langsam schien sich Verständnis für die Thematik einzustellen bei den Teilnehmern. Nun, zumindest bei der weiblichen Hälfte. Der Pythagoreer war ja auch mit Feuereifer dabei, nur sein Kollege schien entweder verschreckt oder eingeschlafen zu sein. Penelope war es gleichgültig, sie arbeitete mit dem, was sie hatte. Und das erwies sich eben als formbare Masse, die lernfähig zu sein schien. Zumindest in dem Bereich, in dem ein Rhomäer das eben sein konnte, was ihrer persönlichen Meinung nach ja nicht unbedingt viel war.
“Das ist Richtig. Architas hat eine Formel errechnet. Mit der man auch immer geringere Abstände zwischen zwei Noten messen kann und harmonische Intervalle bekommt. Allerdings, und hier hat der erwähnte Aristoxenos ihn kritisiert, hat er sich bei der Herleitung seiner Formeln verrechnet.“
Penelope lächelte einmal kurz, ehe sie wieder ernster wurde und weiter dozierte. “Allerdings kritisierte in Aristoxenos nicht wegen zu wenig Theorie, nein, sondern wegen derer zuviel. Ebenso wie Aristoxenos sämtliche Lehren der Pytagoreer kritisierte, da sie praktisch nur schwer überprüfbar und teils rein mathematische Konstrukte waren. So sachlich Aristoxenos auch in seiner Mathematik, so präzise er in seiner Herleitung und so wohl definiert seine Thesen, so überprüfbar seine Axiome auch waren, so war er doch Empiriker. Und DAS ist es, was er an Pythagoras am meisten kritisierte, das Abrücken von der Erfahrbarkeit, die reine Mathematik über das zu stellen, als was man Musik hören, fühlen und sehen kann.
So ist der Kritikpunkt mit dem Monochord, den du....“ Wie hieß die Frau eigentlich? Gleichgültig. “...vorgebracht hast, eigentlich das, was Aristoxenos wohl noch am ehesten zu schätzen gewusst hätte. Wenngleich er die Saitenexperimente als zu ungenau betrachtet hatte.“
Penelope wandte sich mit dem Rücken an ihr Pult und stützte sich ganz leicht daran ab, um so ihre Füße etwas zu entlasten. Sie konnte zwar stundenlang stehen wie jeder ordentliche Kitharist, aber es versprühte ihrer Meinung nach vielleicht einen Hauch von Lockerheit, den ihre Schüler gebrauchen konnten, um ihre Gedanken zu entwickeln.
“Und um auf die andere frage zurückzukommen: Ja, es geht darum, wie man harmonische Intervalle messen kann zwischen zwei Tönen. Denn wie wollen wir definieren, was Musik ist, wenn wir nicht von einem Ton zum anderen kommen, und zwar exakt? Wie sollen wir Musik aufschreiben, wenn die Abfolge der Intervalle uns unbekannt ist. Wenngleich wir Töne nicht genau bemessen können, so wollen wir doch die Melodien erhalten und niederschreiben, und das geht nur, wenn wir auf gleichen Skalen musizieren. Folglich ist es bestreben der mathematischen Forschung der Musik, diese Intervalle so exakt wie möglich zu definieren und nachprüfbar zu machen.“
Penelope hoffte, dass das verstanden worden war. Um nun die Diskussion ein wenig anzustupsen, stellte sie noch eine weitere Frage. Nun würde sich zeigen, ob ihre Schüler nicht nur mitdenken, sondern auch nachdenken konnten. “Aber was ist nun besser? Wie Pythagoras es vorhatte, auf der Suche nach diesem einen göttlichen Ton, dieser 1 unter den Noten, von der Praxis sich zu entfernen, sich zwar von ihr inspirieren lassen, aber letztendlich die reine Mathematik zu suchen? Oder wie Aristoxenos es forderte, sich der Mathematik zu bedienen, um das, was wir erleben können, im Experiment zu beweisen?“
[Sim-off]So, und da ich nicht sicher bin, ob das bislang verstanden worden ist, hier mal eine recht ausführliche Sim-Off-Erklärung:
Die griechische Notation kennt keine Tonleitern, so wie wir sie heute kennen. Es war tatsächlich so, dass es lediglich auf die Tonschritte ankam und weiteres nicht notiert wurde. Töne als solches konnten nicht gemessen werden, und man konnte sich zwischen den einzelnen Poleis oder gar in der Römerzeit zwischen den einzelnen Provinzen wegen der langen Reisewege nur schwerlich soweit koordinieren, um etwa alle Instrumente allgemeingültig aufeinander abzustimmen.
Die griechischen Skalen sind also definitiv nicht so zu verstehen wie die heutigen Tonleitern. Während in unserer Neuzeit einem „a“ eine feste Tonfrequenz zugeordnet ist, die diesen Ton eindeutig als die Note a identifiziert, ging dies für antike Musikstücke nicht. So war es also tatsächlich so, dass jedes Instrument leicht anders klang. Je nach Größe des Klangkörpers und der Beschaffenheit der aus Darm hergestellten Saiten hatte jede Kithara und jede Lyra einen einzigartigen Klang. Es ist zwar anzunehmen, dass innerhalb von einzelnen Städten dieselben Töne als Kammertöne hergenommen wurden, das ist aber nicht zwingend so gewesen.
Am besten vergleichen kann man das wohl mit dem Gesang eines Chores, der ein Lied gemeinsam singt. Da singen die Bassstimmen auch tiefer als die Sopranstimmen, also rein faktisch andere Noten, aber dennoch singen beide Stimmlagen dieselbe Melodie.
Die Notation der Griechen ist also nicht mit unserer heutigen Notation gleichzusetzen. Es gibt zwar durchaus eine Notenschrift (die aus Buchstaben bestand und wahrscheinlich Abkürzungen war für die Namen der einzelnen Saiten. Mit dem Fall des Römischen Reiches ging das Wissen über das exakte Lesen dieser Notenschrift verloren), aber die ist nicht zu vergleichen mit den heutigen Noten nach dem Violinschlüssel auf den fünf Linien.
Die Festsetzung der Noten nach Linien entstand erst mit Guido von Arezzo, einem Mönch im 10.-11. Jahrhundert. Für die (gregorianischen) Chorgesänge gab es bereits eine C-Linie und eine F-Linie, die im Grunde nur die Halbtonschritte kennzeichneten (ein Halbton unter C liegt H, ein Halbton unter F liegt E). Dieser fügte er zwei weitere Linien hinzu und einen Notenschlüssel, um das ganze System übersichtlicher und genauer zu machen. Allerdings waren selbst da noch Töne nicht so absolut wie heutzutage.
Wirklich absolute Messbarkeit und Objektivität brachten Stimmgabeln, die allerdings erst 1711 erfunden wurden. Mit deren Hilfe – da sie leicht nachzubauen und handlich waren – konnten so Instrumente in einem größeren Radius aufeinander abgestimmt werden. Allerdings gab es selbst da dann noch von Hof zu Hof verschiedene Kammertöne, nach denen die Instrumente gestimmt waren.
Endgültig bestimmt, dass ein „a“ einer exakten Tonfrequenz von 440 Hertz bei 20°C entspricht (und damit einen allgemeingütligen Kammerton) hat übrigens erst eine internationale Stimmtonkonferrenz 1939 (International Federation of the National Standardizing Associations in London, wer es exakt wissen mag), und für die EU bestätigt wurde das ganze erst 1971. So alt ist die exakte Messung von Tönen also noch gar nicht, und die von uns so gewohnte Nachspielbarkeit von Musikstücken, die überall auf der Welt gleich klingen ebenfalls nicht.
[/simoff]