Rodrik kehrte. Jeden. Einzelnen. Tag. Ja, wirklich jeden. Er hatte frühmorgens hier zu sein und er war mitsamt Brix der Letzte, der die Werkstatt verliess. (Wieso bei Odins Hammer war er je auf die Idee gekommen, dass er als Witjons Vetter eine Sonderbehandlung bekommen würde? Pah!) Seine erste und seine letzte Tätigkeit jeden Werktages war das Fegen. Fegen, fegen, fegen. Selbstverständlich inklusive Reisig suchen und bündeln, damit er überhaupt fegen konnte. Eigentlich war sowas verdammt noch mal Frauenarbeit! Aber hier hatte er Pech. Hier musste er ran. Und leider hatte er nicht den besten Stand. Thilo (jener Lehrling, den er mit dem Fegen sozusagen "beerbt" hatte), war nicht gerade sein bester Freund und liess gerne mehrmals etwas fallen, weswegen Rodrik nochmal fegen musste. Er machte sich auch lustig über ihn, natürlich nur dann, wenn Brix nicht in der Nähe war. Allerdings liefen sie sich neben der Arbeit oft genug über den Weg, immerhin war Mogontiacum klein genug für. Aber da musste Rodrik durch, er wusste das und er klagte nicht. Naja, er hätte schon geklagt, aber bei wem? Brix hätte dem keine Bedeutung beigemessen, was Rodrik ehrlich gesagt sogar verstanden hätte. Und hätte Rodrik das zuhause beim allabendlichen Frühstück oder Abendbrot ansprechen sollen? Ne! Gerade jetzt wo die Hochzeiten stattfanden und sogar noch ein Kind ins Haus kommen wollte. Und all die anderen Dinge. Wenn da noch Rodrik etwas gesagt hätte, ne, das wäre gar nicht gut gekommen. Also hielt er die Klappe.
Und er lernte. Natürlich wusste er von Baldram bereits einige Dinge, aber hier lernte er wirklich von der Pike auf. Das wichtigste war zunächst das Kennenlernen der einzelnen Werkzeuge und deren Reinigung. Selbstverständlich durfte Rodrik besagte Werkzeuge noch nicht benutzen, dazu war er noch zu kurz im Betrieb... und ein wenig zu tollpatschig. Aber er konnte alles mit den Namen benennen, was für ihn sprach. Neben dem Fegen war das Reinigen seine Hauptaufgabe in den ersten Wochen im Betrieb. Dann lernte er die Materialien der Goldschmiede kennen, oder besser gesagt, sie "überflogen" die einzelnen Edelsteine (also gerade so, damit Rodrik wusste, wie sie aussahen). Viel wichtiger war zunächst die Kenntnis der Metalle. Brix sagte nämlich zu ihm, dass es viel wichtiger war, die Metalle zu kennen, denn erst dann wüsste er, wie man die Edelsteine richtig einsetzen und damit auch richtig zur Geltung bringen könne.
Und das war sogar ziemlich witzig. Brix legte ihm einen Barren Gold und einen Barren Silber hin. Er fragte Rodrik: "Kennst du den Unterschied zwischen diesen beiden Metallen?" Rodrik wusste eines sofort - das war eine Fangfrage! Brix wollte irgend etwas Spezielles wissen, etwas das er wissen sollte. Nur leider nicht wusste. Ausser: "Äh... die Farbe?"
Das war nicht die Antwort, die Brix hören wollte, deswegen spulen wir in der Geschichte kurz weiter. Denn dann erklärte Brix den Unterschied. "Den Schmelzpunkt und die Härte." Zwei sehr einfache Wörter. Die aber für Goldschmiede und deren Arbeiten enorm wichtig waren. Gold nämlich schmilzt bei höherer Temperatur, ist aber faszinierenderweise weicher als Silber. Und genau letzteres war wichtig. Brix liess bei dieser Lektion Rodrik einen Hammer aufschlagen, einmal auf einen kleinen Brocken Gold, einmal auf einen Brocken Silber, der genauso gross bzw. klein war wie der andere. Das Stückchen Gold verformte sich dabei leichter als das Stückchen Silber.
"Siehst du? Und genau deswegen fertigen wir Kelche und Teller im allgemeinen aus Silber an. Bei einem Goldkelch zum Beispiel muss man ein wenig mehr aufpassen, dass dieser nicht beschädigt, wenn er etwa herunterfällt oder so. Und bei einem Goldteller sieht man viel schneller die Messerspuren als bei einem Teller aus Silber. Ein guter Goldschmied berät seinen Kunden und sagt ihm dies alles, das ist wichtig. Wenn aber ein Neureicher oder ein Römer kommt und möchte unbedingt Gold als Werkstoff haben, dann machen wir seinen Wunsch auch aus Gold. Immerhin arbeiten wir hier auch auf Auftrag. Und beim Modellieren ist Gold auch leichter zum bearbeiten als Silber. Merke dir das Rodrik!" schloss Brix hier seine Worte und Rodrik prägte sich ein, dass Kundenwünsche nicht immer logisch nachvollziehbar waren. Doch das war nicht die letzte Lektion an diesem Tag. Rodrik lernte nämlich auch, dass man nie einen reinen Rohstoff bearbeitete, sondern dass er immer leicht legiert wurde. Silber war nie reines Silber, sondern wurde immer mit ein wenig Gold legiert und Gold war nie reines Gold, sondern wurde immer mit ein wenig Silber legiert. Den Grund, den lernte Rodrik jedoch nicht am heutigen Tag, denn gerade zu diesem Zeitpunkt war es nämlich Zeit... zum Fegen.